zurück zum 24. Kapitel Alles Lüge
30. Verdichtung
Sabine stand vor dem offenen Kamin, umkrallte den Schürhaken mit beiden Händen. Die Spitze des Werkzeuges wies zur Decke. Tiefrotes Blut rann über das Eisen, benetzte ihre Finger. Zwei nackte Arme umklammerten ihren Körper, pressten ihre bebenden Oberarme an ihren Brustkorb, rissen sie vom Tatort weg.
Ohne dass ihre Kräfte schwanden, zog die Frau sie ans andere Ende des Zimmers. Sie überragte Sabine um zwei Handbreit. Ihr pechschwarzes welliges Haar fiel auf ihre muskulösen Schultern.
»Kind, was hat du getan!«, atmete sie schwer. »Ich habe die Tür nicht entriegelt, damit du ihn tötest. Fliehen solltest du!«
Sabine starrte auf den leblosen Körper. Das Blut rann ihm aus dem aufgehakten Schädel, bildete eine Lache, die das pechschwarze Gewand begierig aufsog. Den Haken senkend glitt sie aus den Armen der Frau, kniete nieder und weinte.
Mit erhobenen Arm deutete die Frau auf den Leichnam. »Du bist eine Mörderin!«, rief sie.
Mit ihren zitternden Finger verdeckte sie ihre Augen. »Es war Notwehr«, entgegnete Sabine und bibberte.
Die Schwarzhaarige schritt zum Tatwerkzeug. »Notwehr!«, schrie sie. »Einen wehrlosen Mann von hinten erschlagen, nennst du Notwehr!«
»Er hat mich entführt, gepeinigt«, stotterte Sabine.
»Vielleicht bekommst du mildernde Umstände, aber eine Mörderin bleibst du.«, grunzte die Fremde. »Den Rest deiner Jugend wirst du im Gefängnis verbringen.«
Jenny schaute zur Terrassentür. »Egal. Ich gehe dort rüber ins Bauernhaus. Die werden mir helfen.«
Die Frau verschränkte die Arme. »Das würde ich bleiben lassen«, zischte sie. »Was glaubst du, warum du hier bist?«
Die Augen aufgequollen wandte Sabine ihren Blick der Anderen zu. »Wie?«
»Hey Mädchen, das ist ein Bordell«, antwortete die Kräftige knapp.
Sabine zuckte zusammen, kroch in eine Ecke des Raumes, umschlang ihre Knie.
Die Frau rollte mit den Augen. »Vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Ich habe dir doch gesagt, dass ich die Tür aufgeschlossen habe.« Sie schritt auf die Zitternde zu, kniete sich nieder, legte ihre Rechte auf Jennys Knie. »Ich heiße Thekla«, hauchte sie. »Und du?«
»Sabine«, wimmerte sie.
Thekla presste die Lippen zusammen. »Ich bin nur eine einfache Hausdame.« Ihre Hand zeigte auf den Toten. »Kümmer mich um Rudolf.« Sie sah zur Decke. »Und um die Mädchen die ...«
»Er entführt!«, fuhr ihr Sabine in den Satz.
»Er!«. Thekla schüttelte den Kopf. »Er ist nur der Diener.« Sie senkte den Blick. »War der Knecht.« Sie schürzte ihre Oberlippe. »Hatte Mitleid mit dir. Hätte selbst nie gegen seine Herrin aufbegehrt.« Ihre Hand glitt über Jennys Knie. »Du bist nicht das erste Mädchen, welches ich befreie.« Sie ballte ihre Rechte zu einer Faust. »Aber das Erste, dass ihn erschlagen hat.« Ihr Blick fiel zum Bauernhaus. »Egal, du musst hier weg.«
Erhobenen Hauptes stand Thekla auf, schritt zu einen Stuhl.
»Hier!«, schnaufte sie und warf Sabine einen Mantel zu. »Mit deinem Outfit kannst du nicht auf die Straße.«
Sabine fing den Mantel auf, richtete sich auf und zog das Kleidungsstück über ihre Dessous. »Wohin gehen wir?«, stotterte sie.
»Unten am See habe ich eine kleine Hütte«, antwortete Thekla. »Die kennt niemand. Da kannst du erst einmal bleiben.« Sie schaute sich um. »Bis ich die Lage gecheckt habe.«
Der Text brachte sie wieder runter. Es gab viele Menschen, die mehr litten. Trotzdem oder deswegen hielt sie ihr Verhalten für übertrieben. Wie ein kleines Mädchen geschrien, die angewidert eine haarige Spinne auf ihrer Hand aufspürt. Nur dass sie keine Tarantel, sondern eine Perücke gegen die Wand geschleudert hatte. Um dann zu allem Überfluss schluchzend in die Arme dieses Mannes zu sinken. Sie sich an seinen Körper schmiegte, gestreichelt wurde, wie sie es der Schwester erlaubt. Und der Grund. Eine großflächig vernarbte Glatze, die sie angelächelt hatte. Nichts weiter. Keine herausquellende Gehirnmasse oder platinfarbene Schädeldecke erschraken sie, wie in ihren Büchern. Trotzdem tat es ihr gut von ihm getröstet zu werden. Sie vergaß kurz, dass ein Kerl sie betatschte. Stephen berührte sie wie eine liebevolle Mutter. Obwohl sie genauso gelogen hatte, wie er sie zuvor beschwindelte.
Stephens Erklärung hallte erneut in ihrem Kopf. Ein Motorradunfall hatte ihn entstellt. Mit einem gekünstelten Lachen hatte er ihr erzählt, dass er dabei zum Ersten und letzten Mal einen Spagat geschafft hatte. Den Hintern hatte er sich aufgerissen, sowie Brandwunden am ganzen Körper zugezogen.
Antonia schüttelte den Kopf. Verbrennungen, sinnierte sie. War er wie Eyel Knievel durch einen brennen Reifen geflogen oder das Motorrad wie in einem unrealistischen Actionfilm explodiert? Nein! Dass Stephen verunglückt war, hatte sie gehört, aber die Brandmale stammten woanders her.
Sein Bericht machte sie hellhörig. Kein Haar spross seitdem mehr aus seiner Haut. Der Umstand an sich, für Antonia belanglos, nur die Geschichte von Alina, wenn sie der Wahrheit entsprach, erschien in einem anderen Licht. Stephen nicht der Mann von dem Tanja die Körpersäfte empfangen hatte. Welcher Kerl hatte sie bestiegen? Wer konnte von Franziska unbemerkt die Privatgemächer aufsuchen?
Matthias strich sie als Erstes von seiner Liste. Fridolin flog ebenfalls davon. Er und Aishe lebten in Stuttgart, sie nahm nicht an, dass er für ein kurzes Liebesabenteuer extra nach Niederbayern fuhr. Ein Name verblieb. Valentin!
Antonia betrat den geschmückten Saal. Die Tische gedeckt. Die ersten Gäste mit Gläsern bewaffnet, harrten sie aus, warteten auf den Einzug des Brautpaares. Sie kannte niemanden, ob aus der Gemeinde oder entfernte Verwandtschaft des Bräutigams. Die eine, die andere ältere Frau lächelte sie an. Vermutliche eine von den Damen, die sie beim Rundgang durchs Dorf erblickt hatte.
Wie ein armseliger Hering, der bei einem Angriff eines Hundshais aus seinem Schwarm getrieben wurde, streifte sie durch die Stuhlreihen.
Eine Gruppe Mädchen gackerte in einer Ecke des Saals, alle wie sie in festlichen Gewändern, meist in bunten Partykleidern. Nur eins war nicht herausgeputzt, nicht geschminkt, nicht feierlich frisiert. Sie trug keinen Rock, sondern eine himmelblaue Latzhose und ihr kastanienbraunes Haar hing ihr wirr über die Schultern.
Alina winkte ihr zu. Die jungen Mädchen alle in ihrem Alter erblickten Antonia. Eins nach dem anderen löste sich aus dem Pulk, trieb auf sie zu, umschmeichelten sie mit einem Lächeln, verband sich mit ihr durch einen nicht endenden Redefluss. Bis die Freundin allein in der Ecke zurückblieb.
Ein neuer Schwarm hatte sich gebildet. Gemeinsamen schwammen sie nach draußen in den Garten. Die Sonne schien durch eine Lücke in den bleigrauen Wolken, spendete nochmals ihre Kraft.
Es waren wieder die Jungen, die ihrem Naturell folgten, dass sie die Besseren seien. Sie forderten die Mädchen zu einem Fußballspiel heraus. Die Ladys in Überzahl nahmen die Herausforderung an. Erst nachdem sich die Braut zu ihren Geschlechtsgenossinnen gesellte, stellte sich Zweifel über die Gewinnchancen ein. Ein Girl in marineblauem Kleid und gleichfarbigen Slingpumps, dessen strassbesetzte Absätze in der Sonne blitzten, bot sich an, die Grenze zu überschreiten. Den Knaben trieb es die Schamesröte ins Gesicht, bei dem Gedanken, einen Rock in ihrer Mannschaft zu wissen. Worauf sie Alina auswählten, die Geschlechtergrenze zu übersteigen. Denn sie trug Hose.
Die weiblichen Mitspieler ordneten sich in einer Reihe auf. Mit einem wortlosen Kommando ihrer Spielführerin Tanja, tasteten sie sie an ihren Beinen herauf, fasten den Bund ihrer Strumpfhosen. Ohne ihre Scham zu entblößen, glitt der feine Stoff im Gleichtakt über ihre Schenkel. Wie im Ballett schmiegten sie ihre Gesäße auf die hölzernen Bänke. Ihre rechten Waden berührten die Knie. Die Finger knüllten die Strümpfe, bis sie ihren Schuh erreichten, der von ihnen schwebte. Mit Daumen und Zeigefingern zupften sie an ihren Zehen und befreiten ihre Füße. Ohne einen verbalen Befehl legten sie ihren linken Unterschenkel auf und vollendeten ihre Vorführung, bis die Frühlingsluft ihre nackten Beine umspülte.
Das Spiel endete zur vollen Zufriedenheit aller 6:1. Die Jungen in ihrer Einfachheit jubelten mit ganzem Körpereinsatz, trugen den mehrfachen Torschützen auf ihren Schultern. Die Mädel erfassten schüchtern in ihrer Weisheit, wen sie feierten. Begnügten sich mit ihrer Heldin, die kurz vor Abpfiff einen Fehlpass von Matthias verwandelt hatte. In einer grazileren Art tippte sie den Ball mit ihrem rechten großen Zeh an, wie eine Prinzessin, die einen Verwunschenen in Gestalt einer Kröte mit spitzen Lippen erlöste. Die Torschützin mit den von einem Anker gezierten Ohrkettchen verschmolz mit ihrer Gruppe. Gemeinsam vollführten sie mit geänderter Reihenfolge ihr Beinballett.
Heiße Rhythmen erklangen aus dem Saal, wie ionisierter Wasserstoff trennten sich die Mädchen von den Jungen, stürmten die Tanzfläche. Die Knaben trafen vereinzelt ein. Entgegengesetzt des Naturells von Elektronen schwärmten sie nicht um die Wolke der Protonen, sondern verharrten steif am Rande des Geschehens. Der Takt der Musik wurde bedächtiger und das eine oder andere Männchen begab sich in den Pulk der Hüpfenden. Immer mehr Jungen drangen in den Schwarm ein, führten ihre Balztänze auf. Der DJ, ein sportlicher Mann aus dem Dorf mit geltriefender Haarpracht, spielte langsamere Stücke, sodass die Kernbausteine ihre Leptonen einfingen und die älteren Semester dem Schauspiel beitraten. Der eine oder andere wechselte noch einmal den Partner, bis die Anzahl der Tanzpaare die kritische Masse überschritt und das Feuer des Sterns zu brodeln anfing. Alt und Jung schwangen ihre Hüften im Rhythmus von Songs der Siebziger- und Achtzigerjahre, kurz aber heftig, bis der blaue Riese nach flüchtigen Leben wie eine Super Nova zerbarst. Er warf seine Hülle aus Alten und kindlichen Paarungen ab, schnurrte zusammen, bis die Bestandteile die elektromagnetische Abstoßung überwanden und die starke Kernkraft die Macht übernahm. Aus Doppelpacks bildeten sich Neutronen.
Nur ein Paar vermisste man auf der Tanzfläche - in dem Neutronenstern.
weiter zum nächsten Teil 31. Sodom