Der lange Abschied von uns selbst, oder wie wir wurden, was wir sind - Teil 19

Klappentext mit Inhaltsverzeichnis
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4.14 Debriefing 18.07.2019

Der heutige Tag gestaltete sich ruhig. Die Ereignisse von gestern sind längst noch nicht aufgearbeitet. Ob der vorangegangene Tag als guter Tag in Erinnerung bleiben wird, hat sich heute ein Stück weit entschieden. Wir haben gekämpft und gewonnen, wir haben getötet und so eine Erfahrung gemacht, auf die wir nicht vorbereitet sind. Wie sollten wir uns darauf vorbereiten? Ich hatte befürchtet, dass es geschieht, dass es so bald passiert, damit hatte ich nicht gerechnet. Vom Ausmaß möchte ich gar nicht reden. Andererseits, hätte es wirklich einen Unterschied gemacht, wenn wir in sechs Monaten das erste Mal dazu gezwungen worden wären zu töten? Ich glaube nicht.
Vielleicht, so führte Isabell an, hilft es, den Standpunkt zu wechseln. Wir trafen eine Entscheidung, Menschen in Not zu helfen. Niemand hat uns dazu gezwungen. Mit den Konsequenzen dieses Entschlusses müssen wir klar kommen. Immerhin agierten wir als Gruppe und Gemeinschaft, alle wissen alles, wer, warum, wie, wo was getan hat. Wir sind nicht alleine mit den Gedanken, Gefühlen oder Ängsten, die wir mit dieser Situation verbinden. Die Gefangenen haben ihre Traumata aufzuarbeiten, wir schultern unsere Bürde.
Ich sprach heute lange mit Katharina und Michaela. Berufsbedingt kennt sich Katharina ein wenig mit Belastungssituationen und Coping aus, auch Michaela hat Kenntnisse, die sie im Rahmen ihres Sportstudiums erworben hat. Den Ansatz, darüber zu reden, bezeichneten beide als richtig, was weiter geschieht, wird die Zeit zeigen. Wichtig ist auch, keinen zurückzulassen, darauf zu achten, dass alle sprechen. Das hat bislang geklappt.
Mit den Neuen fingen wir heute an. Wir baten sie, zu einer Besprechung dazu, boten ihnen an, über ihre Erlebnisse zu reden. Ein Angebot, von dem niemand Gebrauch machte. Sarah durfte nicht, Benedikt und Lewin wollten nicht. Franziska haute uns, und besonders mir, um die Ohren, dass sie es begrüßt hätte, wenn wir damals, am 15.06. mehr getan und weniger geredet hätten.
Mich nerven die Vorhaltungen von Franziska, die anderen Neuzugänge wirkten sichtlich verunsichert. Sie scheinen sich nicht schlüssig, ob es clever ist, den Leuten, die einem gerade gerettet haben, so ans Bein zu pissen.
Isabell nervte es genauso wie mich und sie versuchte gar nicht erst, das zu verbergen. Sie ging Franziska frontal an. Unwirsch wies sie darauf hin, dass wir nicht Möglichkeit hatten, ihrer Familie zu helfen. Punkt, Aus, Ende. Es lag für uns auch nicht die Notwendigkeit vor, unser Leben für völlig Fremde zu riskieren. Sie verdeutlichte, dass sie jederzeit wieder so entscheiden würde wie an diesem 15. Juni. Die, die das Elend zu verantworten hatten, waren Siggi und seine Kumpane, niemand sonst. Falls sie ein Problem mit uns hatte, stand es ihr frei, zu gehen. Keiner von uns würde sie aufhalten.
Die Panik in Sarahs Gesicht bei dem Gedanken wieder da draußen zu sein, konnte ich deutlich sehen. Das entging auch Franziska nicht. Sie schluckte die Erwiderung runter, die sie definitiv von hier weggeführt hätte. Für ihre Tochter verbannte sie den Hass, den sie auf uns projizierte nach innen. Ob er da drin bleibt und was das mit ihr auf Dauer macht, da bin ich mir nicht sicher. Trauen werde ich ihr nicht. Dafür ist sie mir zu renitent und zu anmaßend.
Die beiden Teenager sind Geschwister, Sina und Tobias, ihre Eltern sind in Berlin gestorben. Sie hatten die Gefangennahme durch Siggis Männer überlebt, weil sie in ihrer Freizeit viel bei den Maltesern im Sanitätsdienst arbeiteten. Sina ist achtzehn und absolvierte im Februar ihre Prüfung zur Rettungssanitäterin. Ihr Abitur legte sie im Frühjahr ab. Eigentlich wollte sie Medizin studieren. Tobias ist ein Jahr jünger und verfügt ebenfalls über die Ausbildung zum Rettungssanitäter. Kurz nach Himmelfahrt hatten sie sich aufgemacht aus Berlin herauszukommen. An manchen Tagen kamen sie nur ein oder zwei Kilometer voran. Oft lagen sie stundenlang unter Fahrzeugen, versteckt in geplünderten Läden wo immer sie Schutz fanden. Darauf warteten, wieder weiter zu kommen. Wandler, Plünderer und Marodeure machten es fast unmöglich, aus der Stadt zu entkommen. Nachdem sie die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatten, wanderten sie langsam in Richtung Westen. Die meiste Zeit versteckten sie sich, huschten von einem Haus zum nächsten, plünderten an Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs, was sie finden konnten. Den Kontakt zu anderen Menschen vermieden sie schon fast panisch. Bis sie gestern Vormittag von Siggis Männern in einer geplünderten Tierarztpraxis gefunden wurden.
Die Bande benötigte medizinische Güter, um ihrem Anführer zu helfen. Ursprünglich planten sie, nur Sina mitzunehmen. Da Tobias ebenfalls die Rettungssanitäterausbildung hatte, ließen sie ihn, zumindest vorläufig, leben. Sie hatten zwar keine medizinische Ausrüstung gefunden, aber immerhin zwei Leute, die sich mit der Materie auskannten. Der Rest, ist Geschichte.
Wir boten allen an, sich uns anzuschließen. Diesen Beschluss trafen wir, bevor wir die Neuen zur Besprechung dazu holten. Nur bezüglich Franziska gab es divergierende Ansichten, sie akzeptieren wir nur wegen Sarah. Obwohl, akzeptiert ist sie gar nicht, nur geduldet, das ist ein großer Unterschied. Die Reaktionen fielen sehr verhalten aus und es dauerte, bis die Gruppe zustimmte zu bleiben.
Nach der Besprechung absolvierten wir ein Lauftraining, übten Stock- und Messerabwehr sowie schießen mit den Armbrüsten und Bögen. Vor allem Vanessa trainierte hart und konnte zum Ende der Trainingseinheit bereits gut mit beiden Waffen umgehen. Der Fitnesslevel der Neuen liegt deutlich unter unserem, obwohl der Vorsprung über den wir verfügen, nur vier Wochen beträgt.
Den Nachmittag und Abend verbrachten wir in den Gärten. Auch wenn wir nicht viel Erfahrung in dem Bereich haben, das, was wir bis hierher erreichen konnten, ist ermutigend, zumindest teilweise.
Auch in dieser Disziplin wird uns nichts geschenkt. Alles ist harte Arbeit, aber daran haben wir uns mittlerweile gewöhnt. Den Abschluss verbrachten wir wieder zusammen am Grillplatz im Nachbarhaus. Durch eine hohe Hecke ist der Garten hinter dem Haus nicht einzusehen und über der Feuerstelle ist ein Dach mit Rauchabzug, was den Feuerschein reduziert.
Es tat gut, mit den Freunden zusammenzusitzen, zu reden und, gelegentlich sogar zu lachen. Nur Franziska, ging mir wirklich auf den Wecker, sie hockte etwas abseits, kaute lustlos an ihrem Essen, sprach nicht, trank wenig, wirkte wie eine einzige, personifizierte Anklage.
Beim Auflösen der Runde, fragte mich Katharina, ob Franziska eigentlich vom Grab ihrer Söhne und ihres Mannes wusste, was ich verneinte.
Die Büchse der Pandora zu öffnen widerstrebt mir zutiefst. Ich weiß, irgendwann muss ich bzw. müssen wir es ihr sagen, aber heute nicht mehr und, wenn es nach mir geht auch morgen nicht.
Katharina sprach noch einen anderen Aspekt an, nämlich, ob wir eine Art provisorisches Krankenhaus einrichten sollen.
Ich finde die Idee gut, eine passende Örtlichkeit haben wir noch nicht im Blick. Da wir es nicht sofort brauchen, verständigten wir uns darauf, mit der Planung zu beginnen und die dafür notwendige Ausrüstung Stück für Stück zusammenzutragen.


4.15 Eskalation 19. / 20.07.2019

Vorgestern, nach dem ich meine Eintragungen beendet hatte, war ich fertig, aber nicht müde. Mit einem Glas 1996 Ben Nevis trat ich auf die Terrasse und starrte zum Firmament. Ein klarer, von Sternen übersäter Himmel, die Erde darunter in völliger Finsternis.
Ich weiß nicht, wie das Leben von Ihnen ist oder sein wird. Ich genieße noch die Früchte einer untergegangenen Welt. Der Duft und die Wärme des Whiskys, die Explosion von Geschmacksnuancen in meinem Mund bei jedem Schluck legten beredtes Zeugnis davon ab.
Erfreuen Sie sich an dem, was wir geschaffen haben? Oder hinterließen wir nur Müll, Trümmer und Leichen?
So einsam und verlassen wie in diesem Moment habe ich mich noch nie gefühlt. Es ist nichts mehr da, was immer mal war, es ist weg. Nur wir sind übrig, wie aus der Zeit gefallen.
Leider ist man nicht alleine aus der Zeit gefallen. Anders ausgedrückt, man hatte keinen Einfluss darauf, wer sonst so mitgefallen ist. Zum Beispiel hätte ich Franziska nicht unbedingt gebraucht.
Gestern, am 19. Juli ging der Zauber wieder los. Warum sie sich ausgerechnet auf Giulia stürzte, die ja doch ein sehr freundliches Naturell besitzt, weiß ich nicht.
Jedenfalls beschimpfte sie die Arme und warf ihr vor, dass wir uns Nichteinmal um die Leichen ihrer geliebten Söhne gekümmert hätten. Von ihrem Mann sprach sie interessanterweise gar nicht.
Sie erzählte davon, wie schön sie waren, wie begabt und beliebt. Kurz, Gottes Geschenk an die Menschheit und wir hatten es versaut. Nichteinmal ein Begräbnis wäre ihnen zu Teil geworden.
Giulia meinte, sichtlich konsterniert, dass das so nicht korrekt sei, der Mann und die Jungs seien geborgen und ordentlich begraben worden, was ja den Tatsachen entspricht. Einzig ihr hatte es bislang niemand mitgeteilt.
Wie pflegen die Amerikaner in einem solchen Fall zu sagen? „Das war dann der Moment, in dem die Scheiße den Ventilator traf.“
In dem Augenblick, in dem Franziska mitschnitt, dass wir wussten, wo die Leichen ihrer Söhne sich befanden, verlor sie den letzten Rest Contenance. Mittlerweile hatte sich vor die ganze Gruppe vor ihrem Haus versammelt. Dankenswerterweise hielten Benedikt und Lewin die Rasende zurück, bevor sie auf Giulia losgehen konnte.
Nachdem sich Franziska zumindest optisch wieder beruhigt hatte, fragte Isabell, warum sie so war, wie sie war. Sie anerkannte den Schmerz der Frau, aber andererseits, sie hatte noch ihre Tochter.
Kein gutes Stichwort. Ich habe noch nie eine Mutter so vergiftet über das eigene Kind reden hören. Dass es das gibt, ist mir bekannt. Bislang wurde ich nur noch nie Zeuge davon und ich hoffe aufrichtig, dass ich nie wieder bei so etwas zugegen sein muss.
Franziskas vertrat lauthals die Auffassung, dass Sarah niemals das Zeug haben würde, ihre Brüder zu ersetzten. Sie konnte ihnen nicht das Wasser reichen, als sie noch lebten, jetzt, nach ihrem Tod, schienen die Chancen nicht besser geworden zu sein. Sarah sei schwach, ein Klotz am Bein und zu nichts zu gebrauchen. Nichts auf dieser Welt könne den Verlust ihrer Söhne ausgleichen, am wenigsten ihre Tochter.
Wir ließen es gut sein, Max sammelte ein Team zusammen und nahm die rasende Mutter mit zur Grabstelle auf der Waldlichtung. Die Gruppe sicherte, während Franziska am Grab trauerte. Was genau sie dort tat, weiß ich nicht. Max und die übrigen sprachen nicht darüber. Ich fragte nicht, da mich nichts, was mit dieser Frau in Zusammenhang steht, interessiert.
Nachdem sich der Auflauf zerstreut hatte, lief ich alleine die Straße entlang, um die Barriere zu überprüfen. Ich benötigte etwas Zeit, um meinen Kopf freizubekommen. Wie ich zurückkam, sah ich Sarah auf einer Bank im Garten des Nachbarhauses sitzen. Nicht zu sehen von dem Haus, vor dem die Szene stattgefunden hatte. Besorgt fragte ich mich, wie lange das Mädchen dort schon saß. Ich hoffte inständig, dass sie nicht die gesammelten Hässlichkeiten, die ihre Mutter über sie ausschüttete, mitanhören musste.
Ich weiß nicht viel von Sarah, aber sie scheint in Ordnung zu sein. So okay jemand sein kann, der gezwungen war in einer Nische aufzuwachsen und zu existieren. Ihre Brüder und vor allem ihre Mutter ließen ihr nicht mehr Raum, falls überhaupt so viel. Sie blickte zu mir auf, als ich mich näherte. In ihrem Gesicht erkannte ich die Spuren von getrockneten Tränen.
Auf die Frage, ob ich Platz nehmen dürfe, antwortete sie mit der Gegenfrage, ob es wesentlich sei, was sie wolle.
Für mich schon, erwiderte ich und drehte mich um, damit sie alleine sein konnte. Vielleicht brauchte sie Zeit für sich.
Ich hatte den Garten fast verlassen, sie darum bat, dass ich zurückkomme.
Wir saßen lange schweigend nebeneinander. Sarah brach schließlich die Stille. Sie fragte, was ich bei ihr wollte, wo sie doch zu nichts zu gebrauchen sei.
Mit einer Antwort ließ ich mir Zeit, versuchte, damit eine Türe in eine Zukunft zu öffnen. Schließlich antwortete ich ihr, dass alles, was vor Himmelfahrt war, keine Bedeutung mehr besaß. Das Einzige was zählt, ist dass, was heute ist.
Ich anerkannte, dass ihre Startbedingungen schlecht waren und die Zeit in Gefangenschaft ihr zugesetzt hatte. Zuzugeben, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie sie diese Wochen erlebte, fiel mir leicht. Offensichtliches zu erkennen und anzusprechen macht mir, auch bei schwierigen Dinge, nie Probleme.
Dennoch, sie lebt, sie ist hier bei uns und wenn sie das möchte, wird sie dazugehören. Jetzt, wo die meisten derer tot sind, die sie früher begrenzt und eingeengt haben, erhält sie die Chance, ihr Leben nochmals neu zu denken. Ich attestierte ihr Potential, welches ich durchaus in ihr sehe. Sie ist jung, sprachgewandt und ist an ihrer Umwelt interessiert.
Eine Antwort erhielt ich keine von ihr, ist aber auch nicht schlimm. Das Angebot steht, ob sie es annimmt oder ablehnt, liegt bei ihr.
Vanessa gesellte sich zu uns auf die Bank, so dass Sarah zwischen uns saß. Die Gehässigkeiten, die Franziska vorhin von sich gegeben hatte, waren bei ihr ebenfalls noch präsent. Sie legte den Arm um die Jüngere. Nach einer ganzen Weile ließ das Mädchen den Kopf gegen die Schulter der Älteren sinken.
Die beiden Frauen sprachen zum ersten Mal über die Zeit, die sie gemeinsam in Gefangenschaft verbringen mussten. Sarah erzählte, wie sie Vanessa bewunderte, wie sie sich verhielt, beim Erscheinen der Männer. Sie gestand ihre Furcht, wenn die Wahl trotz Vanessas Verhalten auf sie fiel. Sie schämte sich dafür erleichtert zu sein, wenn es Vanessa oder ihre Mutter traf.
Ein Gefühl, das die Ältere kannte, da sie ebenso empfand. Sie verhielt sich vielleicht proaktiv, das änderte aber nichts daran, dass auch sie die Situation als unerträglich wahrnahm.
Ich saß die ganze Zeit dabei, ohne etwas zu sagen, beobachtete, wie die beiden Mädchen ihre gemeinsamen Erlebnisse aufarbeiteten. Für den Mut und die Offenheit bewundere ich die zwei. Ob es hilft? Ich hoffe, reden nützt meistens, aber nicht immer. So paradox es klingt, vielleicht helfen die Umstände den beiden.
Die, die ihnen das antaten, sind tot. Früher hätten die Männer überlebt. Wenige Jahre, wenn überhaupt so lange, und sie wären wieder frei gewesen. Der Wiederaufnahme ihres vorherigen Lebens hätte nichts im Wege gestanden. Das Opfer hingegen musste sich immer mit „lebenslang“ arrangieren.
Dass, was geschehen ist, können auch wir nicht ungeschehen machen. Aber es ist uns möglich, sie auf den ersten Schritten in ein neues Leben zu begleiten. Vorausgesetzt, sie können und wollen laufen.
Nach dem Gespräch bin ich etwas zuversichtlicher, dass es weitergeht. Die Mädels kamen darin überein, dass sie sich zusammen ein Haus nehmen und gemeinsam wohnen und leben werden, Sarah wird sich von ihrer Mutter trennen.
Als die beiden ansprachen, es handelte sich eher um eine Information über eine getroffene Entscheidung, als um irgendetwas anderes, eskalierte die Situation zum zweiten Mal an einem Tag.
Flüche und Beschimpfungen wurden von Franziska in Richtung der jungen Frauen geschleudert, bis es Isabell reichte und sie der Mutter eine schallende Ohrfeige versetzte.
In der darauf eintretenden, atemlose Stille wies Isabell die WG-Gründerinnen an, sich von Tom ein anderes Haus zuzuweisen zu lassen und ihre Sachen dorthin zu bringen.
Franziska bekam von Isabell eine einfache und klare Ansage. Entweder sie reißt sich zusammen oder sie wird uns verlassen. Falls von ihr nochmals ein solcher Ausbruch kommt, sollte sie noch einmal einen von uns beschimpfen, würde sie gehen. Franziska hielt sich die Wange, wo Isabell sie getroffen hatte, starrte sie an und drehte sich dann abrupt um und ließ uns stehen.
Die Frage von Heike, ob sie verstanden hatte, was Isabell ihr sagte, war eher an uns gerichtet als an sie.
Wir hatten an diesem Tag keine Lust mehr, uns noch mit irgendetwas auseinanderzusetzen, also machten wir Schluss, die beiden Mädels zogen in das Haus der Petersens, das mit dem Solar-Grid verbunden ist. Es ist ein Zweifamilienhaus und das Größte in der Straße. Wir entschieden, dass Max, Heike, Katharina und Michaela ebenfalls dort einziehen. Das Haus ist auf dem Gewölbe eines ehemaligen Bauernhofes erbaut. Wir planen, die meisten Vorräte, die wir bis jetzt gesammelt haben in dem Keller einzulagern.
Ich hatte gestern nicht einmal mehr Lust, mein Tagebuch zu führen.

Der heutige Tag fing so gruselig an, wie der Gestrige aufgehört hatte. Lewin kam zu mir, kurz nachdem ich wach geworden war, und meinte, wir hätten ein Problem.
Ich hasse Tage, die mit den Worten „wir haben ein Problem“ anfangen.
Franziska war unauffindbar. Gestern verschwand sie in ihrem Haus, das hatte Lewin beobachtet. Als er sie heute Morgen besuchen wollte, um zu sehen, wie es ihr ging, fand er das Gebäude verlassen vor. Das Bett schien unberührt.
Sechs von uns stellten Marschbereitschaft her und begaben uns dahin, wo ich (und die anderen) sie am ehesten vermuteten, zum Grab ihrer Söhne. Dort fanden wir sie auch. Mit aufgeschnittenen Pulsadern, lag sie tot auf der Erde. Fassungslos starrten wir die Leiche an.
Neben ihr lag ein Brief, beschwert mit einem Stein, an Sarah gerichtet. Giulia hob ihn auf und gab ihn dem blassen Mädchen. Sie stand bewegungslos am Grabhügel ihrer Brüder und blickte auf die Leiche ihrer Mutter. Als sie ihr den Brief gab, nahm sie ihn und zerriss ihn in vier Teile, warf die Schnipsel auf ihre Tote, drehte sich um, stapfte zurück zur Homezone.
Auf mein Zeichen folgten ihr Giulia, Vanessa und Lewin. Wir anderen beratschlagten, was weiter geschehen sollte. Isabell sammelte die Schnipsel des Briefes auf und steckte sie in die Jackentasche. Da Sarah nichts gesagt hatte, entschieden wir, „Muttern“ neben ihren Söhnen zu beerdigen. Tom und Friedrich holten Schaufeln und fingen an zu graben. Nach einer Stunde endete der Spuk und Franziska war wieder mit ihren geliebten Jungs vereinigt. Wir kehrten in Homezone zurück, um uns zu besprechen, wie wir weitermachen sollten bzw. wollten.
Wir haben angefangen, die Struktur zu verlieren, der Kampf, das Töten, jetzt ein Selbstmord, neue Mitglieder in der Gruppe, wir, bzw. ich muss aufpassen, dass sich die Gemeinschaft nicht verliert. Gemeinsam hockten wir im Garten, grillten, jeder bekam ein Bier oder zwei. So wurde das weitere Vorgehen beratschlagt.
Isabell war schlecht gelaunt, wie so häufig in den letzten Wochen, sie machte mich dafür verantwortlich, wo wir heute stehen. Sie spürte die Konfusion und rechnet das im Wesentlichen mir zu.
Bis zu einem gewissen Punkt verstehe ich sie, aber ehrlich, welche Handlungsoptionen standen mir zur Verfügung? Die fünf nicht befreien? Was hätte das für einen Sinn ergeben? Irgendwann wären neue Mitglieder zu Gruppe gekommen. Eigentlich wundert es mich, dass es so lange gedauert hat.
Der positive Aspekt, dass wir waffentechnisch einen gewaltigen Sprung nach vorn hinlegten, ging im Hickhack um das weitere Vorgehen komplett unter.


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