Jetzt ganz ohne Schmäh - eine meiner besten Freundinnen geht vor meinen Augen kaputt. Körperlich. Und, auch, wenn sie das nicht zugibt, sicherlich auch seelisch.
Da sind die harten Zeiten, die mir meine Autoimmunerkrankung ab und zu beschert, ein Lercherlschas dagegen, wie man bei uns so schön sagt.
Sie ist vier Jahre älter als ich (also Ende fünfzig) und der Typ Mensch, der nur schwer akzeptieren kann, wenn einem das Leben - ganz zu schweigen vom eigenen Körper - Grenzen setzt. "Die Regeln in deinem Leben bestimmst ausschließlich und immer nur du" ist ihr Motto - geerbt von ihrer Mutter. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie den Sinn dahinter richtig interpretiert.
Ich jedenfalls sehe ihr jetzt seit ein paar Jahren zu, wie sie sich von einer ohnehin nicht schönen gesundheitlichen Schieflage aktiv langsam aber sicher in Richtung Horizontale bugsiert. Angefangen hat es mit einer schweren Sportverletzung am Knie in jungen Jahren. Das ganze Knie unrettbar im Eimer, die sportlichen Zeiten mit einem Schlag vorbei. Mit einem übermütigen Sprung und der missglückten Landung danach in Sekundenschnelle erledigt. Dann verloren wir uns für ein paar Jahre aus den Augen und als wir später - ich war inzwischen in ihre Nähe gezogen mit meinem Mann - wieder trafen, hatte sie gut und gerne dreißig Kilo oder mehr zugelegt. Ich nahm damals an, das käme von starken Schmerzmitteln, aber nachdem wir uns so richtig eng befreundet hatten, erzählte sie mir die ganze Krankengeschichte - Lipödem! Sie hatte die Diagnose auch erst vor kurzem erhalten und sich die Jahre davor beim kontinuierlichen Zunehmen selbst zugesehen und die Welt nicht mehr verstanden. Das konnte ich gut nachvollziehen, war es mir mit meiner Schilddrüse doch sehr ähnlich gegangen, bis sie als Ursache hinter fünfzehn Kilo plus in nur sechs Monaten und trotz Diät diagnostiziert worden war. Wir hatten also eine gemeinsame Basis und das verbindet, denn kaum jemand, der nicht selbst von Stoffwechselerkrankungen betroffen ist, kann nachvollziehen, dass man die Kilos nicht einfach wieder mit den normalen Mitteln los wird.
Lipödem ist ja an sich schon eine schlimme Sache. Fett wird in Gewebe an den eigenartigsten Stellen eingelagert, wo es gar nicht hingehört, und zieht dort wie ein Magnet weiteres Fett an. Das macht nicht nur dick, sondern gemeinerweise auch unförmig. Und - das will meine Freundin aber nicht wahrhaben - es geht auf die Gelenke. Jetzt nicht nur des Übergewichts wegen, sondern es greift die Gelenke auch über den Stoffwechsel an und sie verlieren an Stabilität.
Dann kam die unvermeidliche Knie-OP. Nicht am bereits kaputten Knie. Nein - das andere hatte durch Überbelastung den Geist aufgegeben und konnte nur mittels OP wieder stabilisiert werden.
Wenn du jetzt aber am zweiten Knie ohnehin schon von Haus aus eingeschränkt bist und das operierte entlastet werden muss, sind Krücken angesagt anstelle eines Gehstocks. Das ging so lange gut, bis sie sich in der Arbeit das Handgelenk brach.
Wenn aber jetzt noch dazu kommt, dass jemand, der sich verletzt, eine sehr hohe Schmerzschwelle hat und außerdem Beschwerden lieber ignoriert als sich einzugestehen, dass etwas wirklich kaputt ist, dann wird es wirklich heftig. Wenn DANN noch dazu kommt, dass der Röntgenarzt im Unfallkrankenhaus offensichtlich seinen Job nicht beherrscht und dich mit der Diagnose "nur verstaucht - ein paar Wochen bandagieren und schonen" heimschickt, wird es gradezu grotesk. Tatsächlich entdeckt wurde der Bruch im Handgelenk (ein komplizierter übrigens) bei der Nachkontrolle des Knies beim orthopädischen Chirurgen. So nach dem Motto "Ich seh sie jetzt schon seit zwei Monaten mit der Bandage am Handgelenk. Wollen wir uns das einmal genauer ansehen?". Fazit: nächste schwierige OP am Handgelenk, inklusive Schraube rein, Gips drauf, mindestens acht Wochen lang ruhig halten.
Inzwischen war aber auch das zweite Knie operiert worden - es hatte der Überbelastung als "einziges Arbeitsknie" nicht standgehalten. Meine Freundin musste also weiterhin und noch für längere Zeit an Krücken gehen. Zwischenbilanz: zwei kaputte Knie, frisch operiert, eine operierte Hand plus Krücken. Nicht solche, die man sich unter die Achseln klemmt. Nein - die, die man mit den Händen hält und wo das Hauptgewicht auf den Händen lastet beim Gehen oder Aufstehen.
Es kam, wie es kommen musste. Nach kurzer Zeit klagte sie über fiese Schmerzen im anderen Handgelenk. Sie hatte sich mit dieser Hand regelmäßig an der Tischkante abgestützt, um beim Aufstehen vom Stuhl die Knie zu entlasten. Die Untersuchung im Krankenhaus (selbes Krankenhaus, selbe Röntgenabteilung) ergab: "vermutlich verstaucht. Bandagieren und eine Weile schonen". Haha - sehr lustig. Ich frage mich bis heute, ob die Ärzte ihre PatientInnen überhaupt ansehen und als Ganzes wahrnehmen, wenn sie ihren Job machen. Da steht, nein, krümmt sich eine offensichtlich krankhaft übergewichtige Frau vor Schmerzen mit einer Gipshand und zwei Knien mit unübersehbaren Schienen vor dir an ihren Krücken und du sagst ihr, sie soll die einzig übrige Hand schonen und nicht belasten? Ehrlich? Ich habe den letzten Rest an Glauben in unser Gesundheitssystem spätestens da verloren.
Klar, hab ich meine Freundin gefragt, warum sie nichts entgegnet hat. Warum sie nicht den Mund aufgemacht und diesen Deppen gefragt hat, ob er ihr erklären könne, wie sie die nächsten Wochen bestreiten solle mit quasi null Gliedmaßen, die noch einsatzfähig gewesen wären. Sie konnte mir das nicht beantworten. Meine Vermutung: sie hat sich wohl so daran geklammert, dass es wohl doch nicht alles so schlimm sein könne, wenn ihr ein Arzt NICHT sagt, dass sie eigentlich momentan Vollinvalide sei und zumindest Pflegestufe eins beantragen solle. Es ist wohl kaum eine Überraschung, wenn ich erzähle, dass natürlich auch das zweite Handgelenk kompliziert gebrochen war. Der Knie-Chirurg hat's entdeckt. Diesmal wenigstens kam sie ohne OP davon - Spezialschiene für acht Wochen. Und...die Krücken waren immer noch notwendig. Diesbezüglich auch von diesem Arzt kein Mucks. Zwei kaputte Hände, zwei kaputte Knie - alles sollte so lange wie möglich geschont werden.
Jetzt ist meine Freundin keine Meisterin darin, sich in Geduld zu üben. Auch nicht darin, zu akzeptieren, dass ihr Körper momentan wirklich nicht mehr funktioniert und sie besser für die nächsten drei, vier Wochen wenigstens, komplett stillhalten sollte. Es kam wie es kommen musste - das Aufstehen vom Tisch oder vom Sofa wurde zum Gesamtkunstwerk bestehend aus lauter unnatürlichen Bewegungen, die zwar die Gliedmaßen etwas entlasteten, nicht aber den Rücken, der für diese Form der Belastung nicht konstruiert ist. Zunächst wochenlang stärker werdende Rückenschmerzen, dann eines Morgens war das rechte Bein taub und wollte nicht gehorchen. Ab ins Krankenhaus (ja, wieder dasselbe), Röntgen gemacht - nichts Auffälliges gesehen, und weil das Bein nun wieder beweglich und "nur noch taub" war, schickte man meine Freundin zu Fuß nach Hause. Zweihundert Meter vom Krankenhaus Totalausfall des Beins. Sie stürzte und Passanten halfen ihr auf und wollten sie zurück ins Krankenhaus bringen. Doch genug war genug!
Sie rief ihren Mann an und der brachte sie in ein etwas entfernter liegendes Spital. Dort wurde sofort eine ernster Bandscheibenvorfall diagnostiziert und man nahm sie auf. Das ist jetzt schon wieder zwei Monate her und man wartet jetzt ab, bis Hände und Knie vollständig ausgeheilt sind und ob die Taubheit noch von allein verschwindet, bevor man eine OP in Betracht zieht. Seit der ersten Knie-OP sind gerade mal acht Monate vergangen. Acht Monate voller Schmerzen. Acht Monate voller Quälerei, Stress und Einschränkungen. Acht Monate, in denen man gelernt hat, dass einem nicht geholfen wird, egal, wie kaputt man schon ist.
Gestern waren wir bei ihr und ihrem Mann zu Besuch. Die Krücken sind wenigstens inzwischen Geschichte, aber die Rückenschmerzen unverändert stark, das Bein nach wie vor taub und beim Aufstehen vom Stuhl stützt sie sich inzwischen knapp hinter dem Handgelenk am Unterarm auf. Sie meinte gestern, Elle und Speiche dort würden sich irgendwie eigenartig bewegen und stark schmerzen...