Burnout

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anbas

Mitglied
Burnout

Nachdem mir mein Kopf explodiert war, konnte ich wieder lächeln. Über die Leichen um mich herum wunderte ich mich nicht. Sie saßen auf den Bänken in der Wartezone, und jeder hatte seine Wartenummer noch in der Hand. Der Automat, der diese Nummern herausgab, war von der Wand gerissen und zerstört worden. Man würde sich Gedanken darüber machen müssen, wie es ohne ihn weitergehen sollte. Aber inzwischen hatten wir ja Übung darin, Ausfälle jeglicher Art zu kompensieren.

Mein letzter Kunde schleppte sich mühsam zum Ausgang. Er war schon sehr geschwächt, als ich ihn zu mir ins Büro holte. Ich weiß nicht, wie lange er warten musste, bis endlich seine Nummer aufgerufen worden war. Fast wäre er dann auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch gestorben. Um den damit verbundenen bürokratischen Aufwand zu vermeiden, bot ich ihm den Rest meines Pausenbrotes an. Dieses verschlang er dann unter Tränen.

Die Kollegin aus dem Nachbarbüro ging mit einem angestrengten Lächeln von einem Toten zum anderen und bot jedem einen Kaffee an. Dabei murmelte sie unentwegt vor sich her: "Ich muss noch kundenorientierter arbeiten! Ich muss noch kundenorientierter arbeiten! …"

An der Tür unseres Chefs hing ein Schild, auf dem stand 'Ich komme gleich wieder'. Er hatte irgendwelche Meetings mit der Amtsleitung und anderen wichtigen Leuten. Jeden Tag war er unterwegs, ich hatte ihn schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Und unter 'gleich' kann man eben recht Unterschiedliches verstehen.

Die Türen der übrigen acht Büros waren bereits vor einigen Monaten mit roten Absperrbändern und Stacheldraht verrammelt worden. So sollte verhindert werden, dass die Besucher des Amtes dort übernachten. Die Kollegen, die in diesen Büros einst gearbeitet hatten, waren längst verstorben, in Rente oder auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Um die Nachbesetzung der Stellen konnte sich wegen des Personalmangels leider niemand kümmern.

"Der Nächste bitte", sagte ich ruhig und ließ meinen Blick durch die Wartezone streifen.

Als mir niemand in mein Büro folgte, beschloss ich Feierabend zu machen. Den Papierkram würde ich morgen erledigen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Andreas,

über Todesfälle in Hamburger Behörden habe ich zwar noch nichts gelesen, aber ich vermute fast, dass die geschilderten Zustände ziemlich nah an die Wahrheit heranreichen. Bei wochenlangen Wartezeiten auf Termine und permanentem Personalmangel kann es schon mal zum Schlimmsten kommen … :rolleyes:

Gut geschrieben! Ich hoffe, Du sitzt noch nicht mit Burnout zu Hause.

Gruß Ciconia
 

anbas

Mitglied
Hallo Ciconia,

ich stand vor ein paar Jahren sehr kurz vor dem Burnout. Seit dem muss ich noch mehr auf meine Kräfte aufpassen - klappt leider nicht immer.

Ich danke Dir für Deine Rückmeldung und das "Gut geschrieben!".


Liebe Grüße

Andreas
 

molly

Mitglied
Hi Andreas

Du hast in Deiner Geschichte schlimme Zustände, für alle Beteiligten, auf einer Dienststelle geschildert. Resignation und doch eine Prise Humor finde ich in Deiner Geschichte.

Liebe Grüße
Monika
 

anbas

Mitglied
Liebe Monika,

vielen Dank für Deine Rückmeldung und die Wertung!

Ja, manchmal hilft nur noch Humor - auch, wenn er zeitweilig sehr schwarz ist.

Liebe Grüße

Andreas
 
Hallo Anbas,
mag Deinen Text. Darf ich trotz des Lobes, das er verdient hat, ein paar Kleinigkeiten monieren?
Ein Wort, das mich regelrecht stört, ist das "irgendwelche" (Meetings) im vierten Absatz. Das klingt so abfällig! Die Stärke des Textes beruht aber gerade darauf, dass der Erzähler an keiner Stelle aufbegehrt oder Kritik übt.
Bei mir würde die Kollegin nicht vor sich her, sondern vor sich hin murmeln. Vor sich her trägt sie den Kaffee!
Und passt zu einem Burnout nicht eher, dass der Kopf implodiert? Ein explodierter Kopf löst bei mir kleistsche Assoziationen aus ...
Und ein Vorschlag: Ich denke bei dem Text auch an wartende Syrer und Jemeniten. Das könnte mit einer winzigen Andeutung verstärkt werden: Die Kollegin bietet den Toten Kaffee mit Kardamom an!
Mit Gruß
E. L.
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo anbas,

ein hervorragend sarkastischer Text!

Ein paar wenige Anmerkungen habe ich:

Titel: Burnout

Wie wäre es mit z.B. "Gestern im Büro" oder "Täglich grüßt das Murmeltier" oder Ähnlichem?

"Nachdem mir mein Kopf explodiert war, konnte ich wieder lächeln."

Das würde ich streichen und mit dem folgenden Satz anfangen:

"Über die Leichen um mich herum wunderte ich mich nicht. Sie saßen auf den Bänken in der Wartezone, und jeder hatte seine Wartenummer noch in der Hand."


"Die Kollegin aus dem Nachbarbüro ging mit einem angestrengten Lächeln von einem Toten zum anderen und bot jedem einen Kaffee an. Dabei murmelte sie unentwegt vor sich her: "Ich muss noch kundenorientierter arbeiten! Ich muss noch kundenorientierter arbeiten! …"

Das ist einfach nur köstlich!

[strike]Und unter 'gleich' kann man eben recht Unterschiedliches verstehen.[/strike]

Das ist eine Meinungsäußerung, die du ohne Probleme streichen kannst - der Leser kennt sie auch.

"Als mir niemand in mein Büro folgte, beschloss ich Feierabend zu machen."

Ein wunderbarer Schlusssatz. Danach sollte wirklich nichts mehr folgen.
[strike]Den Papierkram würde ich morgen erledigen.
[/strike]

Viele Grüße und sehr viel Freude an deinem Text habend, Zeder

P.S.: Magst du ihn nicht in "Humor und Satire" veröffentlichen?
 

anbas

Mitglied
Hallo Eike, hallo Zeder,

na, das ist mal wieder Textarbeit, wie ich sie liebe! Vielen Dank für Eure Rückmeldungen!

Bei einigen Eurer Vorschläge seid Ihr nahe an Überlegungen, die ich mir auch gemacht habe. Ich kann mir vorstellen, den einen oder anderen aufzunehmen, brauche aber noch etwas Zeit.

Den Titel möchte ich aber gerne so lassen. Das "Burnout" betrifft ja nicht nur den Prot. Auch die Leute, die in die Ämter kommen, sind oft in gewisser Weise ausgebrannt. Für mich jedenfalls passt der Titel sehr gut.

Mit dem Umzug in "Humor & Satire" bin ich einverstanden.

Über den Rest mach ich mir noch mal ein paar Gedanken.

Vielen Dank auch für die neu hinzugekommenen Wertungen - ich freue mich!

Liebe Grüße

Andreas
 

Maribu

Mitglied
Hallo Andreas,

eine herrliche Satire!

Eigentlich ist es schade, dass diese Leute gestorben sind, sie wollten doch nur ihren Personalausweis verlängern lassen!

Das klingt so nach 'Insider-Wissen'. - Hoffentlich wirst du jetzt nicht zum "Nestbeschmutzer"!

Lieben Gruß
Maribu
 

Maribu

Mitglied
Hallo Andreas,

habe gerade gesehen, dass die "Regierung" meine glatte "7"
gestrichen hat.

Das hängt mit der Bevormundung zusammen, gegebene Noten ab- oder aufzuwerten! Autoren können zwar gut oder weniger gut schreiben, sind aber nicht in der Lage, fair zu werten?!
Nächstes mal vergebe ich eine "10", um auf eine "8" zu kommen!

Aber du bist ja trotzdem auf einen Schnitt von "7,8"
gekommen.

Ich bin sicher, dein Text wird noch das "Werk des Monats"!

Lieben Gruß
Maribu
 

anbas

Mitglied
Burnout

Nachdem mir mein Kopf explodiert war, konnte ich wieder lächeln. Über die Leichen um mich herum wunderte ich mich nicht. Sie saßen auf den Bänken in der Wartezone, und jeder hatte seine Wartenummer noch in der Hand. Der Automat, der diese Nummern herausgab, war von der Wand gerissen und zerstört worden. Man würde sich Gedanken darüber machen müssen, wie es ohne ihn weitergehen sollte. Aber inzwischen hatten wir ja Übung darin, Ausfälle jeglicher Art zu kompensieren.

Mein letzter Kunde schleppte sich mühsam zum Ausgang. Er war schon sehr geschwächt, als ich ihn zu mir ins Büro holte. Ich weiß nicht, wie lange er warten musste, bis endlich seine Nummer aufgerufen worden war. Fast wäre er dann auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch gestorben. Um den damit verbundenen bürokratischen Aufwand zu vermeiden, bot ich ihm den Rest meines Pausenbrotes an. Dieses verschlang er dann unter Tränen.

Die Kollegin aus dem Nachbarbüro ging mit einem angestrengten Lächeln von einem Toten zum anderen und bot jedem Kaffee und Tee an. Dabei murmelte sie unentwegt vor sich hin: "Ich muss noch kundenorientierter arbeiten! Ich muss noch kundenorientierter arbeiten! …"

An der Tür unseres Chefs hing ein Schild, auf dem stand 'Ich komme gleich wieder'. Er hatte sicherlich wieder ein Meeting mit der Amtsleitung oder anderen wichtigen Leuten. Jeden Tag war er unterwegs, ich hatte ihn schon seit Wochen nicht mehr gesehen.

Die Türen der übrigen acht Büros waren bereits vor einigen Monaten mit roten Absperrbändern und Stacheldraht verrammelt worden. So sollte verhindert werden, dass die Besucher des Amtes dort übernachten. Die Kollegen, die in diesen Büros einst gearbeitet hatten, waren längst verstorben, in Rente oder auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Um die Nachbesetzung der Stellen konnte sich wegen des Personalmangels leider niemand kümmern.

"Der Nächste bitte", sagte ich ruhig und ließ meinen Blick durch die Wartezone streifen.

Als mir niemand in mein Büro folgte, beschloss ich Feierabend zu machen.
 

anbas

Mitglied
Hallo Eike, hallo Zeder,

einige Eurer Anregungen habe ich umgesetzt. Vielen Dank noch mal für Eure Rückmeldungen.

Den ersten Satz zu ändern oder gar wegzulassen, fällt mir schwer. Rein vom Gefühl her, ist er für mich passend (außerdem hatte ich nach einem harten Arbeitstag genau diese Formuierung im Kopf, auf sie baute dann der ganze Text auf). Vielleicht brauche ich hier noch etwas Abstand zu dem Text, bevor ich da etwas ändere - ich werde mir die Stelle hin und wieder mal ansehen.

Die syrischen Flüchtlinge möchte ich nicht dazu nehmen - wäre irgendwie ein zusätzliches Thema, das den Text überfrachten könnte - aber nun wird Kaffe und Tee angeboten ;).

Liebe Grüße

Andreas
 

anbas

Mitglied
Hallo Maribu,

schön, dass Dir der Text gefällt, aber es muss nicht unbedingt der Peronalausweis sein, weshalb die Leute dort sind - es gibt noch weitere Ämter mit Wartezeiten ;). Wobei - in Hamburg zumindest - gerade im Einwohneramt die Wartezeiten extrem sein können (Erklärung: Wenn man sich in Hamburg ummelden möchte, was ja auch eine Änderung im Pass nötig macht, muss man sich seit etwas über einem Jahr einen Termin geben lassen. Es kann dann durchaus 6 Wochen und mehr dauern, bis man diesen Termin hat. Wenn man ohne Termin das abwickeln will, kann man schon mal einen ganzen Tag mit Warten verbringen ...).

Vielen Dank auch für die Wertung. Die Streichung hat allerdings wohl eher einen anderen Grund. Ab der fünften Wertung wird die Wertung gestrichen, die am meisten von dem Durchschnitt der übrigen abgegebenen Wertungen abweicht. Wenn Du ansonsten möchtest, dass Deine Wertung auch so gezählt wird, wie Du es möchtest, müsstest Du verstärkt auch schlechtere Bewertungen abgeben, da der Durchschnitt Deines "Wertungsverhaltens" in den Wert der Einzelwertung mit einfließt (Gott, hört sich das gedrechselt an :D). Trotzdem kann es passieren, dass genau Deine Wertung gestrichen wird. Würde diesen Text hier jemand demnächst eine schlechte Wertung geben, könnte es sein, dass diese dann gestrichen und Deine wieder berücksichtigt wird. Zu dem Thema "Wertungssystem" gibt es ausführliche Diskussionen im Forum Lupanum.

Wie auch immer - ich freue mich über Deine Wertung!

Liebe Grüße

Andreas
 
In den meisten Lebenssparten
heißt es warten, warten, warten.
Diese Leute in der Not,
warteten bis hin zum Tod.

Makaber, doch mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen.

Viele Grüße,
Marie-Luise
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Anbas!
Die Umsetzung Deines Themas hat mir gut gefallen!
Ist schon bös...aber wie gesagt, gut umgesetzt :D
Mit Gruss,
Ji
 

anbas

Mitglied
Hallo Marie-Luise, hallo Ji Rina,

schön, dass Euch diese bös-makabere Geschichte gefällt. Vielen Dank für Eure Rückmeldungen und die Wertungen!

Liebe Grüße

Andreas
 

anbas

Mitglied
Hallo Aina, hallo Anonymusse ;),

vielen Dank für Eure Wertungen! Ich freue mich, dass der Text solch positiven Anklang findet - damit hatte ich nicht gerechnet.

Bei der anonymen 6 (Bedeutung der 6: Der Text hat was da ist aber noch mehr herauszuholen) würde mich interessieren, wo oder wie mehr herauszuholen ist.

Weitere Frage in die Runde: Ich "kämpfe" manchmal mit einzelnen Worten. In diesem Text ist es "Leichen" - wäre "Tote" besser? Etwas makabere Frage, aber somit passend zum Text :D.

Liebe Grüße

Andreas
 

Vagant

Mitglied
Andreas, der Text ist gut!
Und eigentlich wurde hier ja auch schon alles gesagt. Trotzdem habe ich hier noch eine Frage: Warum wird momentan jeder noch so kurze Text so luftig formatiert? Bald haben wir hier mehr Absätze als Zeilen – ein derart zerhacktes Buch würde ich glatt im Laden stehen lassen. Eine Szene, ein Absatz (neue Zeile beim Wechsel des Handlungsträgers) – reicht völlig aus, mehr braucht es nicht.
Trotzdem, ein ganz schön böses Ding.
LG Vagant.
 



 
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