Der lange Abschied von uns selbst, oder wie wir wurden, was wir sind - Teil 14

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4.9 Der zweite Tag, die erste Katastrophe 15.06.2019

Auch wenn uns der vorige Tag fast getötet hätte, sind wir heute wieder raus. Gestern stellten wir uns dumm an, waren schlecht vorbereitet. Wir haben uns verhalten wie die Amateure, okay, wir sind Amateure. Was im Rahmen des heutigen Einsatzes geschah, hatte mit Dummheit nichts zu schaffen, sondern mit Bösartigkeit. Tags zuvor lernten wir, haben überlebt. Die Fehler, die wir gestern machten, werden wir nicht wiederholen. Auch heute haben wir gelernt, viel sogar, über uns und die, die mit uns am Leben blieben. Passiert so etwas nochmal, weiß ich nicht, ob wir das überstehen.
Wir brachen morgens um sechs auf, um dem Shopping Center südlich unserer Zuflucht einen Besuch abzustatten. Im Wald scheinen, aus welchem Grund auch immer, keine Wandler unterwegs zu sein. Wir probten eine Marschordnung, Isabell nahm die Führung, ich bildete die Nachhut. Wir bewegten uns aufgelockert, nicht mehr so zusammengeklumpt wie gestern. Auf dem Marsch unterrichteten Max und ich die anderen im Tarnen. Die ganze Gruppe hatte sich Tarnkleidung oder gedeckte Kleidung übergeworfen. Mit den Tarnstiften, die ich mitführte, verwischten wir die Konturen der Gesichter, verbargen unsere Hände. Michaela und Isabell trugen dünne, schwarze Lederhandschuhe.
Am Rand des Zentrumsgeländes, den wir nach einer guten Stunde erreichten, bot sich uns ein Bild der Verwüstung. Es lagen Überreste von Leichen und Kleidern auf dem Parkplatz. Wandler irrten auf dem Gelände herum. Viele Scheiben des Zentrums sind zerstört, mal liegt das Glas innen, mal außen. Insgesamt nicht überraschend, trotzdem kein schöner Anblick.
Wir hatten nicht vor, in den Komplex vorzudringen, bezweckten das Anschleichen und Beobachten zu üben. Ich plante, einen Plan zu machen, um in das Zentrum zu gelangen. Ob sich der Aufwand lohnen würde, konnte ich nicht abschätzen. Es hatte bereits zahlreiche Versuche von anderen Überlebenden gegeben, einzudringen. Davon erzählten die auf dem Parkplatz verstreuten Knochen und die Flecken auf dem Asphalt, wo Körperflüssigkeit ausgelaufen war. Die bemitleidenswerten Überbleibsel menschlicher Existenz gaben indes keine Auskunft darüber, ob es jemand geschafft und das Center leergeräumt hatte.
Michaela zählte die Infizierten, es befanden sich ca. 30 auf dem Parkplatz, einige verbargen sich auch im Zentrum selbst, wie viele insgesamt, erfassten wir nicht abschließend. Außer den Wandlern sahen wir noch vier Pitcher, erkennbar an der Körpergröße. Das bedeutete, nach unseren Erfahrungen und Beobachtungen von gestern, dass vermutlich innerhalb kurzer Zeit deutlich mehr von der Sorte auf diesem Parkplatz erscheinen würden.
Wir hatten uns am Waldrand abgelegt. Eine Drohne gehörte ebenfalls zur Ausstattung, zu steuern mit einem unserer iPads. Vom Einsatz des Gerätes sah ich indes ab, da ich nicht riskieren wollte, dass die Wandler anfingen, das Miniflugzeug zu verfolgen.
Gegen 07.00 Uhr kamen wir an und beobachteten das Gelände für knapp zwei Stunden. Ziemlich genau um 09.00 Uhr begann das Verhängnis des Tages seinen Lauf zu nehmen.
Auf einer Brücke zur Zufahrtsstraße erklang Musik. Laute, aggressive Klänge, Techno vom Feinsten. Ob die Darbietung wirklich so lärmend war oder nur durch die bis dahin herrschende, absolute Stille so gellend erschien, ich weiß es nicht.
Die Wandler und damit auch die Pitcher zog es jedenfalls in Richtung der Lärmquelle. Sie bewegten sich zuerst zögernd, dann immer schneller zur Tonquelle.
Das Einkaufszentrum liegt süd-westlich von meinem Haus, das bedeutete, dass wir nördlich des Hauptkomplexes lagen. Die Zufahrt, von der die Musik zu uns drang, lag östlich von uns, also zu unserer Linken. Rechts bemerkte Isabell auf einmal Bewegung. Eine Gruppe von Menschen kam aus dem Gebüsch, dass das Zentrum nach Westen von einer landwirtschaftlichen Fläche abgrenzte.
Es handelte sich um fünf Personen, eine Familie, wie ich vermutete, Vater, Mutter und drei Kinder bzw. Jugendliche, zwei Jungs und ein Mädchen. Auf die Entfernung das Alter einzuschätzen ist schwer, aber ich ordnete die beiden Jungen mit 14 vielleicht 15 Jahren ein. Das Mädchen schätzte ich knapp volljährig, die Eltern Anfang vierzig. Die Leute sahen nicht gut aus, blass, hungrig, die Kleider schienen schmutzig und zu groß zu sein, schlotterten an den Körpern. Sie versuchten, einen der zerstörten Einlässe zu erreichen.
Von Osten, unterhalb der Auffahrt auf der jetzt die Wandler herumirrten, rollten drei Autos heran, schnell, aber relativ leise. Sie hielten auf die Familie zu und erreichten die Gruppe, bevor sie es schafften, in dem offenen Eingang zu verschwinden. Aus den Fahrzeugen sprangen sechs Männer heraus, bewaffnet mit Maschinenpistolen und Sturmgewehren. Die Fremden packten die Frau und das Mädchen, fesselten ihnen die Arme auf den Rücken und warfen sie auf den Rücksitz eines Range Rovers.
Der Vater und die Jungen wurden gezwungen, sich vor die Fahrzeuge zu knien. Ihre Hände mussten sie hinter dem Kopf verschränkt. Vier der Typen drangen in das verlassene Einkaufszentrum vor, die anderen beiden blieben bei den Gefangenen.
Flüsternd beratschlagten wir unsere Handlungsoptionen. Ich fühlte mich ohnmächtig und ein Blick in die Gesichter meiner Freunde machte mir klar, dass es ihnen nicht besser erging. Wir hatten eine Walther PPK, Airguns, Armbrüste und Compoundbogen dabei. Es gab keine realistische Chance auch nur annähernd an die Fremden heranzukommen und den Gefangenen zu helfen. Die Distanz zur Gruppe betrug ca. 500 Meter. Das gab zumindest der Rangefinder an, den ich mitschleppte.
Nach ca. 30 Minuten kamen die Marodeure aus dem Einkaufszentrum zurück. Sie hatten vier Einkaufswagen voll mit Lebensmitteln, Kleidung und anderem Material bei sich. Die „Einkäufe“ verstauten sie in einem der Wagen. Einer von ihnen stellte sich hinter den Mann, den ich für den Vater hielt. Der Gefangene redete unablässig auf die Gruppe ein, genutzt hat es ihm nicht. Der Fremde zog ein Messer, sagte noch etwas, dann stieß er ihm die Klinge in den Rücken. Die zwei Jungen ermordete er auf die gleiche Art. Der Größere von den beiden versuchte aufzuspringen, eine Chance hatte er nicht. Die Mörder lachten, stiegen in ihre Fahrzeuge und verschwanden in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Musik ließen sie weiterspielen.
Wir starrten entsetzt und gelähmt auf die Szene. Ja, wir hatten Gewalt über das Internet gesehen, sie wurde im Fernsehen übertragen. Unmittelbar dabei zu sein, ist etwas anderes. Insbesondere setzt uns unsere offensichtliche Hilflosigkeit zu. Die Gewissheit, nichts ausrichten zu können, außer den eigenen Tod zu befördern, versucht man zu helfen, ist schwer erträglich. Über das Schicksal der beiden Frauen mache ich mir keine Illusionen.
Da die Männer bei ihrem Verschwinden dafür sorgten, dass die Wandler auf der Brücke blieben, beschlossen wir, das Einkaufszentrum zu untersuchen. Wir hatten ein furchtbares Verbrechen miterleben müssen, eine Chance, die sich präsentiert, konnten wir indes nicht ungenutzt verstreichen lassen. Das Risiko schien uns akzeptabel.
Man darf nicht vergessen, es gibt weder Lebensmittelindustrie noch Bauern, keine Bäcker oder Kosmetikhersteller mehr. Was weg ist, ist weg – und wird vielleicht nie wieder ersetzt werden. Auch die Haltbarkeit von Waren ist natürlich begrenzt. Es ist wichtig, zu nehmen, was man kriegen kann. Wir teilten die Gruppe, Isabell, Max, Michaela und Katharina kehrten zurück zum Haus, um den Van und den Leaf zu holen. Sie kennen den Weg zur Mall. Ob ein Durchkommen gelingen würde, konnten wir auf die Schnelle nicht einschätzen. Falls es nicht klappte, sollten sie uns über den Postillion informieren. Wenn die Kontaktaufnahme nicht gelang, vereinbarten wir, dass wir spätestens nach 90 Minuten das Einkaufszentrum verlassen und zum Haus zurückkehren.
Friedrich, Heike und ich näherten uns dem Gebäudekomplex. Dazu folgten wir dem Waldrand und dem Gebüsch bis zu der Stelle, von der die Familie ihren Spurt zum Center antraten, um auf demselben Weg zum Einkaufszentrum zu gelangen.
Heike warf beim Näherkommen einen Blick auf die Leichen der Fremden. Der Mann lebte noch, womit keiner von uns gerechnet hatte. Er musste viel Blut verloren haben, sprechen ging nicht mehr. Sie kniete sich zu ihm, zog den Oberkörper des Sterbenden auf ihre Schenkel, um ihm die Atmung zu erleichtern. Mit einem Stöhnen quittierte er ihre Bemühungen. Seine Hand hielt sie fest, bis er starb.
Friedrich und ich prüften wie es um die Jungs stand, doch da kam jede Hilfe zu spät. Danach warteten wir einfach nur, blickten zu Heike. Sie streichelte das Gesicht des Fremden, Tränen rannen ihr über die Wangen. Zum ersten Mal für uns alle, kamen wir dem Tod eines Menschen so nahe. Nichts in der Welt kann einen darauf vorbereiten. Und wir sind nicht mal ansatzweise vorbereitet.
Nach seinem letzten Atemzug trugen Friedrich und ich ihn und die beiden Jungs zu einem Ahorn und legten sie im Schatten des Baumes ab. Mehr konnten wir für die drei nicht tun. Beim Ablegen der Leiche des Mannes bemerkte Friedrich eine dieser Bauchtaschen, die man häufig bei Touristen sah. Darin steckten die Pässe der Familie, einige Fotos und ein Taschenmesser. Die Mutter hieß Franziska, der Vater Gustav, die Söhne Max und Moritz. Unter anderen Umständen hätte man darüber vielleicht gelächelt, wir wirkten, als ob uns die Luft aus den Lungen gesaugt worden wäre. Der Name der Tochter lautete Sarah.
Mir fällt auf, dass ich von der Frau und dem Mädchen in der Vergangenheit schreibe. Ich hoffe, dass ich Recht damit habe, eine Zukunft für die beiden dürfte nicht vielversprechend sein. Die Tasche hat Friedrich mitgenommen.
Schließlich lösten wir uns aus der Erstarrung und betraten das Einkaufszentrum. Schummriges Licht kam vor allem von den Eingangsbereichen und den Oberlichtern, weitere Fenster gab es nicht, wie bei diesen Gebäudekomplexen üblich. Heike und ich sicherten nach vorn, Friedrich deckte den hinteren Bereich. Das Zentrum lag in vollkommener Stille. Nahe am Einlass fanden wir die Leichen von drei Wandlern. Sie wiesen Stichspuren in den Köpfen auf. Die Eindringlinge nutzten keine von ihren Schusswaffen, was für eine gewisse Cleverness spricht.
Es gab auf der rechten Seite des Eingangs einige Schnellimbiss-Restaurants, die wir nicht weiter beachteten. Durch den Ausfall der Stromversorgung kann man frische Lebensmittel getrost vergessen. Bekleidungsgeschäfte sind, langfristig gesehen, nicht uninteressant, stehen jedoch momentan nicht ganz oben auf der To-do-Liste. Nahrung und Medikamente sind wesentlich. Es gab eine Apotheke im Zentrum, aber da mussten wir feststellen, dass Andere vor uns wohl ähnliche Prioritäten pflegten. Wir packten das Wenige ein, was rumlag, leerten das Geschäft endgültig.
Der große Supermarkt bot ein Bild der Verwüstung, in der Zerstörung fanden sich jedoch überraschend viele Dinge, die noch zu gebrauchen sind. Nachdem wir sichergestellt hatten, dass sich bis auf uns niemand in dem Laden aufhielt, schnappten wir uns drei Einkaufswagen und sammelten, was in den Regalen stand oder auf dem Boden herumlag.
Was wir vor allem benötigten, sind Artikel für Frauenhygiene. Ich habe zwar einiges auf Halde gelegt, mit dem tatsächlichen Verbrauch allerdings nicht gerechnet. Da wir einen deutlichen Frauenüberschuss aufweisen, ist der Bedarf entsprechend. Im Verkaufsraum fand sich nach den Plünderungen nicht mehr allzu viel. Der Lagerbereich erwies sich als weitgehend unberührt. Kam mir merkwürdig vor, beschweren wollte ich mich darüber allerdings nicht. Im Lager stand, palettierte Ware, darunter auch Hygieneartikel, Lebensmittel und Gummibärchen in verschiedenen Geschmacksrichtungen und Farben, alles originalverpackt. Leider ist kein Lastwagen verfügbar, so dass wir uns auf das absolut Notwendige beschränkten. Wir haben mehrere Paletten mit einem Elektro-Stapler zur Seite gefahren und einigermaßen versteckt. Die wollen wir holen, falls sich die Chance dazu bietet.
Wir hielten uns im hinteren Teil des sterbenden Konsumtempels auf, als sich die Transportgruppe über den Postillion meldete. Mit den Fahrzeugen parkten sie vor dem Eingang. Isabell und Michaela kamen in den Supermarkt. Wir besprachen kurz das weitere Vorgehen.
Sie berichteten von der Anfahrt zum Einkaufszentrum. Das letzte Stück auf der Kreisstraße stellte eine fahrtechnische Herausforderung dar. Die Straße erwies sich als nicht komplett zugestaut, dafür fanden sich Wandler in der Gegend. Bedingt durch die geringen Geräuschemissionen der E-Fahrzeuge, reagierten die Wesen jedoch nicht auf die Wagen.
Warum sie anscheinend primär auf Geräusche reagieren und nicht so sehr auf Bewegung wäre auch mal eine Feldstudie wert. Die Beantwortung dieser Frage wird wohl warten müssen.
Zwei Transportpaletten bewegten wir zum Eingang und wuchteten sie in den Evalia. Eine davon mit Hygieneartikel, die Zweite mit Essen. Der Ausflug hat sich eindeutig gelohnt und die Auswahl des Kleinbusses erwies sich als goldrichtig. Der Laderaum fasste die beiden Europaletten. Die letzte stand zwar etwas raus und die Zuladungsgrenze dürften wir ebenfalls locker gerissen haben. Das Positive am völligen zivilisatorischen Zusammenbruch ist, dass man die Polizei nicht mehr fürchten muss.
Die Paletten parkten bereits im Evalia und der Leaf hatte ebenfalls schon einiges an Ladung geschluckt, als die Musik endete – kein gutes Timing. Die Wandler begannen in Richtung Einkaufszentrum zu strömen, warum, erschloss sich mir nicht, da wir sehr leise arbeiteten.
Die Pilotenlizenzen gingen an Max und Heike. Sie schwangen sich hinter die Lenkräder und warteten auf die Freigabe durch Isabell oder mich. Wir schmissen in den Lieferwagen, was noch rumstand, und dann rauschten die beiden los.
Ich hatte die Idee gehabt, den Trick der anderen zu kopieren und im Elektroladen ein Musiksystem herausgesucht, das sich mit einer Fernbedienung an- und ausstellen ließ. Da ich mir nicht sicher sein konnte, wie sich die Wandler verhalten würden, wollte ich vorbereitet sein und platzierte das Gerät im Eingangsbereich. Anschließend folgte ich dem Rest der Gruppe, die im Gebüsch auf mich warteten.
Auf dem Weg zu den anderen, schaltete ich das Soundsystem ein. Die Wandler wandten sich zügig dem Eingang des Centers zu. Sie ergossen sich teilweise in das Innere des Komplexes. Das Prinzip Lärm für Aufmerksamkeit funktioniert sehr gut. Zur Beschallung wählte ich eine CD von AC/DC, die konnte ich zwar noch nie ausstehen, „Highway to hell“ erschien mir für den Kontext mehr als passend. Ich plante, die Wandler am Eingang zu konzentrieren um so die Haltbarkeit, der darin befindlichen Lebensmittel und anderer Waren zu erhöhen.
Der Rückmarsch gestaltete sich erfreulich unauffällig, wir sahen keine Fremden und niemand bemerkte uns. Die beiden Autos erreichten die Homezone kurz vor uns. Die Fahrt zurück verlief ebenfalls ohne Zwischenfälle. Das Gefühl, mit einem Wagen über die Straßen zu fahren, vorbei an Unfällen, Toten, Wandlern und liegengebliebenen Fahrzeugen erwies sich, nach Aussage von Max und Heike, als sehr belastend, was Isabell bestätigte.
Nachdem Ausladen und dem Versorgen der Autos, rotteten wir uns in der Küche zusammen, machten Kaffee. Max und Tom schnappten sich ein Bier. Wir analysierten den Tag. Die Anspannung und der Horror steckten uns in den Knochen. Vor allem das Schicksal der beiden Frauen bewegte uns. Einigkeit herrschte darüber, dass es für uns keine Chance bestand, ihnen zu helfen. Dennoch fühlt es sich falsch an nur zu beobachten.
Michaela hatte ihre Spiegelreflex-Kamera dabei gehabt und die ganze Aktion fotografiert. Wir betrachteten die Fotos auf dem Fernseher in der Küche, die Bilder erschütterten uns erneut. Andererseits kannten wir die Gesichter der Angreifer, ihre Autos und Waffen. Sie sind sechs, wir sind neun, wir haben sie gesehen, sie uns nicht.
Bei der Besprechung wurde mir klar, wie stark die Gruppe unter dem zu leiden hatte, was wir mit ansehen mussten. Die Fremden auf dem Bildschirm scheinen so normal. Der Mörder, des Vaters und seiner Söhne, wirkt sehr sympathisch. Ich schätze ihn auf Anfang dreißig, die übrigen auf Mitte bis Ende ihrer Zwanziger.
Michaela stellte fest, dass es nicht unbedingt zu einer Abfuhr gekommen wäre, wenn ihr der Killer vor einem Monat einen Drink hätte spendieren wollen.
Die Bande wirkt gut genährt, die Kleidung sieht ordentlich aus, im Gegensatz zu ihren Opfern. Die Fremden machten auf mich den Eindruck, als wüssten sie, was sie tun. Die Idee mit der Musik ist genial, wir sind da bislang noch nicht drauf gekommen, adaptierten den Gedanken jedoch schnell und erfolgreich.
Die Kennzeichen ihrer Autos sind aus der Hauptstadt und dem Umland, das muss allerdings nichts bedeuten. Die Fahrzeuge können sie sich ja auch so gegriffen haben. Bei den Wagen handelte es sich um einen 7er BMW, eine S-Klasse und einen Land-Rover Discovery. Der BMW und der Mercedes wurden ursprünglich in Berlin zugelassen, der Geländewagen in Potsdam.
Beim Betrachten der Bilder liefen die Stationen dieses Tages nochmals vor meinem inneren Auge ab. Der Marsch verlief deutlich besser als am Tag zuvor. Das Beziehen der Beobachtungsposition ließ nichts zu wünschen übrig. So wie wir unter Stress kamen, fingen die Fehler an.
Heike, die sich um den sterbenden Mann kümmerte, Friedrich und ich stehen im hellen Sonnenschein daneben. Wir haben nicht gesichert, suchten keine Deckung. Später als wir das Center verließen, sicherten zwar Max und Michaela, die Autos jedoch funkelten in der Sonne, sauber wie immer. Der Evalia ist in einem blendenden Weiß ebenso wie der Leaf. Da können wir auch gleich mit Blaulicht und Martinshorn durch die Gegend fahren. Das darf so nicht bleiben.
Nachdem ich der Gruppe meine Beobachtungen mitgeteilte, meinte Isabell, ob ich mir nicht zu viele Gedanken machen würde, wir seien ja nicht im Krieg.
Max und Heike widersprachen. Insbesondere Heike scheint sich der Tag heute eingebrannt zu haben, sie hielt einem Sterbenden die Hand. So etwas vergisst man nicht.
Wir einigten uns darauf, die Sackgasse morgen zu sichern. Danach nehmen wir uns zwei bis vier Wochen Zeit, um intensiv zu trainieren. Nebenbei klären wir noch die Häuser an der Stichstraße und pflanzen die Gärten ein. Damit sind wir ausreichend beschäftigt. Weitere Ausflüge ins Umland finden später wieder statt. Das ist zwar schlecht, was die Vorräte angeht, aber die besten Bestände nutzen uns nichts, wenn wir beim Sammeln sterben oder in Gefangenschaft geraten.
Sorgen bereiten mir die Fahrzeuge. Der Gedanke, dass es nötig werden könnte, die Autos umzulackieren, kam mir nicht, Farben kaufte ich demzufolge keine. Ich hatte es ja befürchtet, dass ich naheliegende Dinge vergesse. Dass mir das schon am zweiten Tag, an dem wir unterwegs sind, um die Ohren fliegt, hiervon bin ich nicht ausgegangen. Der kleine Stratege in meinem Kopf ist schwer geknickt.
Ebenso benötigen wir mehr und andere Waffen. Noch eine Baustelle, die warten muss. Momentan sind wir meilenweit davon entfernt, uns mit der Welt da draußen einzulassen und zu versuchen, jemanden seine vollautomatische Schusswaffe wegzunehmen. Die Sache mit dem einen guten Schuss und schon habe ich ein Sturmgewehr, klang damals, wie ich es aufschrieb bereits simpel. Die Realität hat die Vorstellung heute endgültig in die Fachrichtung „Wunschdenken“ bzw. „Größenwahn“ verwiesen.
Mit der Schuld, denen die Hilfe gebraucht hätten, nicht geholfen zu haben, werden wir leben müssen. Dennoch, trotz aller Mängel und offensichtlicher Fehler, überlebten wir, haben gelernt und, in bestimmten Sparten, demonstrierten wir überdies eine Art von Überlegenheit. Die Fahrzeuge, die wir nutzen, sind zweckdienlich, das Vorgehen ist methodisch und wir nutzten die Chance unsere Vorräte nochmals aufzustocken. War dieser Tag jetzt gut oder schlecht?
 
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