Der lange Abschied von uns selbst, oder wie wir wurden, was wir sind - Teil 8

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Der lange Abschied - Teil 7


3.18 Die Eintrittskarte 29.05.2019

Die Dunkelheit und Verzweiflung, die ich gestern spürte, hat sich wieder etwas gelegt. Morgen kommen meine Freunde. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir mit einem Brunch gegen 10.00 Uhr anfangen. Das Wochenende soll sich langsam entwickeln. Die heutige Anreise, haben wir gecancelled.
Giulia befand sich bereits wieder auf der Piste, wie ich aufstand. Da sie mir gestern nicht berichtete, was sie den ganzen Tag über anstellte, konnte ich auch keine Rückschlüsse auf ihren Verbleib von diesem Tag ziehen. Ich verbrachte den Tag in Potsdam und auf dem Friedhof.
Danach holte ich noch ein Paket mit Kleidung von meinem Nachbarn ab, bevor er über das Wochenende nach Usedom fährt. In der Sendung sind die Tarnanzüge, darunter auch Schneetarnanzüge, die ich vor zehn Tagen bestellte. Ich verstaute die Sachen auf dem Dachboden, begab mich in den Garten um Feuer zu schüren und fing an, das Essen vorzubereiten.
Da ich nicht wusste, ob Giulia mitessen wollte oder nicht, kochte ich einfach für zwei. Sie kam gegen 19.00 Uhr. Ich stand mit einem Rotweinglas an der Feuerschale und starrte in die Flammen.
Sie trat neben mich, nahm mir das Weinglas aus der Hand und genehmigte sich einen tiefen Schluck. Nachdem ich das Glas zurückhatte, legte sie ihren Arm bei mir um die Hüften, lehnte den Kopf an meine Schulter.
Das kam durchaus überraschend, wir haben uns bislang nicht wirklich berührt. Eine kurze Umarmung zur Begrüßung, ein Händedruck, mehr nicht. Die Berührung empfand ich nicht als unangenehm beziehungsweise aufdringlich, sie erwischte mich nur völlig unerwartet. Die Frage, die in mir brannte, drehte sich um den tieferen Sinn. Stellte das in den Arm nehmen einen Abschied dar oder sollte sie soviel bedeuten wie „es ist okay“?
Lange warten musste ich auf die Antwort nicht. Giulia sprach zu mir, ohne ihren Blick vom Feuer abzuwenden. Sie erklärte mir, dass sie sich nicht im Klaren ist, ob sie durch die Beziehung die wir zueinander aufgebaut haben, eine zweite Chance erhält oder ob sie in wirkliche Schwierigkeiten steckt. Diese Gedanken kam ihr an dem Abend, an dem sie die Lieferung mit der Filteranlage annahm. Nachdem sie in ihr Zimmer entschwunden war, fing sie zu packen. Fetzen des Gesprochenen rumorten in ihrem Kopf. Sowie sie alles gepackt hatte, begann sie, im Internet zu recherchieren. Zwei Stunden später sah sie ein, dass etwas nicht stimmte. Auf den ersten Blick nichts Großes, Kleinigkeiten, die summiert Fragen aufwarfen. Sie entschied, gestern nicht nach Süddeutschland zurückzufahren. Stattdessen verbrachte sie den Tag im Regierungsviertel, saß vor den Ein- und Ausfahrten von Polizeikasernen und prüfte die Up- und Downloadgeschwindigkeiten in diesen Gebieten – sie lagen völlig am Boden. Was sie dort beobachtete, warf weit mehr Fragen auf, als sie nach dem Gespräch mit mir und ihren Recherchen ohnehin schon hatte.
Es fuhren Kolonnen in die Kasernen rein und andere wieder raus, überwiegend Landespolizei, gelegentlich Bundespolizei. Es kamen viele Zivilfahrzeuge an, aber fast keine verließen die Anlagen. Das gleiche Geschehen im Regierungsviertel, Polizei, Bundespolizei und sogar Feldjäger sicherten bestimmte Bereiche. Ein Bild, das man bislang eher nicht in der deutschen Hauptstadt zu sehen bekam. Diese Beobachtungen, beunruhigten sie spürbar.
Bei ihrer Rückkehr gestern fühlte sie sich aufgewühlt und verunsichert. Lust auf lange Gespräche, verspürte sie nicht, daher zog sie sich direkt ins Bett zurück. Den Tag heute verbrachte sie vor der Julius-Leber-Kaserne und am Flughafen Tegel. Auch hier beobachtete sie viel Bewegung, die Soldaten wirkten angespannt. Auf dem Flugfeld ging es zu wie in einem Bienenstock. Dafür, dass sie Ende letzter Woche europaweit den Flugverkehr eingestellt haben, herrschte im militärischen Teil Hochbetrieb.
Den Ausführungen hörte ich gespannt aber kommentarlos zu, beantworteten sie doch nicht, ob sie blieb oder wieder aus meinem Leben verschwand. Statt einer eindeutigen Antwort nahm sie mich bei der Hand und zog mich hinter sich her zu ihrem Auto.
Giulia besitzt einen Opel Combo, einen kleinen Lieferwagen, den sie braucht, wenn sie zu einem Auftritt fährt. Als sie die Türen öffnete, gab sie den Blick frei auf sechs Kisten mit Rotwein, 20 kg Kaffeebohnen, Nudeln, fünf Zehn-Liter Kanister Olivenöl, Konserven, Beutel mit getrockneten Tomaten und Steinpilzen, Mehl und ca. 50 kg Zwiebel und mehrere Knoblauchringe und eine Box voller luftgetrockneter Salamis und zwei Schinken. Ich stand wie geflasht vor der Ladefläche und starrte auf die Spezialitäten und Köstlichkeiten aus Italien. Unsicher fragte ich, was das sein soll.
Eher fragend antwortete Giulia „meine Eintrittskarte – rund 3.000.- €“.
Mit hängenden Schultern lehnte sie an ihrem Wagen. Irgendwie wirkte sie sehr unglücklich. Ich nahm sie in die Arme und wieder überraschte mich, mit welcher Kraft und Entschlossenheit sie die Umarmung erwiderte.
Mir hilft es, nach den Wochen der Unsicherheit eine Verbündete zu haben. Mit jemanden über den Wahnsinn, der sich bei mir im Kopf angesammelt hat, zu reden, gibt mir die Chance, meine Gedanken zu ordnen. Wir schleppten die Sachen rein, verstauten sie, so gut es ging im Hauswirtschaftsraum, in der Garage und in der Küche. Das Haus ist groß, für Vorratshaltung in diesem Umfang ist es nicht gemacht. Die Menge an Vorräten, wird bei den anderen zu Fragen führen. Was wir antworten, wissen wir noch nicht. Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen vereinbarten Giulia und ich, dass die Garage zu bleibt. Wir parken den Combo und den Passat vor dem Tor, fertig.
Nach dem Ausladen aßen wir zusammen, tranken eine Flasche Terra Siziliane und redeten über die Zukunft.
Giulia erkundigte sich, ob meine Freunde etwas ahnen, was ich verneinte.
Was hätte ich ihnen sagen sollen? Bringt Wechselwäsche mit, die Apokalypse ist im Anrollen?
Sie nickte, verstand das Dilemma.
Mich interessierte, ob sie während des Tages jemanden informierte, was sie mit Nein beantwortete – sie wusste schlicht nicht, wie sie welche Informationen an wen geben konnte. Die Offenbarung beginnt, bereitet euch vor? Wer glaubt einem so etwas? Irgendwie kam mir das Problem bekannt vor.
Sie versuchte, ihre Mutter bzw. die Familie in Sizilien zu kontaktieren, was diese abblockten. Der Gedanke, nach Hause zu fliegen, kam ihr, doch sie erinnerte sich an die Szenen, die sich bei ihrem letzten Besuch auf der Insel abspielten. Daraufhin verwarf sie die Überlegungen. Wenn es tatsächlich kommt, wie wir annehmen, wäre sie in ihrer Heimat zum Tode verurteilt. Sozusagen während der Apokalypse in Feindesland - keine beruhigende Vorstellung.
Sie blickte angestrengt in die Flammen, ich saß ihr gegenüber und beobachtete die Muster, die das Feuer auf ihr gleichmäßiges, schönes Gesicht warf. Nach einer langen Denkpause antwortete sie schließlich, dass sie Entscheidungen getroffen habe und mit den Konsequenzen leben muss. In Deutschland zu bleiben, wie ihre Eltern in den Geburtsort zurückgingen. Diesen Entschluss, an der deutschen Heimat festzuhalten offensiv gegen ihre Mutter und ihren Onkel zu verteidigen. Ein Verhalten, welches, zum endgültigen Bruch mit ihrer Familie führte. Oder sich von ihrem Freund zu trennen, nachdem sie ihn beim Fremdgehen erwischte und heute ein kleines Vermögen auszugeben, um hier bei mir zu sein. Sie schien nicht glücklich mit sämtlichen Entschlüssen zu sein, Raum für Änderungen entdeckte sie nicht.
Sie sah zu mir, über das Feuer hinweg und meinte schließlich, wir sind für das verantwortlich, was wir umsetzen – und manchmal auch für das, was wir unterlassen. Ich nickte, dachte an die zurückliegenden Monate, die Einsamkeit, die ich mir nach Miriams Tod selbst auferlegt hatte. Dennoch fühlte es sich gut an, wieder in Gesellschaft zu sein.
Giulia schreckte mich mit der Frage hoch, was ich eigentlich mit dem ganzen Salz und dem Zucker plane, wenn nichts passiert, bzw. was ich damit vorhabe, sollte doch ein zivilisatorischer Zusammenbruch kommen.
Ich antwortete ihr, dass ich nicht den leisesten Schimmer hatte, was ich mit dem Sammelsurium an Konserven, Lebensmitteln, Medikamenten und zwei Elektroautos anfange, falls die Apokalypse nicht kommt – ehrlich, ich habe keine Ahnung. Salz und Zucker braucht man, um Lebensmittel zu lagern, zu konservieren, es sind, verhältnismäßig günstige Möglichkeiten sich auf eine Zeit einzustellen, in der es die Lebensmittelindustrie nicht mehr gibt. Beides ist unbegrenzt haltbar. Nachdenklich nickte sie, ich glaube, in diesem Moment formte sich in ihrem Kopf erstmalig ein Bild, was das für Auswirkungen auf unser aller Leben haben würde.
Bezüglich des anstehenden Wochenendes einigten wir uns darauf, nicht konkret zu werden. Wir werden abwarten, ob sich Gespräche ergeben, in deren Rahmen es sich anbietet, das Thema anzusprechen.
Nachdem der Wein getrunken, und das Feuer fast heruntergebrannt war, sah sie nochmals lange und prüfen zu mir. Sie suchte Bestätigung für ihre Entscheidung. Mir stellte sie die Frage, ob es für mich wirklich okay war, dass sie hier bei mir blieb, „open end“ sozusagen.
Vor meinem inneren Auge zog die zurückliegende Zeit vorbei. Die Erinnerung tauchte auf, wie sie einige Tage zuvor erstmals vor mir stand, wie wenig Begeisterung der unerwartete Besuch bei mir auslöste und wie sehr ich mich mittlerweile an ihre Gesellschaft gewöhnt habe. Statt einer Antwort holte ich aus dem Wohnzimmer eine Flasche Whisky und zwei Tumbler, es handelte sich um einen Suntory Yamazaki Single Malt Distiller’s Reserve. Nachdem beide Gläser ausreichend gefüllt waren, reichte ich eines an Giulia.
Ich prostete ihr zu und zitierte die letzte Strophe von Thomas Moores „The meeeting of the waters“: „Sweet vale of Avoca! How calm could I rest in thy bosom of shade, with the friends I love best. Where the storms that we feel in this cold world should cease. And our hearts, like thy waters, be mingled in peace.“
Gemeinsam prosteten wir uns über die Feuerschale hinweg zu. Nach einem kräftigen Zug erwiderte sie: „I take this as a yes.“ Wir stießen erneut an und leerten unsere Gläser mit einem weiteren Schluck.
Giulia ließ, ihren Blick zu den neu angelegten Beeten schweifen, ich trat neben sie, fragte, was sie in diesem Augenblick dachte. Ihre Antwort darauf, traf mich, verdeutlichte, wie schmal der Grat ist, auf dem ich wandere.
Sie stellte fest, dass die Rabatten wohl nicht nur therapeutischen Wert hätten.
Ihre Feststellung bestätigte ich und Giulia drehte sich zu mir um, sagte, dass ich sie nie wieder anlügen sollte, sie sei alt genug, die Realität zu ertragen.
Das hatte gesessen, aber ich weigerte mich, die Sache damit auf sich ruhen zu lassen. Konkret fragte ich, welche Wahrheit ich ihr hätte sagen sollen, an dem Vormittag? Jemanden den ich erst seit einigen Stunden kannte. „Die Beete, tja, die habe ich angelegt, weil ich davon ausgehe, dass noch in diesem Sommer die Apokalypse kommt.“ Ernsthaft will man so eine Antwort haben und kann man eine derartige Erwiderung akzeptieren? Der therapeutische Nutzen der Anlage ist, soweit es mich betrifft, unbestreitbar. Dass da mehr ist, anderes sozusagen im Hintergrund lauert, räume ich im Nachgang gerne ein. Zu dem Zeitpunkt, wo sie die Frage stellte, ging sie diese tiefere Bedeutung nichts an.
Nach einer längeren Denkpause stimmte sie zu, forderte von mir, dass sie von nun an, wo wir über alles gesprochen haben, ehrliche Antworten erwartete.
Das Versprechen gab ich ihr. Jetzt, wo wir Verbündete sind, hat sie darauf einen Anspruch. Danach saßen wir noch eine Weile schweigend bei dem langsam verlöschenden Feuer und hingen unseren Gedanken nach.
Mitternacht ist lange schon vorbei, die Dinge, die ich bestellte, sind alle da. Giulia hat nochmals großzügig aufgestockt, was kommt, kommt. Wenn alles bleibt wie es ist, werde ich wohl die nächsten fünf Jahre Trockenbohnen essen und mein Gartenwasser filtern. Man kann zumindest nicht sagen, ich hätte es nicht versucht.


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