Flucht über die Nordsee 25: Falsches Spiel

ahorn

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Falsches Spiel

„Jannettes Mutter gab sie, als Baby weg. Sie wollte sie bestrafen.“
Er tippte sich an die Schläfe. „Jetzt verstehe ich. Weil Franziska ihr Kind weggenommen hat.“
Tanja zog ihre Augenbrauen zusammen. „Wie bitte!“
Toni zuckte mit den Achseln. „Na Alina. Alina ist doch Jannettes Tochter?“
Nun zeigte sie ihm einen Vogel. „Quatsch. Wer hat dir den diesen Blödsinn erzählt.“
Toni stützte die rechte Hand in seine Taille und schwang seine Hüfte nach links. „Du hast mir gesagt, dass du …“
Tanja legte ihren Handballen auf ihre Stirn. „Die eine Geschichte hat mit der anderen nichts zu tun“.
Hörbar einatmend, wandte sie Toni ihr Gesicht zu, stütze ihre Wange auf und flötete ihm entgegen: „Nein, ich meinen den Fehler mit der Wette“.
Seine Hüfte schwingend, hüpfte Toni auf das Sofa. „Warum? Ich habe gewonnen.“
„Nein. Du hättest die Sophia sowieso zu deinem Geburtstag bekommen. Ich mein die Wette mit dem Admiral.“
Toni fiel auf das Sofa, ließ all Etikette vergessen, setzte sich in den Schneidersitz und zupfte an seinem Ohrläppchen.

Waren alle seine Anstrengung für die Katz gewesen? Das Martyrium, welches er angenommen hatte, vollkommen ohne Sinn. Zumindest von seiner Warte aus. Tanja sowie der Admiral schien es anders zu sehen. Daher zog er, um Abstand zu gewinnen, seinen Oberkörper zurück und fragt: „Welche Wette?“
Tanja leckte sich die Lippen, schnalzte mit der Zunge. „Als du letzte Woche mit dem Hochzeitskleid in der Küche erschienen bis, haben wir gleich wieder an Josephines Hochzeit gedacht.“ Sie grinste. „Wie niedlich du in dem rosa Kleid ausgesehen hast.“

Es war raus. Das jahrelang verdrängte, holte ihn an diesem Tag ein. Er hatte keinen Schotten gespielt. Bärbels Fehler war es gewesen, vermessen hatte sie sich. Das Kleid war bestimmt für ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Josephine platze vor Wut, als sie ihn sah. Ihr Traum in Weiß mit einem Blumenmädchen, welches ihr vorweg schreitet, zu heiraten bekam einen Kratzer.
Anfangs waren Tanja sowie er nicht zur Feier geladen, wenngleich, wie der Admiral ihr erzählt hatte, beide früher Freundinnen gewesen waren. Eigentlich war Tanja weiterhin ungeladen, obwohl er, wie ein Märtyrer für sie gekämpft hatte.
Seine Schwester überredete ihn, einzig, dieses schwor sie mit ihrem Blut, für die Trauung die Rolle zu übernehmen. Schließlich hatte Bärbel an ihm Maß genommen, somit passte ihm das Kleid wie angegossen. Weshalb das Nachbarsmädchen von ihrer Pflicht geflohen war, hatte er damals nicht gefragt. Er war zu jung, um dem Admiral zu widersprechen. Oder? Er zupfte am Saum seines eisblauen Etuikleides. Dabei hasste er Kleider. Zu mädchenhaft. Im Laufe des Tages hatte es ihm sogar mit Ausnahme des Fototermins Spaß bereitet. Sein Freund mimte in einem schwarzen Anzug den Blumenjungen. Händchenhalten sollte er ihm einen Kuss auf die Wange drücken. Das ging zu weit.

Abscheulicher waren die Monate später. Diese waren eine Qual für ihn. Er war bei ihren Spielen am Deich nicht mehr der tollkühne Pirat, sondern musste die Rolle der Prinzessin übernehmen. In einem alten stinkenden Kleid am großen Mast von den bösen Freibeutern entführt, gefesselt, ausharren, bis die Guten ihn befreiten. Er am Abend, mit einer nicht nur von Angst nasser Unterhose, nach Hause schlich.
Für ihn eine Qual, bis an den Tag, an dem er sich schwor, nie so zu werden wie die Jungen und … Tonis Fingerspitzen betasteten den eisblauen Stoff, er dachte an sein Gelübde, einen weiten Bogen, um Kleider zu schlagen.
An jenem Tag, an dem die Spielkameraden ihn in den Schwitzkasten nahmen. Sie seinen Schädel auf den Hackklotz drückten, und sein bis dahin bester Freund mit einem Hammer versuchte, einen Nagel durch sein Ohrläppchen zu treiben.
Tanja kam dazu, jedoch, anstatt diese Tyrannen zu bestrafen, schleppte sie ihn zum Juwelier. Der verpasste ihm Ohrlöcher, weil er sie vor Angst aufgeklärt hatte, echte Piraten trügen Ohrringe. Was in diesem Stande der Gepflogenheiten entsprach, hingegen nicht der Grund war.
Nie wieder war er ohne Eskorte am Deich gewesen.

„Ich verstehe nicht“, murmelte er, derweil er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
Tanja wandte sich ab, strich mit der Zungenspitze über ihre Zähne. „Wir haben gewettet, wenn Bärbel es schafft, dass du im Kleid, du weißt schon, dann kommst du ins Internat.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir waren betrunken.“ Die Lippen gepresst griff sie sich von vorn ins Haar, presste ihre Fingerspitzen an die Schläfen. „Deswegen habe ich dich am Samstag gequält, damit dir der Spaß missfällt. Wir hatten abgesprochen, die Sache anders zu regeln.“ Sie stütze ihr Kinn auf. „Dass der Admiral …“
Tanja stand auf, holte einen Rucksack. „Den habe ich im Keller gefunden. Ich habe ihn nicht aufgemacht. Ich kann mir aber vorstellen, was drin ist.“ Sie drückte ihm den Sack in die Arme. „Schau rein. Dann weißt du, was sie vorhatte?“
Toni betrachtete den Harry-Potter-Rucksack, es war Tanjas. Er erkannte diesen an der beschädigten Schnalle. Eigentlich war es seiner. Er hatte Weihnachten zu heftig daran gezogen. Geweint hatte er. Tanja hatte hierauf ihm ihren gegeben. Er öffnete ihn so weit, wie es vonnöten war, um hinein zu spähen. Kein Föhn entdeckte er. Mädchenkleider erblickte er, welche er nie zuvor gesehen hatte.
Er stellte den Rucksack zur Seite. „Ja. Da sind meine Sachen.“
„Ich wollte dich nicht mehr hier haben.“ Sie erfasste seine Hand. „Dich nicht damit hereinziehen. Ich wollte sagen, du seist krank.“
Toni hob die Achseln. „Was ja stimmt. Torben hat Grippe.“ Er legte seine Finger auf Tanjas Schlüsselbein. „Was ist mit deinem Kind?“
„Tot ist es!“ Ihre Augen trübten sich. „Gleich nach der Geburt gestorben“.
Tonis Atem stockte. „Wann?“ Er runzelte seine Stirn. „Wo?“
„In Südafrika“, antwortete sie. „Wäre heute so alt wie du.“
Er zupfte am Ohrläppchen, griff sich zugleich ans Kinn. „Vor oder nach dem Unfall?“
Tanja presste ihre Lippen, ballte die Finger, zog die Schultern an den Hals und massierte mit der rechten Hand ihren linken Zeigefinger. „Ich weiß es nicht mehr“ Sie wandte sich ab. „Kurz vorher, kurz nachher. Ich stand damals unter Schock.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Als ich dich vorhin in dem aparten Kleid im Trausaal Hand haltend mit Alina angesehen habe. Da dachte ich ...“ Sie legte ihre Finger auf sein Knie. „Nein! Du warst mein Kind. Immer, wenn ich ein Kind in deinem Alter sehe, denke ich, es könnte meines sein.“ Sie fuhr so weit herum, sodass sie ihr Gesicht dem Fenster zuwandte. „Dabei ist es tot. Tot!“ Die Augen geschlossen, presste Tanja ihre Handflächen an ihr Brustbein. „Ich stand am Grab.“

Toni überkreuzte seine Arme und umklammerte seine Schulterblätter. Er flüsterte: „Dein Herz sieht was anders“.
„Ja“. Sie drehte ihre Hände, als könne sie in ihnen lesen. „Ich habe sie nie im Arm gehalten. Ich konnte mich nie von ihr verabschieden. Ich habe mir eingeredet, sie würde leben“, murmelte sie und umschlang Tonis Taille.
„Sie?“
„Ja!“ Tanja zwinkerte ihm zu. „Ein Mädchen.“
Wenn ihre Geschichte wahr war, und einen wahren Kern hatte sie sicherlich, dann war ihm endlich bewusst, warum sie ihn immerfort in einer Weise behandelte, welche ihm nicht gefiel.
Oder war sie gar verrückt geworden? Hatte sie der Schmerz in den Wahn getrieben. Toni zupfte an seinem Ohrläppchen. Zumindest erklärte dieses ihm, weshalb er ihr in einem eisblauen Etuikleid gegenübersaß, sie seine Taille umschlang und er ihre Wange streichelte.
Mit einem Ruck zog er seine Hand zurück, steckte sie sofort unter sein Gesäß, als müsse er sie verstecken.

„Am schlimmsten waren die ersten Jahre. Da warst du“, sie lächelte ihn an. „Na ja. Ich erinnere mich, als wäre es wie heute. Ich habe dich das erste Mal auf den Arm genommen.“ Sie hielt ihre Arme, als hätte sie ein Säugling in Arm. „Dann habe ich meine Bluse aufgeknöpft und du …“
Er verzog sein Gesicht. „Wie, ich habe deine …?“
Ein Brechreiz stieg Toni vom Magen ausgehend in die Kehle auf.
Sie hob ihre Busen. „Ja. Sophia war tot und Bärbel, wie …“, sie grinste, stütze ihr Kinn mit dem Handballen ab und trommelte mit den Fingern auf ihrem Mund. „Du warst meine Tochter.“
„Antonia?“
Sie legte ihre Hände in den Schoß. „Warum glaubst du, ruf ich dich Toni?“ Sie hielt ihre Finger, wie Frau Holle beim Aufhängen ihrer Wäsche. „Ich habe dir niedliche rosa Strampler gekauft. Wenn mich Passanten ansprachen, dann sagte ich ihnen, du seist meine Tochter.“ Sie grinste. Aus dem Grinsen gedieh ein Lachen. „Der Admiral ist immer ausgeflippt.“ Ihr Anglist versteinerte. „Es hat sich mit den Jahren gelegt, du bist mein Geschwisterchen und damit genug.“ Sie faltete die Hände, legte sie hinter ihr Genick. „Nicht einmal der Auftritt bei Josephines Hochzeit hat mich aus der Bahn geworfen. Empfand es als witzig. Allein das Gefühl, sie könnte leben, machte sich breit. Ich habe sie gesucht.“

Seemannsgarn verknotet sich. Diesen Knoten fand Toni häufig in Nahnes Geschichten. Er nahm jene hin, macht nie seinem Großvater darauf aufmerksam.
„Du suchst sie, obwohl sie tot ist?“
„Ich stand an ihrem Grab, habe sie nie in meinen Arm gehalten, verstehst du nicht.“ Sie winkte ab. „Vielleicht bist du dafür wirklich noch zu klein. Las uns das Thema wechseln!“
Toni verschränkte seine Arme. Ihr Satz war eine Falle. Wenn Erwachsene davon sprachen, dass Kinder für ein Thema zu jung wären und dieses sogar betonten, dann forderten sie jene heraus. Sie verlangten gar die Teilnahme. Er kannte diese Manie. Meist ging er nicht darauf ein. Jedoch diesmal, in dieser Situation, die ihn alles andere als erquickte, gab er ihrem Verlangen nach.
Er konzentrierte sich, um sie herauszufordern. Ihr, das niedliche Mädchen vorzuspielen. Für das Tanja, wie sie ihm erzählte, ihn gehalten hatte. Dieses ließ ihn erschauernd, möglicherweise brachte es ihn weiter.
Er verbarg seinen Mund, riss die Augen auf und mit einer schrillen Stimme, sogleich einem Vibrato, welche einzig Mädchen reserviert waren, fragte er: „Dann ist Alina deine Tochter?“
Ein Vibrieren durchfuhr Tanjas Körper. „Nein!“
Da sie beim Ausspruch des Neins beinahe ihre Halskette zerriss, log sie oder zweifelte mindestens.
Bevor er darüber nachdachte, fuhr sie fort: „Der Admiral arbeitet im Amt. Geholfen hat sie mir“, gab sie erzürnt von sich und tippte an ihre Stirn. „Um mir zu zeigen, dass ich spinne. Dann lernte ich Jannette kennen. Sie erzählte mir von Alina.“

Es nervte Toni, weshalb sie nicht auf den Punkt kam. Ich wollte dich nicht mehr hier haben. Toni zupfte an seinem Ohrläppchen. Tanja hatte den Satz ihm entgegengeschrien. Hatte er eine andere Bedeutung. War es eher ein schützender als ein ablehnender Satz. Es gab für Toni eine logische Erklärung, welche fast alle Aspekte vereinte. Tanja hatte sich schlichtweg verplappert. Bei irgendeinem Besuch hatte sie mehr preisgeben als ihr Zustand. Anstatt mit ihm zu sprechen, hatte sie mit dem Admiral ihren schwachsinnigen Plan ausgeheckt. Dann nach seiner Ankunft festgestellt, dass dieses keine gute Idee war. Er musste verschwinden. Nein! Er als Antonia musste verschwinden. Am besten theatralisch, damit es niemand verpasste.
Sein Körper kribbelte. Statt einen Krimi zu lesen, war er mittendrin.
Den Satz, 'Ja ich mache es' bereits auf der Zunge, erhob Tanja ihre Stimme: „Alina ist nicht Franziskas Tochter, sie haben sie angenommen.“
„Du bist zu Franziska?“, fragte er, ohne darüber nachzudenken.
„Quatsch“, fauchte sie. „In jenen Tagen habe ich das nicht gewusst. Erst am letzten Wochenende habe ich das erfahren.“
Toni sengte seinen Kopf, schielte dabei in ihre Augen. „An dem Wochenende, an dem du angeblich von Spitzbergen kamst?“
„Wer hat dir das erzählt?“ Tanja flechte ihre Zähne. „Alina das Schnattermaul. Ja, ich war hier.“
Er spitzte seine Lippen, legte die Hände auf Tanjas Knie. „Du bist gleich am Samstag zurückgeflogen?“
Tanja verzog den Mund, schaute zur Decke. „Nein. Ich hatte in Bremen etwas zu erledigen. Der Admiral sollte davon nichts wissen.“
„Hat das mit Alina zu tun?“
Tanjas Finger bildeten eine Raute. Sie wisperte: „Direkt“, dabei sah sie ihn, wie eine Wölfin vor ihrem Angriff, an. „Nein!“



Intermezzo mit sich selbst

Paul trottete dem resolut die Straße entlang marschierenden Vater hinterher. Vater war das falsche Wort, eher: Erzeuger. Sein Papa hieß Franz und wurde vor drei Jahren hingerichtet. Von dem Mann, hinter dem er sich herschleppte. Herbert, seines Zeichens SS-Standartenführer, hager, mit fadem Gesicht und kaum größer als sein oberster Vorgesetzter, dafür stramm im Schritt. Selbst hatte er nicht Hand angelegt an Franz, trotzdem war er verantwortlich. Aber eins nach dem anderen.

Herbert, Franz und Hildegard, Pauls Mutter, waren in der guten alten Zeit, wie man sagte, mehr als enge Freunde. Kampfgenossen. Verbrüdert für bessere soziale Verhältnisse am Ende der wilden Zwanziger. Sie waren Kommunisten und für ihre Epoche eher freizügig. Hildegard erwartete eine ansprechende Mitgift und Franz war ein Mann von Welt, daher für Frau Mama der charmantere Schwiegersohn von beiden. Dass er sich nichts aus Frauen machte, spielte dabei keine Rolle. Der Rest ergab sich.

Das Dreierbündnis plus eins lebte weiter in ihrem Dunstkreis, bis Herbert der Ansicht war, dass die Botschaft des Mannes aus Österreich ihn eher überzeugte als die des Herrn aus Trier.
Zeitweise gab es keine Probleme. Erst 1933 zerbrach der Pakt.
Herbert verschwand aus Pauls Leben. Paul verzog mit den Eltern nach Hamburg, dem Tor zu Welt. Abhauen wollte seine Mutter, aber Franz, Optimist von Beruf, war fest davon überzeugt, dass es sich mit den Braunen bald erledigt hätte.

1939 bekam er einen netten Brief, unterzeichnet von Herbert – Franz‘ Einberufung. Das letzte Mal sah er seinen Vater, dann verschwand er. Hildegard heiratete erneut: Herbert! Im Gefolge der Truppen marschierte er samt Familie in die befreiten Gebiete ein, um den armen frankofonen Belgiern in Charleroi die Segnungen des Deutschtums nahezubringen.
Die Arbeit, die er vollzog, musste ordentlich gewesen sein, denn nach kurzer Zeit wurde er nicht nur befördert, sondern auch nach Antwerpen versetzt, um eine weitere Gruppe jüdischen Glaubens von Hab und Gut zu befreien. Eine Tätigkeit, die sowohl sein Ansehen sowie sein Vermögen steigerte.

Dieser Herr hatte einen strukturierten Tagesablauf, zu dem nicht nur der mittägliche Braten – jeden Tag gab es Braten, gehörte. Auch der Nachtisch wiederholte sich, wie der Sonnenaufgang. Paul bekam seine Lektüre, die Bibel des deutschen Mannes. Die Mutter, nachdem ihr Gatte sie mit der Gerte liebkost, hatte, die Aufgabe, ihren ehelichen Pflichten nachzugehen. Dann wurde es familiär. Vater und Sohn kontrollierten ihr Revier.

An diesem Tag kehrten sie getrennt heim. Eine Gruppe Soldaten zerrten eine Frau und ein Kind aus einem Hauseingang auf den Bürgersteig. Dienst bewusst marschierte Herbert auf sie zu. Nach Austausch des militärischen Grußes, um genau zu sein, der Vaterlandsverteidiger erwiesen die Ehrenbezeigung und Herbert hob nur seine Nase höher, als er sie bereits zuvor trug.
„Was geht hier vor?“, donnerte er ihm knapp entgegen.
Der Hauptmann der Wehrmacht salutierte abermals, ergriff erneut den Schopf der Frau. „Verräter am deutschen Volke!“
Pauls Vater sah kurz, auf die auf dem Boden liegende herab. „Juden?“
„Schlimmer“, entgegnete der Offizier. „Blutschänder!“
Herbert wandte sein Gesicht dem Sohne zu. „Paul, was ist schlimmer, als ein Tier zu sein?“, fragte er wie ein Oberlehrer.
Der Junge schaute zu ihm herauf und stotterte: „Blutschande mit einem Tier?“
Das Familienoberhaupt strich zustimmend über den Schopf des Knaben, zog die Walter PP aus dem Halfter, legte die Mündung an die Schläfe der Festgehaltenen und krümmte den Zeigefinger. Einfach so!

Die Frau brach zusammen, Blut spritze auf die Uniform des Landsers. Herbert nahm die Waffe in seine Linke, drückte sie Paul in die Hand. Wortlos zeigte er auf das Mädchen, welches sich schreiend, auf ihre Mutter warf.
Sein Sohn starrte auf den Leichnam, auf das Kind, schrie, schleuderte das Todeswerkzeug aufs Pflaster, rannte davon.


In Tanjas nüchternem Bad saß Toni mit überschlagenden Beinen auf dem Klodeckel und steckte sein Smartphone in die Handtasche. Er kannte den Text auswendig. Der Anfang der fünften Geschichte seine Krimisammlung Das blutige Messer brachte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Er identifizierte sich mit Paul, dennoch war es ihm bewusst, dass er es besser hatte.
Er musste kurz für sich sein, verdauen, was er erfahren hatte. Toni presste seinen Oberkörper auf sein Knie.
Wer log, wer sagte die Wahrheit? Im Geiste deckte er alle Memory-Karten auf, um ihr Übereinstimmen zu überprüfen.
Das erste Paradoxon löste sich zur Fusion bereit auf. Der Admiral hatte keinen Einspruch zu seiner Transformation gehabt, da die Hochzeit nicht stattfinden sollte. Nur, wo war das passende Blatt zu Bärbels Vorteil. Dass sie von Tanjas sexuellen Vorlieben wusste, schloss er aus. Und wenn, was hätte sie davon? Ein neues Paradoxon manifestierte sich ihm.
Er wandte sich im Geist dem zweiten Spiel zu. Alina.
Sein Gefühl, ihr Gerede, hatte ihn nicht getäuscht, sie war adoptiert. Bloß, wer waren ihre Eltern? Waren es Jannette und der falsche Stephen, wie sie ihn bezeichnetet?
Er schloss diese Annahme erst einmal aus, blieb logisch. Toni präferierte das Resultat, ihr Erzeuger war ein Fremder. Mit niemandem verwandt. Wenn doch, wer kam infrage?
Ein Bild offenbarte sich ihm, das Anglist seines sogenannten Stiefvaters. Er grinste bei dem Gedanken.
Langsam wurde er verrückt. Für ein paar Sekunden verschmolz er lückenlos mit Antonia, mutierte zu Tanjas Tochter. Trotzdem ließ er die Karte offen.
Stephen war Valentins Sohn, obwohl er zurzeit keine roten Haare hatte. Wenngleich Toni nicht ausschloss, inwiefern er welche hatte. Entweder war sein Schopf gefärbt, oder er trug eine Perücke, falsch wie vieles andere an ihm.
Die Mutter? Jannette. Wer war sie? Ein Hirngespinst von Alina?
Von der Schwester? Nein. Dann spannen beide.
Er riss sich zu einem Gedankenexperiment hin. Was wusste er von Tanja, seiner Schwester?

Augenzwinkernd setzte er alles auf null, definierte, sie sei Franziskas ominöse Tochter, damit eliminierte er das Paradoxon. Die Rache wallte auf Tanja über, es gab keine lesbische Freundin, somit schloss er Bärbel in das Komplott mit ein.
Seine Schwester war nicht rothaarig. Ein Sachverhalt, den er einkalkulierte. Entweder hatte sie die Erbanlage nicht übernommen, oder sie färbte ihre Haare.
Nach ihrer Aussage hatte sie ein Kind, ein Mädchen, geboren. Ein weiteres Kartenpaar vereinigte sich. Sie hatte behauptet, dass sie ihn im Standesamt angesehen, aus diesem Grund ihren Entschluss revidierte hatte. Eine Lüge, denn sie hatte Alina beobachtet.
Wenn Tanja identisch mit Jannette, dann log seine neue Freundin, denn sie musste sie erkannt haben. Gut, sie schwindelte. Warum hatte sie in diesem Fall etwas gegen die Hochzeit einzuwenden?
Er zupfte an seinem Ohrläppchen.
Es sei den Stephen wäre wirklich ein Schwindler.
Die zweite Alternative wollte er nicht zu Ende denken. Zu abstrus waren für ihn die Folgen.
Dementsprechend war seine Annahme falsch. Der Beweis ihm missglückt. Tanja war nicht Franziskas Tochter.

Das Wort Tochter kreiste ihm erneut durch den Kopf, und verwandelte sich zu einem Geschlechtsakt. Tanja hatte ihm gestanden, dass sie nicht an dem Tag nach Passau zurückkehrte, an dem sie sich von ihm verabschiedet hatte. Jedoch hatte Alina ihm gesteckt, sie wäre dort gewesen, und sie hätte mit einem Mann geschlafen. Entweder log Tanja oder Alina. Wenn sie log, dann deckte sie jemanden anders, hatte ein Geheimnis. Oder? Oder sie hatte sich beim Tag vertan. Er musste es herausbekommen.

Toni stand auf, schlich zum Badezimmerspiegel. Er benetzte einen Zeigefinger, strich über seine Augenbrauen. Es war mehr als ein Spiel. Fäden spannen sich von ihrer Familie zu den Oberländern. Er hatte nicht genug Memory-Karten gesehen, um den Satz zu gewinnen. Detektivin müsste er sein. Wie Amanda X in Rollen springen, um den Täter zu überführen.
Er nahm einen Flakon vom sonst leeren Waschtisch. Tanjas Lieblingsparfüm. Der Duft kroch ihm in die Nase. Sein Zeigefinger drückte den Zerstäuber herab. Eine Wolke löste sich und schwebte auf seinen Hals zu.
Er murmelte: „Ich bin Antonia“.
Ein weiterer Schleier segelte auf die Haut.
Den Nebel einatmend. Flüsterte er mantrahaft: „Tanjas Tochter. Tanjas Tochter. Tanjas Tochter“.

„Toni, wo bleibst du den. Bist du eingeschlafen.“
Tanjas Stimme brachte sie wieder in die Realität.
Sie schaute sich um. „Toni ist nicht hier Mama.“ Antonia verließ das Bad, strich sich eine Strähne von der Stirn und kicherte.



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