Der lange Abschied von uns selbst, oder wie wir wurden, was wir sind - Teil 11

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4.2 Der V-Fall 02.06.2019

Wir haben eine Entscheidung getroffen, eine Übereinkunft erzielt. Gemeinsam vereinbarten wir, nicht zu fliehen. Um den Platz, den wir hier haben, wollen wir kämpfen. Die Einwände und Gründe die dagegen stehen, sind gewaltig, ebenso groß sind die Argumente, die gegen eine Flucht sprechen.
Nach der Einigung führte ich die anderen auf den Dachboden, dort, wo ich die Bögen, Armbrüste und Messer aufbewahre. Sogar Giulia pfiff anerkennend durch die Zähne, diesen Part der Geschichte kannte auch sie nicht.
Wieder kam die Frage auf, was ich gewusst habe. Nachdem das passiert ist, worauf ich mich vorbereitete, jetzt, wo Realität ist, was ich nie für möglich hielt, ist es machbar meinen Freunden die Wahrheit zu sagen. Ob der Baron überlebt hat – wer weiß, der Mann ist stets für eine Überraschung gut. Dass er derzeit eine Priorität bei Polizei und Justiz ist, wage ich allerdings anzuzweifeln, – und wo kein Kläger, da kein Richter.
Wir kehrten wieder in die Küche zurück, machten Kaffee und ich stellte die Kassette und den Bordcase des Barons auf den Tisch. Max öffnete beides und nahm die wenigen, verbliebenen Krügerrand und die eine Walther aus dem Koffer. Heike holte eine Schachtel mit Munition aus der Tasche. Max pfiff leise, als er sich die Goldmünze ansah. Nicht, dass sie jetzt noch einen Wert hätten, aber wir sind alle nach wie vor auf diesen warmen, gelblichen Schein konditioniert. Während die Gruppe die Pistole, die Patronen und die Reste des Goldes bestaunten, zog ich die zweite Walther unter meiner Jacke hervor. Ein Raunen durchlief durch die Anwesenden, als sie erkannten, dass ich die von Anfang an eine Waffe getragen hatte.
Ich erzählte ihnen die ganze Geschichte mit mir und dem Baron. Die Geiselnahme, wie ich ihn vor der Polizei versteckte. Seine Besuche, die in wüsten Besäufnissen endeten. Der Brief, den ich für ihn zur Tochter nach München trug und die letzte Visite, die all das, was ist, in Bewegung setzte.
Isabell fixierte mich mit dunklen Augen an, meinte, dass es meine Pflicht gewesen wäre, die Informationen zu teilen. Dadurch wäre es eventuell möglich gewesen, Familie, Verwandte und Freunde zu retten.
Auf die Frage, was ich ihnen wie hätte mitteilen sollen, reagierte sie nicht. Bei mir bleibt der Eindruck, dass das Tuch zwischen uns zerschnitten ist, eine Tatsache, welche ich sehr bedaure. In der jetzigen Situation, zu diesem Zeitpunkt, beließ ich es bei einem Achselzucken. Möglicherweise ergibt sich später eine Gelegenheit, dass wir reden können.
Die Anderen blickten teilweise ebenso vorwurfsvoll, enthielten sich jedoch jedes Kommentars.
Heike schaute mich an und fragte, wie es funktionieren soll. Wir alle sind keine Militärs. In der Armee dienten nur Max und ich. Wir beide verpflichteten uns für einen längeren Zeitraum in der Bundeswehr, Max blieb zwei Jahre, ich unterschrieb für vier. In einen Krieg sind auch wir nie gezogen. Die anderen haben noch nie eine Waffe abgefeuert.
Sie sollen nicht zu Soldaten/innen werden. Kämpfen müssen sie hingegen lernen – und das schließt mehr ein, als nur schießen zu können. Und genau so sagte ich es meinen Freunden. Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen.
Heike und Michaela blickten mich ungläubig an, erkundigten sich, ob ich sie veralbern wollte. War nicht der Plan.
Ausführlich legte ich dar, warum es sich lohnt, um diesen Flecken Erde, die Häuser, die Straße zu kämpfen. Wir verfügen über Elektrizität, Wasser, Vorräte. Dinge, für die andere Menschen in einigen Tagen morden werden, bzw. es bereits jetzt tun. Nichts von dem was wir hier haben, ist für die Ewigkeit. Die Solaranlage liefert fünfzehn, zwanzig Jahre Strom, die Batterien, wenn wir sie jeden Tag benutzten, und strapazieren halten vielleicht ein oder anderthalb Jahrzehnte. Das BHKW könnte noch am längsten laufen, ist aber nicht gesagt. Nachdem all die elektronischen Helferlein kaputt sind, sitzen wir im Dunkeln.
Bis dahin muss etwas Neues entstanden sein, was immer das auch sein wird. Wir werden niemals mehr in der Lage sein, die Dinge, die wir so selbstverständlich benutzen, zu reproduzieren. Solange sie funktioniert, schenkt uns die Technik, die wir hier verwenden, einen unvorstellbaren Startvorteil. Verlieren wir den, sind wir tot, da hege ich wenig Zweifel. Es ist Frühjahr, wo sollen wir hin, wenn wir hier nicht bleiben? Der nächste Winter kommt und falls wir nicht sehr gut vorbereitet sind, werden wir ihn nicht überleben.
Michaela mischte sich ein, erkundigte sich, woher ich die Sicherheit nahm, dass die Gesellschaft sich von diesem Schlag nicht binnen weniger Monate erholen wird. Wieso ging ich davon aus, dass die bisherige Struktur beendet ist? Erwartete ich keine Führung durch die Regierung mehr?
Langsam schüttelte ich den Kopf. Es besteht durchaus eine Chance, dass Michaela recht hat. Innerhalb einiger Wochen, nachdem die Infizierten tot sind und die Politik eventuell auch das Militär das Ruder übernommen hat, sind wir nach ein oder zwei Jahren wieder da, wo wir uns am 29.05.2019 befanden.
Der Punkt ist nur, passiert das nicht, sind wir wirklich, und ich meine nicht nur ein klein wenig sondern so richtig gefickt. Das ist ähnlich, wie russisches Roulette mit einer Automatikpistole zu spielen. Es ist nicht die Frage, ob eine Patrone in der Kammer steckt, es ist nur nicht klar, ob sie zündet. Verlässt das Geschoss den Lauf, bist du tot.
Michaela sah betreten zu mir, nickte, so gesehen, musste sie mir recht geben.
Heike fragte nochmals, wie es funktionieren soll. Die Vorstellung, einem anderen Menschen Schaden zuzufügen oder ihn gar zu töten, verursachte ihr selbst schon fast körperlichen Schmerz.
Auch für mich ist der Gedanke fremd. Ich stimmte ihr zu, wir benötigen Zeit, bis wir soweit sind, doch genau hier genießen wir einen unschätzbaren Vorteil. Wir verfügen über die Ressource Zeit und eine einigermaßen funkionierende Umgebung. Viele Menschen da draußen haben wesentlich weniger Glück. Natürlich ist es richtig, was Heike sagt, wenn hier eine OMON-Einheit vorbei kommt, beziehungsweise ein SEK die Türe sprengt, machen die uns nass. Aber jetzt im Ernst, wie realistisch ist das? Die meisten Überlebenden in der Welt vor meiner Haustür sind genauso zivilisationsgeschädigt wie wir. Die Weinigsten von denen haben mal einen Fisch ausgenommen oder ein Reh aus der Decke geschlagen. Diese Leute sind gezwungen noch heftiger um ihr Leben, zu kämpfen als wir. Bis die da draußen soweit sind, uns gefährlich zu werden, können wir bereits viel weiter sein.
Schützenhilfe bekam ich von Giulia. Sie erzählte, wie sie hier her kam, was sie beobachtete und die Schlüsse, die sie daraus zog. Sie hatte ebenfalls Freunde und Angehörige zurückgelassen. Allerdings, so führte sie aus, überraschte der Ausbruch und vor allem die Geschwindigkeit, mit der die Infektionswelle durch die Länder raste, sie vollkommen. Unter diesen Umständen sah sie keine Möglichkeiten ihre Familie oder andere Freunde zu warnen.
Sie blickte zu Isabell, sprach sie ganz konkret an und stellte klar, dass niemand das kommen sah, was hier gerade geschah.
Ich glaube zwar nicht, dass sie Isabell erreichte, trotzdem fand ich den Versuch nett.
Giulia fuhr fort, dass es keinen Platz gab, wohin sie oder wir fliehen können. Sie machte deutlich, dass sie Musikerin ist, überzeugte Christin. Dennoch ließ sie nicht den leisesten Zweifel aufkommen, dass sie bereit ist, das zu tun, was notwendig sein wird, um zu überleben. Sie schob nach, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht über die geringste Ahnung verfügte, wie sie das bewerkstelligen soll.
Tom wandte sich an Max, wollte wissen, wie er das sah, ob er uns eine realistische Aussicht gab, das zu lernen, was notwendig ist, um zu überleben.
Mit der Antwort ließ Max sich Zeit, blickte lange auf den dunklen Bildschirm des Fernsehers. Schließlich antwortete er, dass es keine andere Chance gab. Max erzählte, wie er die Jahre als Soldat damals erlebte. Was es für ihn bedeutete, in der Bundeswehr Dienst zu tun. Er ging ausführlich darauf ein, wie aus einem Zivilisten ein Militär wurde. Er bestätigte, dass es möglich ist. Damit schloss er sich meiner Bewertung an, dass hierzubleiben die Option mit der höchsten Erfolgsaussicht sei. Entweder wir schaffen es hier oder wir sterben hier. Nach den letzten Tagen und der Zeit, die er für seine Analyse nutzte, anerkannte er, dass dieses Vorgehen die bessere Alternative darstellte.
Michaela fragte, wie der Plan lautete und was nun weiter geschehen würde. Da hatte sie direkt den wunden Punkt erwischt, weil ich mir da selbst noch nicht sicher bin. Ich schlug vor, dass wir das Haus vorerst nicht verlassen. Die Fenster sind abgedunkelt, wir haben Kameras draußen, sehen was passiert. Die Enge müssen wir vorläufig ertragen. Die größten Chancen haben wir, wenn wir unsichtbar bleiben.
Da ich bislang nichts Gegenteiliges gehört habe, gehe ich davon aus, dass die Kranken irgendwann sterben. Danach sind nur noch die, welche eine natürliche Resistenz gegen die Infektion besaßen oder sich aus anderen Gründen nicht ansteckten, übrig. Ich hoffe nicht, dass die zu einem gravierenden Problem werden. Die Infizierten mit ihrer Raserei, mit ihrem Drang zu töten, bereiten mir Sorgen. Wir haben genug Vorräte, um abzuwarten, bis sie gestorben sind.
Bis dahin lernen wir schießen, treiben Sport, um fit zu bleiben. Okay, Langstreckenlauf ist eine Herausforderung, aber körperliche Betätigung muss sein.
Da sieht Michaela zumindest kein größeres Problem, sie stellt ein Übungsprogramm zusammen, Muskelaufbau, Streching, Cardio, damit wir nicht komplett einrosten. Nach ihrer Einschätzung benötigen wir dafür weder Geräte noch Gewichte. Sie kennt genügend Übungen, in denen man nur mit seinem eigenen Körpergewicht trainiert. Mehr braucht es nicht um fit zu bleiben.
Max und ich schulen die anderen im Umgang mit den Pistolen, unterweisen sie im Schießen mit den Armbrüsten, lehren Grundlagen der Messerabwehr.
Und dann kam die wirklich unangenehme Frage, was wir mit unserem Wissen anfangen. Was ist der Plan, wenn jemand kommt und die Vorräte will? Heike brachte das Thema auf.
Mit der Antwort ließ ich mir Zeit. Über diesen Part dachte ich lange nach. Sicher bin ich mir in dem, was ich bestimmte dennoch nicht. Die Einschätzung des Barons bezüglich meiner Person, dass mir der Killerinstinkt fehlt, ist, wie ich fürchte, unwiderlegbar. Mir scheint auch das Macht-Gen zu fehlen, ist mir alles zu anstrengend. Gleichwohl entschied ich, zu tun was notwendig ist.
Ich schließe es aus, dass ich jemals aus Freude oder Spaß töte – hallo, ich bin Vegetarier. Würde ich töten, sollte ich mich in Lebensgefahr befinden? Vermutlich, es kommt ein wenig darauf an, wer der Gegner ist. Mit meinem Leben kann ich spielen, zocken möchte ich mit der eigenen Existenz nicht. Werde ich töten, wenn Isabell in Gefahr ist, Giulia oder Tom? Mit Sicherheit, und ich hoffe, dass sie genauso handeln, falls mir Ungemach droht.
Das Ganze bedurfte noch eines griffigen Slogan. Diesem Problem widmete ich mich in den zurückliegenden Tagen recht intensiv. Die Bilder, die ich zu sehen bekam, legten nahe, dass ich, beziehungsweise wir, über kurz oder lang mit einer derartigen Situation konfrontiert werden. Wenn das passiert, ist es gut, darüber nachgedacht zu haben. Tritt keine entsprechende Konstellation ein, ist es auch gut, das Gedankenspiel bringt ja niemanden um.
Schließlich sagte ich, dass ich bereit bin, für das was wir hier haben zu töten, für mich und für die Anderen. Da der Rest der Gruppe nicht überzeugt aussah, verpackte ich diesen Grundsatz in einen einzigen Satz: „Ich werde nicht aus Spaß töten, oder aus Rache, aber ich bin entschlossen, zu töten, um meine Existenz zu schützen, und euer Leben da ihr mir nahesteht, wir befreundet sind.“
Es dauerte eine Weile, bis ich eine Reaktion erhielt, wieder war es Giulia, die sich als erste Position bezog. Zögernd nickte sie, blickte in die Runde und meinte schließlich, dass dieser Grundsatz für sie okay sei, auch wenn sie sich nicht vorstellen kann, wie sie jemanden tötet.
Max schloss sich an, stellte fest, dass er mit der Festlegung leben könne. Gleichzeitig hoffte er, niemals eine derartige Entscheidung treffen zu müssen. Nachdrücklich erklärt er, bereit zu sein, sich einzusetzen mit allem, was er hat, damit die Gruppe und er überlebt.
Letztlich stimmte die ganze Clique zu, Isabell und Heike erst am Ende der Diskussion mit erheblicher Bedenkzeit. Dass Isabell bis zum Schluss wartete, bevor sie einwilligte, lag, wie ich vermute, eher an ihrer Wut auf mich, als an der zu beantwortenden Frage.
Auch Heike zögerte lange. Bei ihr gehe ich allerdings von grundsätzlichen Erwägungen aus. Für sie ist es vielleicht am schwersten, sich in einer Situation zu sehen, in der sie einem anderen Menschen Schmerzen zufügen muss, oder sogar seinen Tod zu verantworten hat. Heike ist sehr sanftmütig und überzeugte Christin. Beides hilft nicht bei einer Entscheidung, wie wir sie heute treffen mussten. Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht nur um einen selbst geht, sondern um eine ganze Gruppe.
Um sicherzugehen, dass wir möglichst nicht in die Verlegenheit kommen, unser noch zu erwerbendes Wissen einzusetzen, schlug ich vor, eine Art „praktizierte Unsichtbarkeit“ anwenden. Will sagen, dass wir lernen, uns zu tarnen, Bewegungen am Tage weitestgehend auf null reduzieren. Ist es erforderlich, sich zu einem anderen Ort zu begeben, setzen wir die Positionsänderung vor Sonnenaufgang oder nach Sonnenuntergang um. Wenn möglich besorgen wir uns weitere Tarnnetze (zwei gebrauchte Netze habe ich bestellt und eingelagert). Ansonsten gilt für uns beobachten, nachdenken, handeln. Wir sind definitiv aus dem Alter raus, wo wir uns wie Draufgänger gebären können, bzw. sollten.
So lautet der Plan, es klingt so kinderleicht, aber der kleine Stratege in meinem Kopf wies mich darauf hin, dass es so simpel wohl nicht werden wird.
In Gedanken gehe ich zu Miriam, was würde sie zu alle dem sagen? Wieder muss ich daran denken, dass wenn Miriam noch gelebt hätte, nichts von alledem passiert wäre. Ich frage mich, ob wir Himmelfahrt überhaupt überlebt hätten, die Wahrscheinlichkeit, dass das der Tag unseres gemeinsamen Todes gewesen wäre, ist hoch. Es ist anders gekommen. Ob das jetzt besser oder schlechter ist, kann ich nicht beurteilen. Ich bin bereit, alles zu versuchen, dass es gut werden wird, wobei „gut“ in diesem Zusammenhang wohl relativ zu sehen ist.


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