Mistralgitter
Mitglied
Der Vorlesende
Bisher kannte ich ihn nicht persönlich. Er huschte von der Seite auf die Bühne und setzte sich ein wenig ungelenk an den Holztisch.
Ich saß in der ersten Reihe. Damit ich besser hören konnte. Heute wollte ich nichts verpassen. In der ersten Reihe hörte ich nicht nur besser, sondern sah auch besser, ja sogar mehr. Besonders zu Beginn des Abends: Wie er etwas schüchtern und zusammengefaltet wegen seiner Länge vor seinem Lesetisch saß, wie dunkel er in seinem schwarzen Rollkragenpullover wirkte und wie kalt ihm wegen seines schwarzen, wollenen Kurzmantels mit Reverskragen sein musste, den er ein wenig hochgeschlagen hatte. Es war wirklich ziemlich kühl hier in diesem ungemütlichen, kaum beleuchteten Gewölbekeller. Die Wände des Raumes hatte man teilweise mit schwarzen Tüchern behängt, an anderen Stellen schauten die düstergrauen Steinquader hervor. Zu wenig Helligkeit und zu viel Schwarz, dachte ich.
Charlotte und ich hatten unsere Daunenjacken über die Knie gelegt und unsere Schals um den Hals geschlungen. Wir konnten uns warm halten.
Geradezu allein gelassen und verloren saß er dort oben auf der Bühne. Ich war in diese Betrachtungen versunken und hörte daher nur mit halbem Ohr zu, als sein Verleger ihn einführte, seinen Schreibstil einordnete - eine Mischung zwischen dem verschiedener anderer bekannter Schriftsteller - den Werdegang würdigte, die gewonnenen Preise, die bisherigen Veröffentlichungen. Für mich nichts Neues, ich hatte mich zuvor schon informiert. Stattdessen betrachtete ich sinnierend seine hell-beige Jeans-Hose und die hellen Turnschuhe mit den roten Schnür-Bändeln und dachte: Ein seltsamer Aufzug für einen Mann wie ihn, für diese Gelegenheit zu sportlich, zu lässig.
Und dann begann er selber zu reden, bemerkte entschuldigend, er hätte sicher die falschen Stellen aus seinem Buch herausgesucht für diese Veranstaltung. Das sei meist so und das merke man erst hinterher. Seine Selbstironie war unüberhörbar. Er fühle sich grippig, fuhr er fort, sein Hals täte weh. Aber er würde das Beste daraus machen, versprach er. Wir lächelten wohlwollend. Er hielt sein Versprechen. Er redete deutlich, jedoch zu eilig, als ob alles, was er zu sagen hätte, unwesentlich sei und keine große Bedeutung hätte, nur wenig Raum bekommen sollte. Dann nahm er sein neuestes Buch zur Hand und begann vorzulesen. In schneller Folge setzte er ein Wort an das andere, einen Satz neben den nächsten, mal betont und mal weniger betont, mit angenehmer Stimme, begleitet von sparsamer Mimik und Gestik. Ich hörte gerne zu. Er wurde allmählich zu dem, den ich erwartet hatte: einem amüsanten, versierten und souveränen Vorleser.
Dennoch war ich immer wieder unkonzentriert, betrachtete in aller Ruhe sein zerfurchtes, hageres und blasses Gesicht. Knochig war es wie auch seine ganze Gestalt. Seine Ohren, ungewöhnlich stark beleuchtet von einem Scheinwerfer, erschienen als viel zu klein, ja sogar unpassend angeschwollen für den schmalen langen Kopf, als seien sie aus dickem Filz geschnitten und anschließend falsch und abstehend an seinen Kopf geheftet worden. Seine kräftigen Hände fielen mir auf, von denen ich erwartet hätte, dass sie schmal und empfindsam aussehen müssten, wenn sie einem künstlerisch begabten Mann wie ihm gehörten. Und erschreckt stellte ich fest: Er kaut anscheinend Nägel! Natürlich nicht vor dem Publikum, aber seine Finger sahen ganz danach aus. Er beißt sich durch, überlegte ich. Sein eigener Anspruch, der des Verlegers und derjenige der Leser fordern das offensichtlich. Er bezahlt einen hohen Preis für einen schwer erarbeiteten Erfolg, vermutete ich. Die Fingernägel sind wahrscheinlich nur ein Fingerzeig. An seine Augen kann ich mich allerdings nicht erinnern. Merkwürdig. Vielleicht hatte ich Furcht davor zuviel zu sehen?
Dabei gab es gar nichts zu fürchten. Im Gegenteil. Dem Publikum war zum Lachen zumute.
Zum Glück lachte auch ich an den richtigen Stellen. Ich wollte mich wegen meiner Unaufmerksamkeit nicht blamieren. Hin und wieder schaute er von seinem Buch auf und bis zu den hinteren Reihen der Zuhörer oder hinab ins Publikum in den ersten Reihen, die sozusagen ihm zu Füßen saßen. Da saß ich. Wahrscheinlich aber sah er mich gar nicht. Es wäre dennoch peinlich gewesen, wenn ich nicht lachte, weil es ja nötig war zu lachen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man zwar als Vortragender auf der Bühne so auf seinen Text konzentriert ist, dass man von den Zuhörern wenig sieht, dennoch meist genug, um zu spüren, wie die Stimmung im Saal ist. Man nimmt nicht nur den hörbaren Beifall auf, sondern auch die stillen Reaktionen des Publikums, die sozusagen wie ein stummes Echo wirken. Wie gesagt, ich kenne das, wie man auf eine kindliche Weise abhängig wird vom Wohlwollen der Zuhörenden.
Nach einer Weile hatte mich der Text nun doch völlig gefangen genommen. Ich amüsierte mich köstlich und lachte unwillkürlich viel lauter und ungenierter als sonst. Auch Charlotte neben mir lachte aus vollem Halse. Was er uns vorlas, war brillant formuliert, messerscharf traf es die wunden Punkte einer unvollkommenen, nahezu kranken Gesellschaft, die sich in ihrer Blindheit jedoch völlig ernst nahm. Er ließ uns an einem lustvollen und klugen Auskosten von Einfällen teilhaben, um den Aberwitz menschlicher Unzulänglichkeiten und Abgründe zu beschreiben.
Charlotte flüsterte mir zu, sie habe bisher alle Bücher von ihm gelesen und könne gar nicht aufhören seine Literatur zu verschlingen. Sein neuestes Buch lag schon auf ihrem Schoß. Sie ließ es sich am Schluss der Lesung signieren.
Das Ende kam überraschend. Jemand aus der Publikumsmitte klatschte einfach drauf los, als der Autor kurz Luft holte. Ich hatte den Eindruck, er wollte eigentlich weiterlesen, und war deswegen verstört. Ein solches Verhalten fand ich direkt ungehörig dem Vorlesenden gegenüber und klatschte erst mal nicht - erst später – zunächst abwartend, wie der Autor jetzt reagieren würde. Dieser hielt inne, nickte stumm dankend ins applaudierende Publikum. Er wollte offensichtlich etwas sagen, aber es kam für eine Weile kein Laut über seine zitternden Lippen. Als ob er voller Anspannung nach Worten suchte und sie nicht herausbekam und gleich stottern würde. Mir tat das Leid.
Er nickte dankend und las weiter, dieses Mal aus seinem ersten Buch. Das habe er immer dabei, falls etwas schief gehen würde, erklärte er. Und so hörten wir ein weiteres Text-Beispiel für seinen scharfsinnigen, beißenden Humor.
Ich dachte daran, dass er mir einmal selbstironisch schrieb, er verstünde vom Fahrradfahren mehr als vom Schreiben. Auf durchschnittlich zehntausend, mit dem Rad gefahrene Kilometer käme er jedes Jahr. So viel könnte ich noch nicht einmal als Lebensleistung zuwege bringen, antwortete ich amüsiert. Er meinte, er könne mir nur zuraten, mir ein gescheites Fahrrad zu kaufen und in einen Fahrradverein einzutreten anstatt mich mit anderen Autoren treffen und austauschen zu wollen. Die Leute im Fahrradverein seien netter, als es Autoren untereinander sind. Also werde ich morgen mit dem Fahrrad losradeln und sein neues Buch kaufen. Damit ich was zu lachen hab, nahm ich mir vor und klatschte lang und anhaltend am Ende seiner Lesung. Das mit dem Fahrradverein überlege ich mir aber noch.
Bisher kannte ich ihn nicht persönlich. Er huschte von der Seite auf die Bühne und setzte sich ein wenig ungelenk an den Holztisch.
Ich saß in der ersten Reihe. Damit ich besser hören konnte. Heute wollte ich nichts verpassen. In der ersten Reihe hörte ich nicht nur besser, sondern sah auch besser, ja sogar mehr. Besonders zu Beginn des Abends: Wie er etwas schüchtern und zusammengefaltet wegen seiner Länge vor seinem Lesetisch saß, wie dunkel er in seinem schwarzen Rollkragenpullover wirkte und wie kalt ihm wegen seines schwarzen, wollenen Kurzmantels mit Reverskragen sein musste, den er ein wenig hochgeschlagen hatte. Es war wirklich ziemlich kühl hier in diesem ungemütlichen, kaum beleuchteten Gewölbekeller. Die Wände des Raumes hatte man teilweise mit schwarzen Tüchern behängt, an anderen Stellen schauten die düstergrauen Steinquader hervor. Zu wenig Helligkeit und zu viel Schwarz, dachte ich.
Charlotte und ich hatten unsere Daunenjacken über die Knie gelegt und unsere Schals um den Hals geschlungen. Wir konnten uns warm halten.
Geradezu allein gelassen und verloren saß er dort oben auf der Bühne. Ich war in diese Betrachtungen versunken und hörte daher nur mit halbem Ohr zu, als sein Verleger ihn einführte, seinen Schreibstil einordnete - eine Mischung zwischen dem verschiedener anderer bekannter Schriftsteller - den Werdegang würdigte, die gewonnenen Preise, die bisherigen Veröffentlichungen. Für mich nichts Neues, ich hatte mich zuvor schon informiert. Stattdessen betrachtete ich sinnierend seine hell-beige Jeans-Hose und die hellen Turnschuhe mit den roten Schnür-Bändeln und dachte: Ein seltsamer Aufzug für einen Mann wie ihn, für diese Gelegenheit zu sportlich, zu lässig.
Und dann begann er selber zu reden, bemerkte entschuldigend, er hätte sicher die falschen Stellen aus seinem Buch herausgesucht für diese Veranstaltung. Das sei meist so und das merke man erst hinterher. Seine Selbstironie war unüberhörbar. Er fühle sich grippig, fuhr er fort, sein Hals täte weh. Aber er würde das Beste daraus machen, versprach er. Wir lächelten wohlwollend. Er hielt sein Versprechen. Er redete deutlich, jedoch zu eilig, als ob alles, was er zu sagen hätte, unwesentlich sei und keine große Bedeutung hätte, nur wenig Raum bekommen sollte. Dann nahm er sein neuestes Buch zur Hand und begann vorzulesen. In schneller Folge setzte er ein Wort an das andere, einen Satz neben den nächsten, mal betont und mal weniger betont, mit angenehmer Stimme, begleitet von sparsamer Mimik und Gestik. Ich hörte gerne zu. Er wurde allmählich zu dem, den ich erwartet hatte: einem amüsanten, versierten und souveränen Vorleser.
Dennoch war ich immer wieder unkonzentriert, betrachtete in aller Ruhe sein zerfurchtes, hageres und blasses Gesicht. Knochig war es wie auch seine ganze Gestalt. Seine Ohren, ungewöhnlich stark beleuchtet von einem Scheinwerfer, erschienen als viel zu klein, ja sogar unpassend angeschwollen für den schmalen langen Kopf, als seien sie aus dickem Filz geschnitten und anschließend falsch und abstehend an seinen Kopf geheftet worden. Seine kräftigen Hände fielen mir auf, von denen ich erwartet hätte, dass sie schmal und empfindsam aussehen müssten, wenn sie einem künstlerisch begabten Mann wie ihm gehörten. Und erschreckt stellte ich fest: Er kaut anscheinend Nägel! Natürlich nicht vor dem Publikum, aber seine Finger sahen ganz danach aus. Er beißt sich durch, überlegte ich. Sein eigener Anspruch, der des Verlegers und derjenige der Leser fordern das offensichtlich. Er bezahlt einen hohen Preis für einen schwer erarbeiteten Erfolg, vermutete ich. Die Fingernägel sind wahrscheinlich nur ein Fingerzeig. An seine Augen kann ich mich allerdings nicht erinnern. Merkwürdig. Vielleicht hatte ich Furcht davor zuviel zu sehen?
Dabei gab es gar nichts zu fürchten. Im Gegenteil. Dem Publikum war zum Lachen zumute.
Zum Glück lachte auch ich an den richtigen Stellen. Ich wollte mich wegen meiner Unaufmerksamkeit nicht blamieren. Hin und wieder schaute er von seinem Buch auf und bis zu den hinteren Reihen der Zuhörer oder hinab ins Publikum in den ersten Reihen, die sozusagen ihm zu Füßen saßen. Da saß ich. Wahrscheinlich aber sah er mich gar nicht. Es wäre dennoch peinlich gewesen, wenn ich nicht lachte, weil es ja nötig war zu lachen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man zwar als Vortragender auf der Bühne so auf seinen Text konzentriert ist, dass man von den Zuhörern wenig sieht, dennoch meist genug, um zu spüren, wie die Stimmung im Saal ist. Man nimmt nicht nur den hörbaren Beifall auf, sondern auch die stillen Reaktionen des Publikums, die sozusagen wie ein stummes Echo wirken. Wie gesagt, ich kenne das, wie man auf eine kindliche Weise abhängig wird vom Wohlwollen der Zuhörenden.
Nach einer Weile hatte mich der Text nun doch völlig gefangen genommen. Ich amüsierte mich köstlich und lachte unwillkürlich viel lauter und ungenierter als sonst. Auch Charlotte neben mir lachte aus vollem Halse. Was er uns vorlas, war brillant formuliert, messerscharf traf es die wunden Punkte einer unvollkommenen, nahezu kranken Gesellschaft, die sich in ihrer Blindheit jedoch völlig ernst nahm. Er ließ uns an einem lustvollen und klugen Auskosten von Einfällen teilhaben, um den Aberwitz menschlicher Unzulänglichkeiten und Abgründe zu beschreiben.
Charlotte flüsterte mir zu, sie habe bisher alle Bücher von ihm gelesen und könne gar nicht aufhören seine Literatur zu verschlingen. Sein neuestes Buch lag schon auf ihrem Schoß. Sie ließ es sich am Schluss der Lesung signieren.
Das Ende kam überraschend. Jemand aus der Publikumsmitte klatschte einfach drauf los, als der Autor kurz Luft holte. Ich hatte den Eindruck, er wollte eigentlich weiterlesen, und war deswegen verstört. Ein solches Verhalten fand ich direkt ungehörig dem Vorlesenden gegenüber und klatschte erst mal nicht - erst später – zunächst abwartend, wie der Autor jetzt reagieren würde. Dieser hielt inne, nickte stumm dankend ins applaudierende Publikum. Er wollte offensichtlich etwas sagen, aber es kam für eine Weile kein Laut über seine zitternden Lippen. Als ob er voller Anspannung nach Worten suchte und sie nicht herausbekam und gleich stottern würde. Mir tat das Leid.
Er nickte dankend und las weiter, dieses Mal aus seinem ersten Buch. Das habe er immer dabei, falls etwas schief gehen würde, erklärte er. Und so hörten wir ein weiteres Text-Beispiel für seinen scharfsinnigen, beißenden Humor.
Ich dachte daran, dass er mir einmal selbstironisch schrieb, er verstünde vom Fahrradfahren mehr als vom Schreiben. Auf durchschnittlich zehntausend, mit dem Rad gefahrene Kilometer käme er jedes Jahr. So viel könnte ich noch nicht einmal als Lebensleistung zuwege bringen, antwortete ich amüsiert. Er meinte, er könne mir nur zuraten, mir ein gescheites Fahrrad zu kaufen und in einen Fahrradverein einzutreten anstatt mich mit anderen Autoren treffen und austauschen zu wollen. Die Leute im Fahrradverein seien netter, als es Autoren untereinander sind. Also werde ich morgen mit dem Fahrrad losradeln und sein neues Buch kaufen. Damit ich was zu lachen hab, nahm ich mir vor und klatschte lang und anhaltend am Ende seiner Lesung. Das mit dem Fahrradverein überlege ich mir aber noch.