Der lange Abschied von uns selbst, oder wie wir wurden, was wir sind - Teil 2

Klappentext mit Inhaltsverzeichnis
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2.3 Die Polizei 19. März 2019

Wieder ein langer Tag, mit zusätzlichen Merkwürdigkeiten ist, Gott sei Dank, zu Ende. Was gäbe ich jetzt dafür, Deine Stimme zu hören, Dich zu umarmen. Nicht einsam in den Trümmern unseres Lebens zu hocken und Dir einen Brief zu schreiben, den Du niemals lesen wirst.
Der gestrige Tag, und die dazugehörige Nacht steckt mir noch in den Knochen. Dessen ungeachtet ging mir die Polizei heute weiter auf den Wecker. Bislang hatte ich nie Probleme mit den Ordnungshütern. Dieser Tag ließ mich die Kollegen von ihrer ungemütlichen Seite kennen lernen.
Die anderen Besucher erzählten scheinbar richtige Schauermärchen über meine Wenigkeit. Die Staatsgewalt zeigte sich dementsprechend interessiert an dem Schnack, den ich mit dem Baron führte. Das im Verlauf des Gesprächs, kaum Substantielles gesprochen wurde, wollten mir die Damen und Herren vom Landeskriminalamt nicht so recht glauben. Auch die Behauptung, dass ich den Geiselnehmer bei Ricardo erstmalig traf, verwiesen die beiden Beamten zügig ins Reich der Phantasie. Außerdem verschwieg ich die Sache mit dem japanischen Whisky. Im Rahmen der Vernehmung erfuhr ich durch Kommissarin Gmeiner mehr über meinen Dessert-Gast.
Ich muss zugeben, wenn man das so hört, Sympathieträger klingen anders. Irgendwie finde ich den Mann dennoch sympathisch. Merkwürdige Konstellation. Zum Glück gelang es den beiden Beamten nicht nachzuweisen, dass ich die Unwahrheit gesagt habe. Wäre auch schwierig geworden, ich kannte den Mann ja wirklich nicht.
Bislang hielt ich es für einen dramaturgischen Kniff von Drehbuchautoren, wenn sie Verdächtige und Zeugen immer wieder die Abläufe wiederholen lassen, um auf Widersprüche zu stoßen. Jetzt kann ich Dir berichten, dass die tatsächlich so vorgehen. Ich wurde gegen 10.00 Uhr ins LKA bestellt, um meine Aussage zu konkretisieren.
Eine erste Befragung gab es ja bereits, nachdem der Baron mit seinen Leuten, unter den Augen der Polizei, absetzte. Interessanterweise ist bislang nicht bekannt geworden, wie er verschwand.
Die ermittelnden Beamten verlangte Auskunft darüber, weshalb ich von den anderen Geiseln getrennt blieb. Ebenso erkundigten sie sich, was der Baron und ich zwei Stunden lang tuschelten. Brennend interessierte sie auch, wieso ich keine Angst zeigte und so weiter und so fort.
Nachdem ich den Polizisten einmal die Zusammenhänge erläuterte, und ihnen den Abend aus meiner Sicht schilderte, fingen sie wieder von vorne an. Und dann nochmal.
Gegen 13.00 Uhr reichte es mir. Ich fragte konkret, ob sich der Status beim mir von Tatzeuge bereits zu Beschuldigter gewandelt hatte.
Der vernehmende Beamte gestand zähneknirschend, ich sei noch Zeuge.
Seine Kollegin ließ deutlich erkennen, dass, wenn es nach ihr ginge, ich mittlerweile Beschuldigter wäre.
Der Vernehmungsführer erkannte jedoch, dass dafür nicht ausreichend Beweise vorlagen. Da sich mein Zeugenstatus nicht geändert hatte, stand ich auf, erklärte, den verdutzen Beamten, dass es den bislang gemachten Ausführungen nichts hinzuzufügen gab, und verließ das Revier.
Auf Grund der umfassenden Aussage versprach ich, am Abend des folgenden Tages vorbeizukommen. Ausschließlich um das Protokoll dieses Gesprächs, nachdem ich es sorgfältig gelesen hatte, zu unterzeichnen.
Die Hauptkommissarin Gmeiner teilte mir mit, dass die Angelegenheit für sie nicht vorbei sei, was ich mit einem kurzen Kopfnicken und einem „bis zum nächsten Mal“ quittierte.
Wie gesagt, bislang hatte ich nie Probleme mit der Polizei. Wenn sich Berührungspunkte ergaben, verhielt ich mich respektvoll. Den Job, den die Männer und Frauen der Polizei haben, ist echt hart. Da tut es nicht not, dass man durch Provozieren oder Unflätigkeit noch einen drauf setzen.
Ich gebe zu, dass mein Benehmen bei Ricardo, von Außen betrachtet, merkwürdig erscheint. Das Gebaren des Barons sicherlich auch, dafür kann ich aber nix.
Der Abend hätte für die Kommissare wohl mehr Sinn ergeben, wenn der Baron mir eine Kugel in den Kopf gejagt hätte. Trotzdem bin ich froh, dass er sich für eine andere Handlungsoption entschied.
Ich verstehe, dass sie wütend sind. Ein gesuchter Schwerverbrecher marschiert, nach einem Doppelmord, unter den Augen der Polizei vom Tatort weg, einfach so. Dass die ermittelnden Beamten da nicht gut aussehen, ist nachvollziehbar aber nicht meine Kanne Bier. Ich hoffe, es biegt auch niemand so hin, dass sich das ändert.
Jetzt, wo ich mit der Aufzeichnung fertig bin, muss ich feststellen, dass das Anfertigen von schriftlichen Zeugnissen eindeutig eine therapeutische Wirkung auf mich ausübt. Es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen.
Dadurch, dass ich Dir schreibe, bist Du, irgendwie doch Teil der Geschichte. Die Geiselnahme und alles was damit zusammenhängt, ist das erste große Ding, das passiert, seit Du gestorben bis.


2.4 VIP 20.03.2018

Ich bin berühmt! Ein Berliner Käseblatt hat die Titelseite mit einem (einigermaßen unkenntlich gepixelten) Bild von mir geschmückt und eine richtige Horrorstory erzählt. Der Gast, der sein Eis ist, während Menschen sterben.
Auch wenn ich davon ausgehe, dass man mich nicht beim Bäcker erkennt, mein Chef schaffte es, seinen Mitarbeiter trotz Pixel im Gesicht zu identifizieren. Er erkundigte sich, was ich in einem Restaurant zu suchen hatte, obwohl für diesen Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlag.
Ein herzliches Dankeschön an die Hauptstadtpresse. Das Verhältnis zu Sachgebietsleiter Brotbeck ist ohnehin belastet da ich, seit Deinem Tod, häufig fehle. Mit dem plötzlichen Weggang von Dir hast Du mir irgendwie den Boden unter den Füßen weggezogen. Das soll kein Vorwurf sein. Ich bin mir sicher, dass Du nicht vor hattest von einem LKW zerquetscht zu werden. Trotzdem scheine ich die Bodenhaftung zu verlieren. In den Jahren mit Dir, stand ich mit beiden Beinen fest im Leben, jetzt fühlt es sich an, wie stehen auf schwankendem Untergrund.
Ein Blick in die Onlinekommentare zu der Geschichte hilft nicht dabei, ein positives Lebensgefühl zurückzugewinnen. Du bist tot und die Welt hasst mich. Anscheinend sehen viele Leser die Sache so wie die junge Kommissarin.
Drei Journalisten haben heute angerufen und verlangten ein Interview mit mir. Allen dreien legte ich nahe, von einer Brücke in die eisige Havel zu springen.
Kam nicht so gut an.


2.5 Der Baron II 27.03.2019

Ich glaube, ich habe es bereits erwähnt, möchte es Dir aber nochmals verdeutlichen. Meine Existenz hat eindeutig eine Wendung zu skurrilen bzw. surrealistischen Ereignissen genommen.
Bis zu Deinem Tod führten wir ein gutes Leben. Viele hätten es langweilig empfunden. Ich selbst empfand eine tiefe Dankbarkeit für das, was kam, nachdem ich Dich kennen lernte. Die Zeit davor bot wenig Erbauliches. Auch Du warst nicht gerade vom Glück geküsst. Dennoch gab es bei Dir zumindest eine Mutter, die Dich bedingungslos liebte.
Dein Tod stellte einen Einschnitt dar, wie ich ihn nie zuvor erleben musste. Die Verluste, die es vorher gab, empfand ich selten im Sinne eines Bruchs. Überwiegend verbuchte ich sie eher unter dem Kapitel „Erleichterung“.
Relativ am Anfang der Verarbeitung dieses traumatischen Erlebnisses stehend, kam die Geiselnahme bei Ricardo. Der Abend mit dem Baron, die Toten im Restaurant, der Ärger mit der Polizei. Stress auf der Arbeit, weil ich seit Deinem Tod häufig fehle. Fühlt es sich so an, wenn einem das eigene Leben entgleitet? Kann sein, ich glaube, ich muss mich wieder mehr konzentrieren. Konzentration fällt einem aber auch schwer, während ständig Dinge passieren, die deutlich außerhalb der Normalität liegen. So wie gestern.
Bei meiner Rückkehr sah ich, dass der Fernseher im Wohnzimmer lief. Die Eingangstüre fand ich unverschlossen. Ich betrat das Haus, nicht wissend, was ich finden würde. Du bist der Ansicht, dass es sich dabei nicht die beste Idee meinerseits handelte? Mit Sicherheit, andererseits, welcher Einbrecher schaltet den TV ein? Normalerweise schleppen die ihn raus und schauen nicht die Nachrichten in der Butze an, in das sie eingebrochen sind.
Im Wohnzimmer begrüßte mich der Baron recht herzlich, schüttelte mir die Hand. Seine Leute, die, die Morde begangen hatten, nickten mir freundlich zu. Ich winkte zurück. Während der letzten Tage konnte ich das Gefühl, von der Polizei beobachtet zu werden, nicht abschütteln. Ob das wirklich so ist, weiß ich nicht, aber ich hatte den Eindruck. Dann komme ich von der Arbeit und da sitzt der Mann, den ganz Deutschland, ach was sage ich, die gesamte Europäische Union jagt, auf dem Sofa und sieht sich die Nachrichten an.
Auf meine Frage, was zum Teufel er bei mir wolle, und wie er ins Haus gekommen ist, antwortete er mir, dass das Schloss recht gut sei, für ihn aber nicht wirklich ein Problem darstelle. Erklärend fügte er an, dass er wohl sein Blatt überreizt hätte. Es bestünde auch die Möglichkeit, dass er die Ermittlungsarbeit der deutschen Polizei unterschätzt habe. Auf jeden Fall benötigen er und seine Mitarbeiter für einige Tage einen Unterschlupf, bis die Organisation der Weiterreise abgeschlossen sei. Da musste er an mich denken, da ich ihn bei Ricardo ja so nett auf einen Whisky eingeladen hatte. Ob die Einladung noch stehe, wollte er wissen.
Ähhh... Was sagt man dazu? Wahrscheinlich nicht, seien Sie willkommen. Habe ich aber gemacht. Warum? Keine Ahnung. Höflich bat ich ihn und seine Gefolgschaft, ihr Gepäck ins Obergeschoss zu schaffen. Dort sollten sie die drei Zimmer unter sich aufteilen. Etwas eng für vier Gäste, doch großzügiger als eine Zelle im Gefängnis.
Kaum hatten sich die Männer nach oben begeben, ich unterhielt mich mit dem Baron im Wohnzimmer, klingelte es.
Die Frage meines Gastes, ob ich Besuch erwartete, verneinte ich wahrheitsgemäß.
Ich bat ihn, im Schlafzimmer im Erdgeschoss zu warten - geklingelt hatte, wie konnte es anders sein, die Polizei.
Hauptkommissarin Gmeiner mit einem jungen Kollegen stand draußen. Wie geht man damit um, die Mördercombo in den Gästezimmern, einen international gesuchten Verbrecher in der Schlafstube und die Polizei vor der Türe?
Dass Frau Gmeiner keine Kenntnis davon besaß, dass der Baron bei mir im Schlafzimmer weilte, gehörte zu den wenigen Gewissheiten des heutigen Abends. Bei einem begründeten Verdacht diesbezüglich ihrerseits wäre die Haustür aus dem Rahmen geflogen. Damit einhergehend ein Sondereinsatzkommando durch das Haus getrümmert mit sehr unschönen Folgen für mich und das Gebäude.
Von daher erschien es mir zweckdienlich, die Kommissarin und ihren Kollegen hereinzubitten. Es bestand eine gewisse Unsicherheit, ob die Combo des Barons alles aus dem Wohnzimmer mitgenommen hatte, und so führte ich die beiden in die Küche.
Ich weiß, wir haben oft davon gesprochen, dass Küchen magische Orte sind. Du und ich, wir liebten Küchen, unsere natürlich ganz besonders. Ich denke gerne an die Zeit zurück, als Max uns die Küche in unserem Haus entwarf und einbaute. Auch bei den Leuten, die uns einluden, schafften wir es oft, meist zu vorgerückter Stunde, die Küche zu besetzen. Hat man eine Küche erstmal betreten, möchte man, normalerweise, nicht wieder raus. Ich betete, dass dieser Grundsatz auf die zwei Polizisten ebenfalls zutraf. In mein Gebet schloss ich ein, dass der Baron beziehungsweise seine Mitarbeiter die Küche nicht bereits aufgesucht und eine Maschinenpistole oder Ähnliches auf der Anrichte liegen gelassen hatten. Hatten sie nicht.
Ich bot den beiden Kaffee an, den sie, zu meiner Überraschung, annahmen. Die Kommissarin entschuldigte sich für ihren Ton bei der Vernehmung. Sie erklärte ihr Verhalten mit dem Stress der Ermittlungen und dem ungewöhnlichen Benehmen, welches ich bei Ricardo zeigte.
Ihr in diesem Punkt zu widersprechen, brachte ich nicht übers Herz. Ich fühlte mich schuldig, sie quälte sich eine Entschuldigung heraus, und das Objekt ihrer Begierde hockte bei mir im Schlafzimmer, ein paar Schritte entfernt. Warum ich nichts sagte? Weil ich nicht wollte.
Was hätte ich sagen sollen? „Der Baron ist auf einen Whisky vorbeigekommen und wartet in der Schlafstube. Seine Jungs sind oben und versorgen das Gepäck?“
Keiner von uns wäre mit dem Leben davon gekommen, wenn ich das ausgesprochen hätte. Diese Überlegung spielte eine Rolle, sicherlich, ausschlaggebend für mein Schweigen war sie nicht. Was genau mir den Mund verschlossen hielt, kann ich nicht sagen, nur dass er sich nicht öffnete und meine neuen Freunde verriet.
Ich ließ mich auf das Spiel ein. Flink zauberte ich Kaffee aus der Maschine, holte Kekse, zeigte dem Assistenten die Toilette, hoffte, dass der Baron unsichtbar blieb. Beziehungsweise dass der Kollege sich an seine gute Kinderstube erinnerte und nicht herumschnüffelte. Da mein Gast nichts Entsprechendes berichtete, muss ich dem Assistenten eine tadellose Erziehung attestieren.
Frau Gmeiner erläuterte mir, dass sich die Schlinge um den Baron fast zugezogen hätte. In letzter Minute gelang ihm die Flucht mit einem Wäschereiwagen. Sie fragte mich direkt und konkret, ob ich etwas von ihm gehört oder gesehen hätte, was ich dreist verneinte. Wir tranken Kaffee, sprachen über die Nacht bei Ricardo. Die Kommissarin bat darum, nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte, falls ich vom Baron höre, dass ich sie oder einen ihrer Kollegen verständige.
Eine Zusage, die ich in dem Moment, in dem ich sie gab, bereits gebrochen hatte. Eigentlich halte ich Wort. Das ist eine, vielleicht die herausragendste Wesensart, über die ich verfüge. Wenn ich mir sicher bin, etwas nicht machen zu wollen, verspreche ich es nicht und stehe dazu. Hätte ich der Kommissarin diese Zusicherung nicht gegeben, wäre mein bisheriges Leben abermals zu einem abrupten Ende gekommen. Ich neige nicht zu Zukunftsangst, zumindest nicht bis zum gestrigen Tag. Kommt heraus, dass ich dem Baron geholfen habe, brauche ich an mögliche Karriereschritte oder eine berufliche Neuorientierung keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Bislang entzog es sich mir die Vorstellung, wie man zufällig kriminell wird. Diesbezüglich erzielte ich gestern geradezu einen Erkenntniserdrutsch.
Nachdem ich die Kommissarin und ihren Kollegen zur Tür gebracht hatte und ich wieder alleine war (also relativ alleine) stand der Baron hinter mir. Seine Jungs okkupierten den oberen Teil der Treppe. Zwei davon hielten ihre Pistolen mit Schalldämpfern in den Händen. Ich lehnte an der Tür, fixierte meine Gäste, wandte den Blick dem konsternierten Baron zu.
Er starrte mich noch immer fassungslos an, schließlich meinte nur „beeindruckend“, schüttelte den Kopf und wollte wissen, wieso ich ihn derartig virtuos unterstützte.
Ich betrat an ihm vorbei die Küche, räumte die Tassen weg und sah zu ihm. Dass, was ich ihm anvertraute, entsprach dem, was ich in diesem Moment fühlte. Ob es die ganze Wahrheit ist, bin ich mir nicht sicher. An dem Abend, an dem wir uns kennen lernten, lehrte er mich eine Lektion, die ich nach Deinem Tod zu vergessen drohte.
Er fragte, welchen Erkenntnisgewinn er mir ermöglichte und ich antwortete, wie kostbar das Leben ist. Selbst wenn man nichts mehr hat, was einem am Herzen lag. Man lebt, es ist möglich, von vorne anzufangen und so zu bewahren, was man verloren glaubt. Für mich ist es wesentlich, ein gutes Dasein zu führen, um Dich am Leben zu erhalten. Ein wenig zumindest.
Er nickte, schien zu begreifen, was ich meinte, fragte, ob ich ebenfalls hungrig sei und bat einen seiner Männer, zu kochen.
Der Hinweis, dass ich Vegetarier bin, führte zu Konfusion. Bei den Herren handelt es sich ausschließlich um bekennende Karnivoren. Nur der Baron kann einem gut gemachten vegetarischen Gericht durchaus etwas abgewinnen, wie er mir versicherte. So kam es, dass ich für uns eine selbst zubereitete Ratatouille kochte. Dazu musste ich zwar nochmals einkaufen, der Baron schien darüber aber nicht besorgt. Zumindest der Rotwein, den er dabei hatte, passte vortrefflich zum Essen, gepaart mit frischem Weißbrot vom Bäcker meines Vertrauens aus dem Nachbarort. Wir hatten schon alle ausreichend getankt, als ich den Whisky holte, den Du mir letzte Weihnachten geschenkt hast. Weit nach Mitternacht war die Flasche umgefüllt, sie leer, wir voll.
Am folgenden Morgen begab ich mich wie immer (meistens) zu Arbeit, als ob nichts wäre. Der Baron scheint mit wenig Schlaf auszukommen. Er saß wach in der Küche als ich hereinschlurfte. Zuvorkommenderweise bereitete er mir einen Kaffee zu. Nebenbei dankte er mir für meine Hilfe und wandte sich mit einer letzten Bitte an mich. Er reichte mir ein Schreiben. Der Umschlag lag mir schwer in der Hand, ein edles Papier, die Handschrift darauf schön anzusehen. Der Baron selbst hatte die Nachricht an eine Frau Pia Schweiger in München adressiert. Er bat darum, dass ich die Botschaft dort eigenhändig übergebe.
Ich hielt den Brief lange in der Hand und wägte die Möglichkeiten ab. Eine Fahrt nach München stellt kein Problem dar. Allerdings wollte ich nicht in illegalen Geschäfte meines Besuchers verstrickt werden, das sagte ich ihm klar und deutlich.
Du findest die Bedenken kleinlich? Wahrscheinlich hast Du recht. Ich versteckte ihn und seine Männer immerhin vor der Polizei, belog eine Kommissarin. Selbst jetzt verspüre ich keine Bestrebung, das zu ändern. Es lag jedoch auch kein Interesse meinerseits vor, direkt in ein illegales Geschäft verwickelt zu werden.
Er versicherte mir, dass das Überbringen des Briefes nicht strafrechtlich relevant wäre. Nach einem längeren Zögern vertraute er mir an, worum es sich handelte. Die Adressatin ist seine Tochter. Dass der Baron ein Kind hat, überraschte mich, allerdings kenne ich den Mann ja auch nicht wirklich.
Er wies darauf hin, dass diese Tatsache nicht allgemein bekannt werden sollte. Für jemanden wie ihn wäre es besser, ohne Familie zu sein.
Meinen Hinweis auf die Möglichkeiten der Familienplanung quittierte er mit dem Satz „Familie passiert gelegentlich trotz Planung“. Er erzählte nicht viel, aber ich erkannte, dass er kein gutes Verhältnis zu seiner Tochter pflegte. Überraschenderweise schien ihn das zu bedrücken.
Direkt zu mir schauend, und wollte wissen, ob ich bereit sei, das Schreiben persönlich auszuliefern.
Nach einigem Zögern stimmte ich zu, erkundigte mich jedoch, warum er ihn nicht mit der Post schickte.
Er erwiderte, dass das Töchterchen die Korrespondenz wahrscheinlich nicht lesen würde.
Auf die Frage, wie ich sie daran hindern sollte den Brief einfach wegzuwerfen, nachdem ich ihn übergeben hatte, beantwortete er mit einem „seien sie kreativ“.
Beim Gehen fiel mein Blick auf den Ersatzschlüssel, der neben der Türe am Haken hing. Ich nahm ihn ab und warf ihn dem Baron zu. Er fischte ihn mühelos aus der Luft. Freundlich wies ich darauf hin, dass er mit einem Schlüssel schneller und unauffälliger reinkomme, falls er nochmals untertauchen müsse. Damit verschwand ich.
Jetzt ist der Baron weg, sein Brief liegt hier und die Polizei hat mich wieder auf dem Radar. Nachdem ich zur Arbeit ging, scheinen er und seine Gefolgsleute ihre Zelte bei mir abgebrochen zu haben.
Gegen 11.00 Uhr tauchte Hauptkommissarin Gmeiner bei mir im Büro auf. Eine Streife hatte den Baron gesichtet, in der Nähe meines Hauses, ob ich dafür eine Erklärung für hätte?
Nein, hatte ich nicht, zumindest keine, die ich plante, ihr mitzuteilen.
Sie erkundigte sich, was sie wohl bei mir zuhause finden würde, wenn sie sich einen Durchsuchungsbeschluss besorgte und das Anwesen auf Links zog.
Ich war mir relativ aber nicht absolut sicher, dass ein Richter bei dieser Beweislage niemals einen Durchsuchungsbeschluss ausstellen würde, also bluffte ich weiter. Sie solle sich einen besorgen und mir anschließend das Ergebnis mitteilen. Kaffee bei mir in der Küche schloss ich für die Zukunft aus.
Die Kommissarin verließ mit Volldampf mein Büro. Wo ich mir nicht so sicher bin, ist, ob ich nicht unter Beobachtung stehe. Dafür brauchen sie zwar auch einen Beschluss, aber ich weiß nicht, ob der leichter zu bekommen ist, als ein Durchsuchungsbeschluss. Scheint so, als ob ich nicht erst kreativ werden muss, wenn ich das Schreiben zustelle, sondern bereits deutlich davor.


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