Blumenberg
Mitglied
Mein Großvater sieht nicht mehr gut, deswegen komme ich montags mit der S-Bahn aus Deutz und lese ihm die Zeitung vor. Zum Einstieg den Lokalteil. Der Traktorunfall in Lechenich interessiert ihn. „Mit diesen neuen Ungetümen muss man höllisch aufpassen. Sind viel größer als die, mit denen wir früher die Ernte eingebracht haben. Da kommt leicht einer unter die Räder.“ Es ist keiner unter die Räder gekommen, nur ein Sachschaden, aber das stört meinen Großvater nicht. „Die Polen passen nie richtig auf, die sind faul und saufen den ganzen Tag. Ich hab die nie auf meinen Trecker gelassen.“
„Wann hat denn jemals ein Pole für dich gearbeitet? Das hast du doch wieder von irgendeinem deiner Kumpel“, entgegne ich etwas genervt. Es passiert in den letzten Wochen häufig, dass sich fremde Geschichten in seine eigenen mischen. Ich glaube, er merkt das, denn er erzählt weniger als früher. Ich nehme mir den Anzeigenteil vor. Das Schützenfest in Türnich will er am Wochenende besuchen. „Ich frage Mamma. Mal sehen, ob wir hin können oder ob es zu anstrengend ist.“
„Da bin ich jedes Jahr gewesen“, sagt er scharf, „seit achtundvierzig!“
„Das stimmt doch gar nicht Opa, du warst seit Jahren nicht mehr dort. Du siehst doch auch fast nichts mehr vom Zug.“
„Jedes Jahr …, seit achtundvierzig“, wiederholt er leiser.
„Ich rede mit Mamma, versprochen“, sage ich sanft und habe ein schlechtes Gewissen. Es fühlt sich falsch an, jemandem Vorschriften zu machen, der so viel älter ist als ich. Wahrscheinlich hat er es bis zum Wochenende ohnehin wieder vergessen. Ich nehme mir vor, trotzdem zu fragen.
„Für das Ausland bin ich zu alt“, sagt er, als ich mit dem Überregionalen beginne. Ausland ist alles, was über Köln hinausgeht, wobei ich nicht weiß, ob er einen Besuch dort oder die Nachrichten meint. „Lies lieber die Angebote, ich brauche noch Möhren und Milch.“
Ich lese ihm die Werbeprospekte vor. Im Hit gibt es Tomaten billig, im Aldi ist Bratwurst im Angebot, beides wandert zu den Möhren und der Milch auf die Liste. „Bring Tomaten mit, die sind fast geschenkt! Eine Mark das Kilo.“ Ich habe es aufgegeben, ihm den Euro zu erklären, die Zahl stimmt ja.
„War doch alles anders, als ich damals gedacht hab“, sagt er unvermittelt.
Der Satz bringt mich aus dem Konzept und ich lege den Werbeprospekt zur Seite. „Was war denn anders, Opa?“, frage ich, ohne recht zu wissen, auf was der alte Mann hinaus will, der mir gegenüber im Gartenstuhl sitzt. Er ist schmal geworden mit den Jahren. Ich bin froh, dass es wieder wärmer wird, die frische Luft tut ihm gut. Er blickt auf und sieht mich mit trüben Augen an, ich merke an dem Zucken im Gesicht, dass er konzentriert ist. „Na, das mit dem Ami“, sagt er nach einer Pause und schweigt danach.
„Mit welchem Ami?“, hake ich nach, ohne große Hoffnung, wirklich verstehen zu können, wo sein Gedächtnis nun wieder ist.
„Na mit dem, der im Baum hing. Ich hab ihn beim Spielen im Wald gefunden, gar nicht weit von der Erft weg. Der Fallschirm hatte sich in den Ästen verfangen. Er hat immer wieder dran gerüttelt, kam aber nicht los. Ich hab ihn beobachtet. Sah ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Irgendwie hilflos und ein Bein stand komisch ab. Ich hatte mal einen Vogel mit gebrochenem Flügel gesehen, der stand genauso ab. Später bin ich nach Hause gelaufen und hab es Mamm erzählt. Sie hat mir verboten, nochmal in den Wald zu gehen. Der Ami hat ihr Angst gemacht, das hab ich gesehen. Ich hab ihr gesagt, sie muss keine Angst haben. ‚Der hängt da, ganz eingewickelt in den Fallschirm und kann sich nicht rühren. Und böse hat er auch nicht ausgesehen, eher traurig.‘ Meinst du, es war richtig, es ihr zu sagen?“
„Keine Ahnung“, erwidere ich, immer noch unschlüssig, worauf die Geschichte hinauslaufen soll.
„Sie hat gesagt, ich soll im Haus bleiben, weil sie zum Joppich geht. Der war damals Bürgermeister“, sprudelt es aus dem alten Mann heraus, den ich lange nicht mehr so viel habe sagen hören. ,Wenn einer im Baum festhängt, muss man dem doch helfen‘, hab ich Mamm gesagt. Sie hat mich angesehen und nach einer Weile genickt. ‚Ja, den muss man aus dem Baum holen und aus dem Wald‘, hat sie gesagt. Dann ist sie zum Joppich gegangen und der ist kurz darauf mit dem Wachtmeister und dem Linkens und dessen Knecht gekommen. Wo ich den Ami denn gefunden hätt´, haben sie gefragt. Ich müsse mich genau erinnern, das sei sehr wichtig.“
Ich höre Opa Werner zu. Sein Gesicht zuckt immer wieder, als ringe irgendeine Gefühlsregung darum, sich auf dem wettergegerbten Gesicht zu zeigen. Das tut es immer, wenn er sich auf seine Erinnerungen konzentriert. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals über diese Zeit gesprochen hat.
„Erst wollt‘ ich es nicht sagen. Ich mochte den Joppich nicht, der roch nach Zigarettenrauch, hatte einen dicken Bauch, kleine Schweinsaugen. Hat sich immer aufgespielt. Besonders nachdem der Krieg losgegangen war, aber auch davor schon. ‚Bürgermeister ist der nur, weil der von Anfang an in der Partei war‘, hat Mamm immer geschimpft. Als der Krieg losging, hat sie das nicht mehr gesagt …, da hat sie nichts mehr gegen den Joppich gesagt. Ich habe aber gesehen, dass sie ihn manchmal böse angeguckt hat, wenn er´s nicht gemerkt hat. Ich glaub, sie war wütend, dass Papp in den Osten musste und der Joppich hierbleiben durfte.“
„Was war denn jetzt mit dem Ami?“, hake ich nach.
„Dem Joppich hab ich es nicht sagen wollen und der wurde wütend deswegen. Dann hat der Linkens den Joppich und die anderen rausgeschickt und sich zu mir heruntergebeugt. ‚Wir können den da doch nicht einfach hängen lassen, dem muss man doch helfen‘, hat er leise gesagt. ‚Ich mag den Joppich nicht‘, hab ich dem Linkens zugeflüstert, wegen dem dicken Bauch, der Schweinsaugen und dem Gehabe. Da hat er gelacht und gezwinkert und ich hab gewusst, der mag den Joppich auch nicht. Das hab ich aber für mich behalten. ‚Das Bein vom Ami steht ganz komisch ab‘, hab ich dem Linkens gesagt. Ich hab ihm von dem Vogel erzählt, den ich auf unserem Hof gefunden habe, und dem Flügel, der zur Seite weggestanden hat. Ich habe ihm erzählt, dass wir den Vogel so lange gefüttert und gepflegt haben, bis der Flügel wieder heil war. Er hat genickt und gelächelt und ich hab ihm von meinem geheimen Platz nicht weit von der Erft erzählt und wie ich an der alten Weide, in die im Sommer der Blitz eingeschlagen hat, vorbeigegangen bin, Richtung Süden und dann über den kleinen Hügel und dass dort der Ami im Baum hängt. Er hat mir versprochen, dass sie es wie mit dem Vogel machen, das Bein richten, ihn pflegen, bis es wieder heil ist. Dann ist er mit dem Joppich, dem Wachtmeister und dem Knecht in den Wald gegangen. Ich wollt mit, aber Mamm hat es mir verboten.“
Ich warte darauf, wie es weitergeht mit dem Ami, aber mein Großvater schweigt, wie er es meistens tut. Er sackt ein wenig in sich zusammen und ich rutsche ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her. Nach einer Weile richtet sich der alte Mann wieder etwas auf und sieht mich an.
„Bring Tomaten mit, die kosten nur eine Mark das Kilo, das ist fast geschenkt“, sagt er.
„Wann hat denn jemals ein Pole für dich gearbeitet? Das hast du doch wieder von irgendeinem deiner Kumpel“, entgegne ich etwas genervt. Es passiert in den letzten Wochen häufig, dass sich fremde Geschichten in seine eigenen mischen. Ich glaube, er merkt das, denn er erzählt weniger als früher. Ich nehme mir den Anzeigenteil vor. Das Schützenfest in Türnich will er am Wochenende besuchen. „Ich frage Mamma. Mal sehen, ob wir hin können oder ob es zu anstrengend ist.“
„Da bin ich jedes Jahr gewesen“, sagt er scharf, „seit achtundvierzig!“
„Das stimmt doch gar nicht Opa, du warst seit Jahren nicht mehr dort. Du siehst doch auch fast nichts mehr vom Zug.“
„Jedes Jahr …, seit achtundvierzig“, wiederholt er leiser.
„Ich rede mit Mamma, versprochen“, sage ich sanft und habe ein schlechtes Gewissen. Es fühlt sich falsch an, jemandem Vorschriften zu machen, der so viel älter ist als ich. Wahrscheinlich hat er es bis zum Wochenende ohnehin wieder vergessen. Ich nehme mir vor, trotzdem zu fragen.
„Für das Ausland bin ich zu alt“, sagt er, als ich mit dem Überregionalen beginne. Ausland ist alles, was über Köln hinausgeht, wobei ich nicht weiß, ob er einen Besuch dort oder die Nachrichten meint. „Lies lieber die Angebote, ich brauche noch Möhren und Milch.“
Ich lese ihm die Werbeprospekte vor. Im Hit gibt es Tomaten billig, im Aldi ist Bratwurst im Angebot, beides wandert zu den Möhren und der Milch auf die Liste. „Bring Tomaten mit, die sind fast geschenkt! Eine Mark das Kilo.“ Ich habe es aufgegeben, ihm den Euro zu erklären, die Zahl stimmt ja.
„War doch alles anders, als ich damals gedacht hab“, sagt er unvermittelt.
Der Satz bringt mich aus dem Konzept und ich lege den Werbeprospekt zur Seite. „Was war denn anders, Opa?“, frage ich, ohne recht zu wissen, auf was der alte Mann hinaus will, der mir gegenüber im Gartenstuhl sitzt. Er ist schmal geworden mit den Jahren. Ich bin froh, dass es wieder wärmer wird, die frische Luft tut ihm gut. Er blickt auf und sieht mich mit trüben Augen an, ich merke an dem Zucken im Gesicht, dass er konzentriert ist. „Na, das mit dem Ami“, sagt er nach einer Pause und schweigt danach.
„Mit welchem Ami?“, hake ich nach, ohne große Hoffnung, wirklich verstehen zu können, wo sein Gedächtnis nun wieder ist.
„Na mit dem, der im Baum hing. Ich hab ihn beim Spielen im Wald gefunden, gar nicht weit von der Erft weg. Der Fallschirm hatte sich in den Ästen verfangen. Er hat immer wieder dran gerüttelt, kam aber nicht los. Ich hab ihn beobachtet. Sah ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Irgendwie hilflos und ein Bein stand komisch ab. Ich hatte mal einen Vogel mit gebrochenem Flügel gesehen, der stand genauso ab. Später bin ich nach Hause gelaufen und hab es Mamm erzählt. Sie hat mir verboten, nochmal in den Wald zu gehen. Der Ami hat ihr Angst gemacht, das hab ich gesehen. Ich hab ihr gesagt, sie muss keine Angst haben. ‚Der hängt da, ganz eingewickelt in den Fallschirm und kann sich nicht rühren. Und böse hat er auch nicht ausgesehen, eher traurig.‘ Meinst du, es war richtig, es ihr zu sagen?“
„Keine Ahnung“, erwidere ich, immer noch unschlüssig, worauf die Geschichte hinauslaufen soll.
„Sie hat gesagt, ich soll im Haus bleiben, weil sie zum Joppich geht. Der war damals Bürgermeister“, sprudelt es aus dem alten Mann heraus, den ich lange nicht mehr so viel habe sagen hören. ,Wenn einer im Baum festhängt, muss man dem doch helfen‘, hab ich Mamm gesagt. Sie hat mich angesehen und nach einer Weile genickt. ‚Ja, den muss man aus dem Baum holen und aus dem Wald‘, hat sie gesagt. Dann ist sie zum Joppich gegangen und der ist kurz darauf mit dem Wachtmeister und dem Linkens und dessen Knecht gekommen. Wo ich den Ami denn gefunden hätt´, haben sie gefragt. Ich müsse mich genau erinnern, das sei sehr wichtig.“
Ich höre Opa Werner zu. Sein Gesicht zuckt immer wieder, als ringe irgendeine Gefühlsregung darum, sich auf dem wettergegerbten Gesicht zu zeigen. Das tut es immer, wenn er sich auf seine Erinnerungen konzentriert. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals über diese Zeit gesprochen hat.
„Erst wollt‘ ich es nicht sagen. Ich mochte den Joppich nicht, der roch nach Zigarettenrauch, hatte einen dicken Bauch, kleine Schweinsaugen. Hat sich immer aufgespielt. Besonders nachdem der Krieg losgegangen war, aber auch davor schon. ‚Bürgermeister ist der nur, weil der von Anfang an in der Partei war‘, hat Mamm immer geschimpft. Als der Krieg losging, hat sie das nicht mehr gesagt …, da hat sie nichts mehr gegen den Joppich gesagt. Ich habe aber gesehen, dass sie ihn manchmal böse angeguckt hat, wenn er´s nicht gemerkt hat. Ich glaub, sie war wütend, dass Papp in den Osten musste und der Joppich hierbleiben durfte.“
„Was war denn jetzt mit dem Ami?“, hake ich nach.
„Dem Joppich hab ich es nicht sagen wollen und der wurde wütend deswegen. Dann hat der Linkens den Joppich und die anderen rausgeschickt und sich zu mir heruntergebeugt. ‚Wir können den da doch nicht einfach hängen lassen, dem muss man doch helfen‘, hat er leise gesagt. ‚Ich mag den Joppich nicht‘, hab ich dem Linkens zugeflüstert, wegen dem dicken Bauch, der Schweinsaugen und dem Gehabe. Da hat er gelacht und gezwinkert und ich hab gewusst, der mag den Joppich auch nicht. Das hab ich aber für mich behalten. ‚Das Bein vom Ami steht ganz komisch ab‘, hab ich dem Linkens gesagt. Ich hab ihm von dem Vogel erzählt, den ich auf unserem Hof gefunden habe, und dem Flügel, der zur Seite weggestanden hat. Ich habe ihm erzählt, dass wir den Vogel so lange gefüttert und gepflegt haben, bis der Flügel wieder heil war. Er hat genickt und gelächelt und ich hab ihm von meinem geheimen Platz nicht weit von der Erft erzählt und wie ich an der alten Weide, in die im Sommer der Blitz eingeschlagen hat, vorbeigegangen bin, Richtung Süden und dann über den kleinen Hügel und dass dort der Ami im Baum hängt. Er hat mir versprochen, dass sie es wie mit dem Vogel machen, das Bein richten, ihn pflegen, bis es wieder heil ist. Dann ist er mit dem Joppich, dem Wachtmeister und dem Knecht in den Wald gegangen. Ich wollt mit, aber Mamm hat es mir verboten.“
Ich warte darauf, wie es weitergeht mit dem Ami, aber mein Großvater schweigt, wie er es meistens tut. Er sackt ein wenig in sich zusammen und ich rutsche ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her. Nach einer Weile richtet sich der alte Mann wieder etwas auf und sieht mich an.
„Bring Tomaten mit, die kosten nur eine Mark das Kilo, das ist fast geschenkt“, sagt er.