Rolf-Peter Wille
Mitglied
Das kalt lächelnde Klavier
© Rolf-Peter Wille
Es sind nun schon zwei Jahre her, daß mein Freund, der Klavierlehrer X., durch einen tragischen Unfall ums Leben kam. Viele Zweifel sind an der Ursache seines Todes geäußert worden, doch war es leider allen Nachforschungen der Kriminalpolizei unmöglich geblieben, Licht in das entsetzliche Dunkel dieses Unfalls zu bringen. Man hatte X. am 13. April in seiner Wohnung mit einem Schädelbasisbruch aufgefunden, und die offizielle Version lautete, daß ihm beim Klavierstimmen der Flügeldeckel auf den Kopf gefallen sei. Es ist nun allgemein bekannt, daß X. leider in den Jahren vor seinem Unfall dem Alkohol mehr und mehr verfallen war. Dieses Laster findet man ja heutzutage in den besten Kreisen, und so glaube ich, das Andenken meines Freundes durch diese Veröffentlichung in keiner Weise herabzusetzen. Auch vermutete man, daß X. sich wegen des Todes eines Schülers grämte. Überhaupt schien er sehr abwesend in seinen letzten Tagen, und da ich nicht weiß, daß er besondere persönliche Feinde besaß, ist ein solcher Unfall wohl auch nicht auszuschließen.
Kurze Zeit nach dem Tod des Herrn X. fiel mir durch einen Zufall dessen Tagebuch in die Hände. Die Gewissenhaftigkeit und Regelmäßigkeit der Eintragungen erscheinen für einen Alkoholiker wie X. äußerst ungewöhnlich. Auch verliert er sich in Spekulationen recht mystischer Natur, die weit über den Stil eines gewöhnlichen Tagebuches hinausgehen. Obwohl die Eintragungen jedoch wichtige Aufschlüsse über den tragischen Tod meines Freundes geben, glaubte ich damals aus verschiedenen Gründen, von einer Veröffentlichung Abstand nehmen zu müssen, hoffe nun aber, daß eine Frist von zwei Jahren die Gemüter teilweise beruhigt haben wird. Ein gewisser Abstand ist durchaus notwendig, um nicht den vom Alkohol bedingten Fieberphantasien meines Freundes zu verfallen. Es ist mir leider nur zu bekannt, wie vielen Lesern die phantastischen Vermutungen und Hirngespinste des Herrn X. nicht gar zu abwegig erscheinen werden. Der allgemeine Aberglaube, den man noch vor kurzem besiegt wähnte, hat in letzter Zeit einen angsterregenden Aufschwung erfahren, und wenn nicht ein Wunder geschieht, werden wir wohl wieder in die Hölle des mittelalterlichen Dunkels zurückfallen. In breiten Kreisen des Volkes haben Astrologen, Geomantiker und andere Scharlatane weit mehr Einfluß als ehrbare Ärzte oder Anwälte. Selbst der Kunst und Musik werden besondere magische Heilkräfte zugeschrieben. Die schwarzen Baßstimmen tibetanischer Mönche sollen schon viele Kranke geheilt haben. Natürlich schließt die Logik des Aberglaubens hieraus, daß es auch Musik mit ‘negativen Schwingungen’ gebe. So hat doch selbst der Pianist Artur Rubinstein festgestellt, daß sein Vortrag von Chopins Trauermarsch jedesmal mit dem Tod eines Freundes in geheimnisvollem Zusammenhang stand. Fast schien es ihm, als wenn sein Spiel dieses Unglück erst ausgelöst habe, weshalb er sich dann später weigerte, das Werk in privaten Kreisen aufzuführen.
Doch bin ich wohl zu schwarzseherisch. Die Tagebucheintragungen von Herrn X. sind zu irrsinnig, als daß ihnen jemand ernsthaft Glauben schenken könnte. Sie sind hier nur veröffentlicht, um dem Leser ein Bild von dem Geisteszustand meines Freundes zur Zeit seines Unfalls zu geben:
Nachtrag:
Die Tagebuchaufzeichnung bricht an dieser Stelle ab. Am Abend des 13. 4. Wurde X. mit zertrümmertem Schädel in seiner Wohnung aufgefunden.
© Rolf-Peter Wille
Es sind nun schon zwei Jahre her, daß mein Freund, der Klavierlehrer X., durch einen tragischen Unfall ums Leben kam. Viele Zweifel sind an der Ursache seines Todes geäußert worden, doch war es leider allen Nachforschungen der Kriminalpolizei unmöglich geblieben, Licht in das entsetzliche Dunkel dieses Unfalls zu bringen. Man hatte X. am 13. April in seiner Wohnung mit einem Schädelbasisbruch aufgefunden, und die offizielle Version lautete, daß ihm beim Klavierstimmen der Flügeldeckel auf den Kopf gefallen sei. Es ist nun allgemein bekannt, daß X. leider in den Jahren vor seinem Unfall dem Alkohol mehr und mehr verfallen war. Dieses Laster findet man ja heutzutage in den besten Kreisen, und so glaube ich, das Andenken meines Freundes durch diese Veröffentlichung in keiner Weise herabzusetzen. Auch vermutete man, daß X. sich wegen des Todes eines Schülers grämte. Überhaupt schien er sehr abwesend in seinen letzten Tagen, und da ich nicht weiß, daß er besondere persönliche Feinde besaß, ist ein solcher Unfall wohl auch nicht auszuschließen.
Kurze Zeit nach dem Tod des Herrn X. fiel mir durch einen Zufall dessen Tagebuch in die Hände. Die Gewissenhaftigkeit und Regelmäßigkeit der Eintragungen erscheinen für einen Alkoholiker wie X. äußerst ungewöhnlich. Auch verliert er sich in Spekulationen recht mystischer Natur, die weit über den Stil eines gewöhnlichen Tagebuches hinausgehen. Obwohl die Eintragungen jedoch wichtige Aufschlüsse über den tragischen Tod meines Freundes geben, glaubte ich damals aus verschiedenen Gründen, von einer Veröffentlichung Abstand nehmen zu müssen, hoffe nun aber, daß eine Frist von zwei Jahren die Gemüter teilweise beruhigt haben wird. Ein gewisser Abstand ist durchaus notwendig, um nicht den vom Alkohol bedingten Fieberphantasien meines Freundes zu verfallen. Es ist mir leider nur zu bekannt, wie vielen Lesern die phantastischen Vermutungen und Hirngespinste des Herrn X. nicht gar zu abwegig erscheinen werden. Der allgemeine Aberglaube, den man noch vor kurzem besiegt wähnte, hat in letzter Zeit einen angsterregenden Aufschwung erfahren, und wenn nicht ein Wunder geschieht, werden wir wohl wieder in die Hölle des mittelalterlichen Dunkels zurückfallen. In breiten Kreisen des Volkes haben Astrologen, Geomantiker und andere Scharlatane weit mehr Einfluß als ehrbare Ärzte oder Anwälte. Selbst der Kunst und Musik werden besondere magische Heilkräfte zugeschrieben. Die schwarzen Baßstimmen tibetanischer Mönche sollen schon viele Kranke geheilt haben. Natürlich schließt die Logik des Aberglaubens hieraus, daß es auch Musik mit ‘negativen Schwingungen’ gebe. So hat doch selbst der Pianist Artur Rubinstein festgestellt, daß sein Vortrag von Chopins Trauermarsch jedesmal mit dem Tod eines Freundes in geheimnisvollem Zusammenhang stand. Fast schien es ihm, als wenn sein Spiel dieses Unglück erst ausgelöst habe, weshalb er sich dann später weigerte, das Werk in privaten Kreisen aufzuführen.
Doch bin ich wohl zu schwarzseherisch. Die Tagebucheintragungen von Herrn X. sind zu irrsinnig, als daß ihnen jemand ernsthaft Glauben schenken könnte. Sie sind hier nur veröffentlicht, um dem Leser ein Bild von dem Geisteszustand meines Freundes zur Zeit seines Unfalls zu geben:
4. 4. Entsetzliche Katerstimmung. Hatte Mühe aus dem Bett zu kommen. Meine Abneigung gegen Menschen im allgemeinen und Musiker (die ich gar nicht zu letzteren zähle) im besonderen nimmt immer krankhaftere Formen an. Schon seit gestern habe ich aufgehört, das Telephon zu beantworten. Phantasierte etwas am Klavier. Wurde jedoch von einem Schüler unterbrochen, der ein Empfehlungsschreiben brauchte. Möchte alle Schüler umbringen. Bier gekauft und gesoffen. Wieder einen Tag getötet.
9. 4. Habe nun auch die Hausklingel ausgestellt. Mögen mich doch alle in Ruhe lassen! Phantasierte wieder am Klavier. Wurde jedoch wieder vom selben Schüler unterbrochen. Irgendjemand muß die Haustür offengelassen haben. Werde mir wohl demnächst einen Panzerschrank kaufen, um mich darin einzuschließen. Übrigens spielte ich merkwürdigerweise genau das gleiche Werk wie letztesmal als der Schüler kam — ironischerweise den letzten Satz von Beethovens ‘Les Adieux’. Werde wohl nächstesmal nur noch den zweiten Satz, ‘L’Absence’, spielen, um sicher zu gehen, daß mich niemand stört.
10. 4. Spielte heute in der Tat ‘L’Absence’ von Beethoven. Konnte mich jedoch nicht beherrschen, doch noch den letzten Satz anzuspielen, da mich ein gewisses sehr eigenartiges Gefühl überkam. Als ich mich der Stelle näherte, an der die letzten beiden Male der Schüler klopfte, wurde ich von einer großen Unruhe, ja — sogar Angst ergriffen. Ich stoppte unwillkürlich und schlug mit der Faust auf die Tasten. Dies war genau gegen 2 Uhr nachmittags. Konnte hierauf nicht weiterüben. Jedoch klopfte zum Glück niemand mehr.
11. 4. Erhielt heute früh einen Anruf. Wahrscheinlich hatte ich vergessen, wie sonst das Telephon auszustellen. Mein Schüler ist gestern nachmittag gegen 2 Uhr gestorben. Auf dem Weg zu mir ist sein Motorrad von einem schweren LKW erfaßt worden, und er war auf der Stelle tot. Ich bin in keinster Weise entsetzt. Es ist mir, als wenn ich alles Entsetzen bereits gestern empfunden hätte. Es ist völlig klar, daß mein Klavierspiel diesen Unfall verursacht hat. Kein Gericht der Welt würde mich für diese Tat verurteilen, aber ich kenne meine eigenen Gefühle gut genug. So, wie man mit einem bösen Blick eine Krankheit auslösen kann, so war mein Schlag auf die Klaviatur eine Auflehnung gegen das ‘Gute Prinzip’. Ein Musikstück ist ein lebendiges Wesen. Mein Schüler hatte dieses Wesen so oft verletzt. Meine Reaktion in jenem Moment mußte all diese negativen Energien in einem einzigen Moment konzentriert zurückgeworfen und den Tod jenes Menschen ausgelöst haben.
In verschiedenen Ländern, wie Haiti und China, gibt es magische Riten, die einem persönlichen Feind Schaden zufügen. Sie bestehen darin, daß einer Holzpuppe mit astrologischen Daten des betreffenden Opfers Nägel an bestimmten Punkten hineingetrieben werden. Man sagt auch, daß bei falscher Handhabung die negativen Energien auf den Magier selbst zurückfallen können.
Nun ist solch eine Holzpuppe ein primitiver Gegenstand. Ein Musikwerk hingegen ist ein höchst kompliziertes Gebilde, mit dem man bei geschickter Manipulation wohl allerhand anrichten kann. Man sagt gemeinhin im Volksmund, jemand habe ein Werk so arg verstümmelt, daß sich der Komponist im Grabe herumgedreht habe. Diese Wirkungen sind natürlich auf keinen Fall zu verwechseln mit den Reaktionen, die das Hören von Musik hervorbringen kann. Allgemein bekannt sind ja die Hysterieanfälle bei Konzerten von Paganini oder Liszt gewesen, von einigen neuzeitlichen Pop Gruppen ganz zu schweigen.
Aber dieses meine ich hier nicht. Ich war eigentlich immer sicher, daß Musik eine magische Wirkung ausüben kann, die nicht nur ihre hörbare Erscheinung transzendiert sondern vielleicht sogar ganz außerhalb dieser offensichtlichen Erscheinungsform im Dunkeln sozusagen existiert. So, wie jeder Mensch eine Aura besitzt, welche nur den Augen weniger hellsichtiger Personen erkenntlich ist, so fungiert die Musik als Aura einer besonderen Idee oder Kraft. Die Möglichkeit, durch die Beeinflussung dieser Aura eine Art Kontrolle über jene Macht zu gewinnen, war immer ein besonderer Reiz für meine Bosheit. Man kann davon ausgehen, daß die negative Energie besonders vernichtend wirkt, wenn das zerstörte Wesen besonders gut oder moralisch hochstehend ist. Man kennt von den Übungen bestimmter Hexen und Sataniker des Mittelalters, welche eine besondere Lust dabei empfanden, z. B. während des Gottesdienstes insgeheim scheußliche Verwünschungen und Flüche auszustoßen. Noch entsetzlicher sind jene Geschichten, in denen ungetaufte Kinder geopfert werden. Die Vernichtung der Reinheit oder der Unschuld wurde als größtmögliches Übel angesehen.
Nun war ich jedoch immer davon überzeugt gewesen, daß große Kunstwerke — und besonders große Musik — die Kristallisation des Lebens schlechthin darstellen. Ein Angriff auf ein derartiges Wesen wäre somit ungleich schlimmer als alle Teufeleien des Mittelalters, und ein wissenschaftliches Vorgehen, welches diese Zerstörung systematisch betreiben würde, müßte sogar Katastrophen auslösen können.
Ich sollte an dieser Stelle erwähnen, daß mein Schüler in dieser schwarzen Kunst nicht ganz unbewandert war. Zunächst glaubte ich nur, daß er gänzlich unbegabt sei, bemerkte jedoch bald eine teuflische psychologische Finesse in seiner verzerrenden Spielweise. Er hatte schnell erkannt, wie sehr ich an seinen entsetzlichen Stümpereien zu leiden hatte, und er empfand eine diabolische Lust dabei, mich durch allerlei falsche Rhythmen und unsinnige agogische Foppereien bis an den Rand des Wahnsinns zu bringen. Dabei konnte ich ihm niemals nachweisen, daß seine Schlechtigkeit Methode hatte, da er nach außenhin den gewöhnlichen Tölpel markierte. Doch war sein Spiel eine widerliche Fratze, die mich beständig auslachte. Sogar die Tastatur des Klaviers schien sich zu einer kalt lächelnden Fratze zu verzerren, wenn er anhub zu spielen.
Er spielte übrigens die ‘Les Adieux’ Sonate und verstand es, im letzten Satz — der ‘Freudigen Wiederkehr’ — einen abscheulich geschmacklosen, geradezu hüpfend, humpelnden Rhythmus zu erzeugen. Seine gemeine Blasphemie erinnerte mich jedesmal an den letzten Satz der ‘Symphonie fantastique’ von Berlioz, in welcher der unglückselige Held verdammt ist, seine Liebe in der Hölle als gemeine Dirne wiederzusehen. Die phantastische, schwärmerische ‘Idee fix’ präsentiert sich als geschmackloser Gassenhauer. Liszt hat in seiner ‘Faust Symphonie’ ähnliche Effekte verwand: Mephisto, der Geist des Bösen, kann kein eigenes Thema kreïeren. Er kann nur auslachen. Wie böse war die Karikatur meines Schülers! Wie teuflisch perfekt war seine Maskerade als stümpernder Amateur.
Doch hatte er mich unterschätzt. Es ist ihm nicht aufgefallen, daß er in mir einen verwandten Geist gefunden hat. Ich habe all seine Unarten in meinem Unterbewußtsein gesammelt, und dies war letztlich sein Untergang.
12. 4. Erhielt heute eine Einladung zur Begräbnisfeier meines Schülers, die auf morgen 4 Uhr angesetzt ist.
Eine schwarze Idee ist in meinem Gehirn geboren: Ich werde eine eigene Feier morgen veranstalten. Auf meinem Klaviersarg werde ich Punkt 4 Uhr beginnen, den letzten Satz der ‘Les Adieux’ Sonate zu spielen — und zwar in einer frohlockenden Scheußlichkeit, die selbst mein Schüler nicht erahnt hat. Natürlich könnte ich noch eine Photographie von ihm aufs Klavier stellen, vielleicht brennende Weihrauchstäbchen davor, oder seine astrologischen Daten ins Klavier eingravieren.
Doch sind das ja alles Kindereien und Grobheiten. (Ich könnte ja auch gleich eine schwarze Katze töten und in den Flügel hängen.) Die äußerste Ironie ist unglaublich fein. Nur ein Ahnen, ein schwankendes Gefühl zwischen Unglauben und Erkennen des Hohns kann jenes entsetzliche Grauen auslösen. Ich muß schön spielen. Ich muß so lange in der Freude des Wiedersehens schwelgen, bis ich selbst an ein freudiges Wiedersehen glaube. Der entsetzlichste Hohn kann nur darin bestehen, daß ich angesichts der Verzerrungen meines Schülers nun im Moment seines Todes eine völlig perfekte und tief empfundene Wiedergabe des Satzes anstrebe.
Ein Grausen befällt mich, wenn ich die kalt lächelnde Tastatur sehe. Doch was für ein eigenartiges Gefühl! Je stärker mir graust, desto mehr wächst mein Verlangen zu spielen.
Ich werde morgen den Flügel stimmen, um einen Vortrag von kristalliner Schönheit zu gewährleisten.
Nachtrag:
Die Tagebuchaufzeichnung bricht an dieser Stelle ab. Am Abend des 13. 4. Wurde X. mit zertrümmertem Schädel in seiner Wohnung aufgefunden.