Sonatenhauptsatzform
Natürlich ist das immer eine interessante Frage, was Lyrik ist und was nicht, was noch Lyrik ist oder schon Lyrik ist usw.
Und wenn es in die Grenzen eines vorgegebenen Lyrikbegriffs geht, bleibt der umfassendere Kunstbereich. Ob es schon Kunst ist oder noch Kunst ist usw.
Allerdings gehört es sowohl zur Lyrik als auch zur Kunst, daß sie mit den Grenzen spielen. Man kann Obergrenzen nach unten drücken, oder sich um die wirklichen Probleme schöpferischen Schaffens kümmern, d.h.: es wird einem, der die Schönheit des Wirklichen oder die Wahrheit des Unerhörten zu Gesicht oder Gehör bringen will, egal sein, ob da einer die Wirklichkeit mit Definitionen verwechselt oder keine Lust hat, zu
spielen.
Ästhetik, Kunst und Lyrik sind eine Frage der Form bzw. des Spiels mit der Form:
weiß ist weiß
und grau ist grau
und schwarz ist schwarz
Trikolon, parallelistisch gefügt, mit Klimax.
Exposition zu einem Spiel mit Identitäten. Wie der erste Teil in der Sonatenhauptsatzform, wo Thema und Gegenthema vorgestellt werden.
aber
schwarz hat etwa bräunliches
und grau etwas rötliches
und hell ist nicht dunkel
und dunkel ist nicht hell
Das kann man als Gegenthema der Exposition auffassen, oder bereits als Beginn der "Durchführung".
Das Spiel mit den Identitäten wird in Bewegung gebracht, gebrochen (reflektiert), zwielichtig.
gelb ist gelb
und orange ist orange
aber gelb schwebt über rot
Wenn das vorhin das Gegenthema war, dann wäre das die Synthese-überleitung zur Durchführung. Oder es ist bereits die Coda. (Klassizistisch gesehen.)
Wesentlich ist, daß es um Farben geht, das gibt dem Identitäts-Spiel die sinnliche Seite. Es ist jedenfalls nicht die trockene Sprachspielerei, die in der modernen Lyrik (haha, seit über 50 Jahren) akademisch abhebt. Es ist nachvollziehbar, und trotzdem nicht blöde. Der Goethe ist drin, aber auch die Probleme des Autolackierers, des Photographen und des Wahrnehmungszweiflers.
Ich habe die Entsprechung der Farbenkomplementarität mit der Tonalitäts-Komplementarität erwogen. Das öffnet Wissenschaften füreinander, aber auch ästhetische Reflexionen. Das ist relativ schlichte Mathematik, von Riemannschen Zetafunktionen (glaubich) weit entfernt, nur ein bißchen Zweierpotenzen-Oktaven im Verhältnis zu den Dreierpotenzen des Quintenzirkels. Why not. Ich finde das mit den Komplementärfarben und das mit dem Tritonus erwägenswert. Muß nicht, kann aber. Es trägt aber zur Ästhetik der Sinnesempfindungen, Wahrnehmungen, Wahrheiten und zu deren sonatenhauptsatzförmigen Gestaltung etwas bei: einen dimensionenöffnenden Seitenblick.