der Alte im Kastell

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Tula

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der Alte im Kastell

Ein Balken knarrt. Zwei Tauben gurren scheu.
Der Wind im Turm vollendet diesen Chor.
Ein Schatten gähnt und rekelt sich am Tor.
Auch dieser Tag blieb allen vor ihm treu.

Der Himmel leiert mit Gelassenheit
wie jeden Abend seinen Epilog.
Im Schoß der Mauern, die er dereinst zog,
versäumt, in sich gekehrt, ein Greis die Zeit.

Die Erben ziehen lärmend irgendwo
durch eine Landschaft, die er nicht mehr schaut.
Der Pfad zum Horizont ist längst verbaut,
doch macht ihn ohnehin kein Weg mehr froh,

kein Aufstieg zu den Zinnen und kein Blick
zu den Gestirnen in der klaren Nacht.
Ihm reicht sein Reich, das er allein bewacht,
und dass es bröckelt, hält er für Geschick.

Erst gestern aber traf die Burg ein Spuk.
Ein Balken krachte und das Tor flog auf.
Nur kurz sah er die Welt in ihrem Lauf.
Dann schloss er fest die Augen und schrie „Trug!“


PS: „o velho do restelo“ hat im Portugiesischen sprichwörtlichen Charakter
 
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Tula

Mitglied
Hallo Matula
Danke für deinen Kommentar und Hinweis auf Platon. Ich kannte den Vergleich noch nicht und habe mich belesen.
Ich denke, den Alten im Kastell kennen wir alle, ein Teil von ihm steckt wohl in jedem von uns. Es fällt mitunter sehr schwer, sich der Notwendigkeit des einen oder anderen Wandels zu beugen. Geht ja bereits in der Firma los: der Erfolg von gestern täuscht uns leicht darüber hinweg, dass das alte Rezept dazu schon morgen nicht mehr wirkt. Obwohl das jeder per se versteht, erzeugt jede Veränderung Verunsicherung und Widerstand gegen 'die da oben' Nur mal als Beispiel.

LG
Tula
 

Matula

Mitglied
Hallo Tula,
da hast Du schon recht, aber die Schatten an der Höhlenwand sind manchmal weniger erschreckend als das wahre Leben vor dem Eingang. So verstehe ich gut, dass der Alte im Kastell die Augen schließt und "Trug!" schreit.

Viele Grüße,
Matula
 

Tula

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dem kann man kaum widersprechen, nicht Weniges lässt sich leichter ertragen, wenn man nicht ständig darüber nachdenkt

Grüße durch die Nacht
Tula
 

mondnein

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Mir kommts, lieber Tula,

beim ersten Lesen so vor wie der König in Eugen Ionescos "Der König stirbt", wo alle Welt, sein Reich, wegbröckelt bis in seinen Palastraum hinein, bis zu dem Inselchen, auf dem er thront. Und dann gehts erst richtig los, durch eine Wanderung zum Schlußpunkt hin, geführt von der ernsthaften seiner beiden Königinnen.

grusz, hansz
 

Tula

Mitglied
Hallo Hansz
Ein Bild, welches gut auf so manche Illusionen passt, vielleicht für jeden von uns irgendwo.
Das von dir zitierte Werk selbst kenne ich leider nicht. Neugierig bin ich jetzt wenigstens.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 26374

Gast
Die Strophen drei und vier sind wunderbar geschrieben ... haben Strahlkraft, fast Eigenleben zusammen.

Fünf Sterne!

Gruß vom
Fritz
 

Scal

Mitglied
Hallo Tula,

ob nicht "räkeln" - dem Duktus des Ganzen gemäß - lautlich besser passte, denke ich mir.
Zudem: versäumt , in sich gekehrt , ein Greis

LG
Scal
 
Zuletzt bearbeitet:

Tula

Mitglied
Hallo Scal
Danke fürs feedback. Komma-Setzung eingebaut, ok. Bei räkeln vs. rekeln überlege ich, ob das regional wirklich verschieden betont wird, da der Duden beide Schreibweisen zulässt. In meiner Randberliner Ecke machte das wenig Unterschied. Selbst 'zählen' und 'fehlen' wird zum Beispiel gleich betont und 'gähnt' wie 'dehnt' usw. Das mag anderswo natürlich nicht so sein. Gute Frage ...

Dankend lieben Gruß
Tula
 

sufnus

Mitglied
Hi Tula,
spannend finde ich, dass Du die Erstarrung dieses Eremiten durchaus auch formal sehr erfahrbar rüberbringst: Jede Strophe besteht aus exakt 40 Silben, jede Zeile umfasst genau 10 Silben und die durchschnittliche Silbenlänge ist mit 1,3 Silben pro Wort (ich habe mir erlaubt, ein online-Tool zu benutzen ;) ) sogar für die kurzwortige deutsche Sprache recht ökonomisch gehalten. Ich nehme an, dass zumindest die einheitliche Silbenzahl pro Zeile einem gestalterischen Willen zugrunde lag, indem Du auf durchgängig männliche Kadenzen und einheitliche Anzahl von Hebungen pro Zeile geachtet hast. :)
LG!
S.
 

Tula

Mitglied
Hallo sufnus
Ja, wenn ich eine Form und Metrum gewählt habe, ziehe ich sie auch gern bis zum Ende durch, da bin ich dann selbst 'erimitisch'. Die Wahl der männlichen Kadenzen folgt in der Tat der gewünschten Absicht. Diese erzeugen (auf mich wenigsten) beim Lesen irgendwie eine besondere Wirkung, die sich beim Mischen mit weiblichen Kadenzen verliert. Vielleicht eine Frage des Geschmacks und auch der dichterischen Herausforderung. 'Weibliche Wörter' lassen sich leichter finden, wobei man beim kreativen Tüfteln schnell aus der unermesslichen Fülle der Verben schöpft.

Dankend lieben Gruß
Tula
 
Hallo Tula

Muito excelente! Aber (bei Camões) hatte er ja auch irgendwo recht, der Alte, da Vasco da Gama ja später an Malaria zugrunde ging (...wie ich grad lese). Für Portugal war seine Reise sicher sehr ruhmreich.

Es ist toll, wenn man sich beim Gedichte-Lesen noch bilden kann! Ich hab zwar die Lusiaden gekauft (Schaeffer) und sie stehen auch noch im Bücherschrank unter "C", aber bis zum Vierten Gesang bin ich nicht vorgedrungen. Die langen geschichtlichen Einschübe haben mich irgendwann gelangweilt.

LG
Rolf-Peter
 

Tula

Mitglied
Hallo Rolf-Peter
Immerhin hast du drei Gesänge geschafft, das ist sehr lobenswert. Ich müsste mich schämen, dass ich das Meisterwerk nicht einmal in Angriff genommen habe. Vielleicht liegt es auch daran, dass Camões bis heute Pflichtlektüre in der 11. und 12. Klasse ist, und ganz nebenbei gefürchteter Stoff für die landesweite Abschlussprüfung. Ich folgte also dem Rat meiner Tochter, die ansonsten sehr viel liest.
Aber eigentlich war der hier sprichwörtliche Alte nur ein kleiner Teil der Inspiration, 'echte Zeitgenossen' machten den weitaus größeren Teil aus. Mich erstaunt immer wieder, wie sehr die Menschen gewisse Veränderungen fürchten oder gar verdammen, auch wenn es nichts zu verlieren gibt.

Dankend lieben Gruß
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 24962

Gast
Lieber Tula,

handwerklich eins A, tolle Kohärenz.

Da manifestieren sich nicht nur die Aspekte der sozialen Isolation, die den im fortgeschrittenen Alter befindlichen Greisen prägen, sondern auch seine dezidierte Abneigung gegenüber jeglichen Metamorphosen und neuartigen Erfahrungen. Ferner veranschaulicht es, wie ich finde, die Konzeption eines individuellen Kosmos, in welchem der betagte Protagonist, metaphorisch gesprochen, ad infinitum gefangen zu sein scheint, und der Versuch, sich von diesem existenziellen Gefüge zu emanzipieren, erweist sich als ein hochgradig komplexer und schwerwiegender Prozess, der durch die intrinsische Bindung an diese Sphäre erschwert wird. So lese ich es jedenfalls.

Deine Qualität ist toll, schöne Literatur, Tula!

lg Matze
 

Tula

Mitglied
Lieber Matze
Ich danke dir herzlich für deine Interpretation zum Gedicht, die sich gewiss mit der inhaltlichen Absicht deckt. Ich kann nur hoffen, nicht irgendwann selbst so zu werden, sondern eher ein etwas kindischer Alter, der sich von den Jüngeren noch zu allerhand Blödsinn hinreißen lässt und dabei unterhaltsam bleibt. Hoffen wir's

LG
Tula
 

mondnein

Mitglied
und hast Du nun in den Ionescu weingstens mal hineingeschaut? das ist ein erstaundlicher Geniestreich, und zugleich tiefsinnig humorvoll.

aber vielleicht ist das eine ganz andere Liga, und ich verstehe alles miss
 



 
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