Flucht über die Nordsee 70. Der Täter fehlt

ahorn

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Der Täter fehlt

Unser Kind! Unser Kind, waren Klaras letzten Worte gewesen, bevor sie ihn verlassen hatte, plötzlich wie sie erschienen war. Diese zwei Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. War es ein Versprecher ihrerseits oder ein gezielter Hinweis von ihr gewesen? Sprach sie als Klara oder Tanja? Die Kombination Klara und er schob er beiseite, denn er hätte ihr nie bei geschlafen. Sie war mehr Tochter als Frau für ihn. Unser! Klara war mit Stephen verheiratet. Der Fingerzeig mit der Schwangerschaft, eine Metapher symbolisierte einen Akt aus der Geschichte. Nein! Zu abgefahren. Klara strich er.
Joos pellte sich aus seiner Uniformjacke, öffnete sein Hemd und wedelte sich Luft zu.
War es das, was Tanja ihm im Geländewagen sagen wollte? Die Worte, die er als kindliches, weibliches Geschwafel abgetan hatte. Sie daraufhin wutentbrannt ausgestiegen war. Die Nacht mit ihr nicht folgenlos gewesen?
Drei Mädchen verlangte er zu sehen. Der Zusammenhang einzig der, dass sie die Kinder der Misshandelten oder alle verwandt mit ihm, Sprösslinge erstens, zweiten Grades von ihm waren.
Die erste Variante schloss er aus. Josephine hatte außer seinem Enkel kein Kind, außerdem war es ein Junge.
Er fuhr sich durch die Haare.
Ein Junge? Bärbels Neffe. Er lebte, da hatte seine falsche Tinette recht, wie ein Mädchen, zog zumindest ihre Kleider an. Er schlug sich an die Stirn. Genau. Tinettes Worte geisterten in seinem Gehirn herum: Welcher Junge trägt kurze lila Shorts und Turnschuh mit Schleifchen am Hacken
„Das Mädchen an Klara Seite, bei Josephines Hochzeit“, murmelte er.
War es möglich, dass es nicht dasselbe Mädchen war, welches ihm ihre Kunst auf der Wiese gezeigt hatte? War es verwerflich, wenn ein Junge sich mit derlei Kleidern schmückte? Für ihn nicht. Jeder sollte leben, wie es ihm gefällt. Jedoch für Tinette? Es waren nicht die Worte, die sie gesagt hatte, sondern wie. Abfällig hatte sie es geäußert.
Joos raufte sich erneut seine Haare. Nach seinen Informationen war Tinette, zumindest genetisch ein Mann und hatte nach seiner Annahme, die für ihn nahe lag, als desgleichen Klara geheiratet. Weshalb sollte dann Tinette etwas dagegen, wenn sich ein Junge in Mädchenkleidern wirft. Paradox.
Wenn seine Vermutung richtig war, hatte sie den Jungen, bei ihrer Hochzeit gesehen. Was sollte das Spiel? Er definierte erst einmal das burschikose, schwarzhaarige Mädchen als Junge. Schwarzhaarig? Wenn er nach seiner ersten Probeentnahme seine Haare gefärbt hatte, dann hatte er sich nicht getäuscht. Die Blonde war weiblich. Was hatte ihm Klara gesagt? Wir haben uns Mädchen besorgt. Meine Schwester, meine Schwägerin sowie eine Freundin.
Die Blonde war seine Freundin. Nur weshalb hieß er Antonia. Wahrlich kein Name, den man einem Jungen gibt.
Er kam nicht weiter. Er benötigte wissenschaftlichen Rat. An den Zähnen reibend, griff er zum Hörer, legte wieder auf. „Drei Tage Seminar“, murmelte er, hörte seinen Magen knurren und stand auf.

Angewidert warf er das Besteck auf den Teller. Wenn er hier der Chef wäre, hätte er den Koch als Erstes eingebuchtet. Dessen Fraß vergewaltigte seinen Gaumen.
Die Beschwerde erinnerte ihn an sein Vorhaben, tief in die Katakomben des Reviers einzudringen und die Akte zu bergen.

Die Stirn gerunzelt, holte Joos eine braune Dokumentenmappe aus der Asservatenbox. Er hatte bereits aufgeben wollen. Stunden hatte er gesucht. Der Karton mit den Utensilien der Geiselnahme in einem Bereich des Archivs, in dem er nichts zu suchen hatte.
Die Mappe, welche er von Tinette bei Alfons stehlen ließ, lag in diesem Karton. Dabei war es nicht einmal seine Idee gewesen. Der Tipp kam von Wouters. Er hatte dem Vorgesetzten seine Fahrten nach Passau damit schmackhaft gemacht, dass er gegen Fridolin ermittelte, obwohl dieser für ihn ein unbedeutender Fisch war.
Nur was hatte diese Mappe in der Kiste zu suchen. Er hatte sie Wouters überreicht. Der Inhalt war belangloses kindliches Gekritzel, das er nicht lesen konnte, es war in Sütterlin geschrieben. Zum Text gesellten sich Grafiken von Segelbooten.
Er warf die Mappe auf den Tisch, schnappte sich die Vernehmungsakte.
Dünn, gerade sechs Seiten umfasste sie. Joos blätterte, bis er das Untersuchungsprotokoll erblickte. Entwickelte hatte er es, damit kein Mitarbeiter bei möglichen Missbrauchsdelikten wesentliches übersah.
Sein Zeigefinger glitt über das Papier, Name, Adresse, Geschlecht. Er erblickte weder einen Namen noch eine Adresse des Opfers. Einzig ihr Geschlecht war auf dem Formular verewigt.
„Hämatome, Hautabschürfungen, Rötungen an Fuß- und/oder Handgelenken – negativ“, murmelte er. Er runzelte die Stirn. Sie war gefesselt gewesen, zwar nur leicht, aber er hatte die Abschürfungen gesehen.
Hämatome, Hautabschürfungen, Rötungen am Hals – negativ, las er.
Wieder falsch. Sie konnte kaum Luft holen, sprechen. Für ihn ein eindeutiger Beweis für eine Strangulation.
Hämatome an den Genitalien oder Schenkeln – Negativ.
Gut! Möglich! Nur der untersuchende Arzt hatte sie nackt gesehen.
Vaginalabstrich, handschriftlich dahinter ergänzt, nicht notwendig!
Keine angenehme Prozedur für ein Mädchen, aber für eine spätere Beweislage war diese unumgängliche.
Fotos – beiliegend.
Er durchwühlte die Kiste. Kein einziges Bild fand er, weder vom Tatort noch geschweige von Tanja. Nur eine zweite Akte Zeugenaussage von geschwärzt und ausgekratzt der Rest. Es gab damals nur einen Zeugen. Der Junge, der Tanja gefunden hatte.

Er klappte den Deckel auf und zuckte zusammen. Ein Blatt erblickte er, vormals gefaltete, geglättet und abgeheftet. Ein Schriftstück, welches er seit Jahren suchte. Eine Liste von Namen teilweise umkreist oder abgehakt. Er hatte diese Tabelle geführt, weit vor dem Kidnapping. Sein Vater hatte ihn dazu beauftragt.
Nach dem Tode seiner Schwester hatte der Senior mit der Schriftstellerin Elsabeth von Knöckenhein die Stiftung gegründet. Wer diese Knöckenheim war, hatte er nie herausgefunden. Es ging ihm auch weder damals noch später etwas an. Sicherlich, derart vermutete er, war der Name sowieso nur ein Pseudonym. Jedenfalls sammelte er bei allen Bekannten und Freunden Geld.
Die Kreise bedeuteten, wer weiterhin für die Institution tätig gewesen war, der Haken für die gesetzt, die er ausschloss, mit dem Mädchenhandel in Interaktion zu stehen.
Die Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn gerunzelt, studierte er den Zettel. Es fehlten Namen, waren durch andere ergänzt. Er heftet das Blatt aus, hielt es gegen das flackernde Neonlicht. Es war ein Faksimile, ein perfektes, dennoch eine Kopie. Sogar seine Handschrift war gefälscht. Von vier Personen wusste er genau, dass sie gespendet hatten und von der Liste verschwunden waren. Einer von ihnen war Wouters.
Er hefte den Zettel wieder ab, nahm das Untersuchungsprotokoll unter die Augen. Die Unterschrift seines Chefs gekritzelt, schlug ihn in Bann.

Auf der Polizeischule hatten sie sich kennengelernt. Sie waren im selben Jahrgang. Joos aus wohlbehütetem Elternhaus hatte den Beruf gewählt, um das Verbrechen zu jagen, es auszurotten. Wouters, um Karriere zu machen. Sein Freund war nie ein guter Schüler gewesen. Joos half ihm, wo es ging, schleppte ihn praktisch durch die Ausbildung. Piet Wouters nahm jede Beförderung mit.
Er, Joos, benötigte keine höhere Besoldungsstufe, war mit dem, was er hatte, zufrieden. Geld spielte bei ihm nie eine Rolle. Sie waren ein eingespieltes Team, immer in derselben Abteilung. Nie hatte er bemerkt, ob Wouters das Recht gebeugt hatte. Nun dieses.
Das Protokoll, die Akte aufzunehmen, zu unterzeichnen war nicht in Wouters Befugnis gewesen. Für organisierte Verbrechen waren sie zuständig. Die Jahre in der Sitte hatten sie zwar gelehrt, mit derlei Delikten umzugehen, sie aufzuklären, fraglos war dieses nicht ihre Tätigkeit. Erst recht, da Josephine mit involviert war.

Er klappte die Akte zu, studierte die Ablaufvermerke. Die ersten Unterschriften von Kollegen des richtigen Dezernates, die letzte von Wouters geschrieben. Joos ergriff erneut den Vorgang des kindlichen Zeugen. Ebenfalls die unterste Signatur von seinem Freund gezeichnet.
Joos sortierte seine Erinnerungen, welche die er selbst erlebt und jene, die er gehört hatte. Er hatte ihn nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, nur sein Hinterteil, als Anton ihn abgeholt hatte. Hatte er in wirklich mitgenommen, oder war es nur Zufall? Anton war damals Hausmeister bei seinem Vater und sicherlich bekannt mit dem Leiter des Reiterhofs. Genauso hatte er es damals wahrgenommen.

Es war alles mit Hektik abgelaufen. Nachdem er Klara aus dem Wagen geworfen hatte, kam er gerade rechtzeitig zum Zugriff – seinem Alibi. Wouters erschien erst nach ihm, obwohl er als Leiter, der Erste sein sollte. Nach Aussage der Kollegen hatte der Junge Tanja entdeckt, war zum Reiterhof geritten und hatte die Polizei gerufen. Eine viertel Stunde mehr nicht verstrich bis zum Eintreffen der Uniformierten.
Joos vergrub Mund und Nase in seinen Händen. Dann war die Eingreiftruppe selbstredend am Tatort. Warum haben sie ihm passieren lassen? Wouters rief ihm eine Stunde vor dem Zugriff an. Fragte ihn, wo er bliebe.

War Stephen der Junge gewesen? Joos schüttelte den Kopf. Der Knabe war in Reitmontur und sofern es ihm bekannt war, hatte es Franziskas Sprössling nicht mit Pferden. Er hätte ihn dann öfters gesehen. Denn soweit es ihm die Zeit erlaubte, verbrachte er, wenn er bei seinem Vater war, die eine oder andere Stunde im Stall. Stephen war eher ein Streber, zurückgezogen, in Bücher vertieft, wie ihm dieses Anton das eine oder weitere Mal berichtet hatte. Wenn Joos mit ihm die eine oder andere Flasche leerten, dann klagte Anton ihm seine Nöte, ohne im Details zu sagen. Franziska sah es andersartig. Zumindest meinte dieses Anton. Schlau wurde er nie von seinem Geschwafel. Ein Umstand, der sicherlich dem Alkohol zuzuschreiben war.
Zweimal hatte er Stephen gesehen. Einmal soweit er sich erinnerte bei Anton, obwohl gesehen eher übertrieben war. Der Junge war im Garten und er hatte sein Gesicht erblickt. Das zweite Mal …
Dem machte es nichts aus, in Mädchenuniform herumzulaufen, einzig um die Chance zu haben, sich Wissen einzuverleiben. Anton konnte sich nicht durchsetzen. Er erinnerte sich an dieses komische Fest.

Joos kam aus Österreich, Passau lag auf dem Weg. Er wollte Alfons mal wieder ausquetschen. Endgültig hatte er ihn nie von seiner Liste gestrichen. Andauernd fand er Verknüpfungen, die Alfons in den Dunstkreis des Syndikates spülten. Es war der Teufel los in dem Dorf. Unzähligen Frauen in Trachten, sangen und tanzten, strömten zum Dorfkrug, wie Hexen in der Walpurgisnacht auf dem Brocken. Alfons war längst angetrunken, zerrte ihn in den Schankraum, in dem sich die Männer verkrochen, sich eng gedrängt in Sicherheit gebracht hatten. Sie umklammerten ihre Humpen. Ein Geplauder war nicht möglich, daher entschloss er sich, den Heimweg anzutreten.
Auf dem Weg zu seinem Auto kam er am Saal vorbei, drückte die Nase auf der Fensterscheibe platt. Umringt von johlenden Weibern saß Stephen, kaum zu unterscheiden von der Meute, auf einem Hocker.
Hinter ihm Franziska und Gertrud im Zank vereint, eine Haube in der Hand.
Seine Erringung war getrübt. Ein Junge in Tracht hätte in verwundert. Er was es jedoch nicht, sondern er fuhr einfach nach Hause. Erst danach, wenn er sich nur erinnern konnte, wann es gewesen war, sah er ihn bei Anton und war erstaunt.
Nein! Stephen schloss er aus, egal ob er Tinette war oder nicht. Wenn er ihn verdächtige, dann gehörte er zum Kreis der mutmaßlichen Vergewaltiger.
Bevor Joos den Deckel über den Karton stülpte, entnahm er diesem einen gefalteten Zettel. Er entfaltete das Blatt, las, kratze sich am Genick und pfiff.



Seenot

Das Segel fiel, flatterte wie ein Leichensack, der zum Trocknen aufgehängt war, im Wind. Seinen Kopf von einer Bootsseite zur anderen wendend, griff Toni an das Zugseil des Außenborders, der mit einem Zug ansprang.
Wie oft hatte er mit Nahne das Manöver geübt, nie wäre er davon ausgegangen, es einzusetzen. Nie gelang es ihm, mit Anhieb die Schiffsschraube in Rotation zu versetzen. Es war der Ernstfall eingetreten. Trainiert bei stiller See, bei spiegelglatter Wasseroberfläche.
Die Knie auf den Planken, den Oberkörper aufgerichtet, die Hand an seine Augenwülsten, spähte Toni über die tobenden Wellen. „TAMI“, schrie er mit Leibeskräften. „TAMI“. Die Sophia schwankte, wie ein Stück Treibholz. „TAMI!“

Ein leuchtender roter Punkt tanzte auf den schäumenden Wogen. Toni riss das Ruder herum, trieb das Boot durch die Wellenkämme. Er kam dem Treibgut näher, bis eine Rettungsweste sich aus den Wellen schälte. Eine leblose Gestalt hielt sie in ihrem Fang. Toni löste die Bordleiter, welche das Meer schlagend empfing.
Er ergriff die Rettungsboje. Das Segel winkte zum Abschied. Die Sophia neigte, woraufhin er kopfüber in die Fluten stützte. Die See verschluckte ihn, drückte seinen Körper unter den Rumpf des Schiffes, bis seine Weste ihn mit Macht an die Wasseroberfläche trieb.
Sein Kopf stieß gegen die Boje. Nach Freiheit schnappend, umgriff er das Oval, streifte den Riemen über seine Schulter und schwamm. Er kraulte, wie um sein eigenes Leben, kam Tami kein Deut näher, dafür entfernte sich das rettende Boot umso mehr. Er holte Luft, tauchte durch die Wellen, bis das Seil an seinen Rücken zerrte und ihn aufhielt. Die eisige Nordsee fraß sich in seine Oberschenkel, sodass sich seine Beine bei jedem Schub mehr verkrampften. Die Gicht drang ihm in seine Nase, spülte seine Schleimhäute hinweg, bis der Schmerz zu immens wurde. Schließlich vermochte er nur noch, durch den Mund zu atmen.
Abgesehen davon, war die Taubheit verheerender, die beginnend von den Fingerspitzen seinen Oberkörper ergriff und, als hätte sie sich mit dem Meer verbunden, seinen Körper umarmte, um ihn in die Finsternis zu ziehen.
Ein Stoßgebet keuchte er über seine Lippen, dann, als gebe es eine Gottheit, die ihn erhört hatte, warf er mit letzter Kraft den Arm nach vorn, ertastete Stoff, ein kantiges Etwas.

Toni dankte, umschlang Tamis Hals, zerrte an ihrer Rettungsweste, schob, auf dem Rücken liegend, ihren Kopf auf seine Brust.
Er legte die Rettungsboje auf ihren Oberkörper, befestigte, so gut es für ihn möglich war, das Seil an ihrer Weste. Denn, obwohl die Sophia nicht mehr an ihm zerrte, waren sie beizeiten nicht aus der Gefahr. Der Rückweg war faktisch leichter. Obendrein schenkte die Freude, Tami in seinen Armen zu wissen, ihm neue Kraft. Gleichwohl war es Toni bewusst, dass der schwerste Teil der Rettung noch vor ihm stand. Allein zurückzukehren, war wahrlich nicht die Rettung. Denn erst, wenn sie wieder an Bord waren, konnten sie sich in Sicherheit wiegen.
Toni faste das Rettungsseil und zog, eine Hand vor die andere legend, an ihm. Mit seinen Beinen zu schieben, die Zeit zu verkürzen, hätte das Gegenteil bewirkt. Denn nicht nur von Nahne hatte erfahren, dass der Tod eher eintrat, wenn Schiffbrüchige sich bewegten, die Logik, die Anatomie des Menschen verlangte es. Muskeln benötigen Sauerstoff, der durch das Blut in die Muskelzellen der Beine drang. Die Beine waren ausgekühlt, sein frostiges Blut strömt zurück in seinen Oberkörper, bis es sein Gehirn erreicht und der, dieser war er, in Seenot geratene, ins Koma sank.
Er dachte nach. Wielange hielt es ein Mensch aus. Sie waren auf offener See. Der Sturm hatte die Nordsee aufgewühlt. Die Wassertemperatur lag damit knapp über zehn Grad. Eine Stunde gab er sich zuerst, revidierte die Annahme, da er sich bereits überanstrengt hatte, auf eine halbe Stunde plus X. Das Rettungsseil maß einhundert Fuß. Ein Griff pro Sekunde schaffte Toni. Somit kam er auf etwa zwanzig Minuten. Welche Zeit er für den Hinweg gebraucht hatte, wusste er nicht.
„Es geht gut. Denk an etwas Schönes“, murmelte Toni und schloss die Augen.

Das Peitschen des Windes, das Schlagen der Gicht verwandelte sich in Tonis Ohr zu Klängen. Symphonische Klänge der Harmonie, komponiert von Tschaikowski.
Er stellte seine Füße in Grundstellung, glitt mit den Fingerspitzen über sein pechschwarzes Tutu, entlang des seidigen gleichfarbigen Stoffes des Kostüms, bis an seine Wangen. Dann spreizte er die Arme ab, hob die Hände, bis seine Arme über dem schwarzen Federdiadem einen Kreis bildeten.
Beim ersten Laut der Trompete ging er auf Spitze, schleifte seine rechte Fußsohle über den Unterschenkel bis ans Knie, um dann den gestreckten Fuß, wie eine sich entspannende Feder, zur Seite zu katapultieren. Nach einem ersten leichten Sprung tanzte Toni, eingehüllten von den Klängen der Trompete, auf Spitze. Je mehr sich das Tempo der Musik erhöhte, desto schnelleren Schrittes tanzte Odile, bis sie Pirouetten drehend ins Fouetté wechselte. Wie ein Wirbelsturm, welcher übers Land jagte und auf seinem Weg die von ihm aufgesaugten Gegenstände wie Geschosse verteilte, so flogen ihre schwarzen Federn in die Ewigkeit. Erst der Griff von Prinz Siegfried an ihre Taille, an ihren weißen Flaum, bremste ihre Rotation. Dann verlor Odette den Bodenkontakt, schwebte getrieben durch Siegfrieds Macht an seinem Körper entlang, spreizte, flügelgleich ihre Beine zum Spagat und verließ als schneeweißer Schwan die Welt.

Ein Schlag an seine Schädeldecke brachte ihn wieder in die Realität. Er schlug die Augen auf und erspähte die Bootleiter.
Toni hievte seinen ermatteten Körper auf die Planken, zerrte an ihrer Weste. Zentimeter für Zentimeter glitt erst ihren Oberkörper, dann der restliche Körper aufs Deck.
Toni wandte sein Gesicht der im Wind schlagenden Kajütentür zu. Er öffnete ihre Rettungsweste und wälzte diese ihr vom Rumpf. Dann schob er mit zitternden Fingern seine Arme unter ihre Achseln, umfasste seine Ellenbogen und schleifte sie zum Eingang der Kajüte.
Ihre Füße polterten über die Stufen, bis Tami vollends auf dem Boden der Kajüte lag. Toni schnappte nach Luft, hechelte und legte sie nieder. Er atmete ein paar Mal durch, dann zerrte er ihr das T-Shirt vom Laib. Sein Blick auf ihren wabbelnden Brüsten gerichtet, schlug er ihr ins Gesicht, schüttelte an ihren Schultern. Er öffnete ihre triefende Hose, streifte diese über ihre Beine, dabei verfluchte er die modisch engen Jeans und schmetterte die Hose auf die Kajütenstufen. Panisch legte er seine rechte Hand zwischen ihre Busen und drückte die Linke. Er pumpte.
Tamis Bauch wölbte sich. Durch ihren Körper ging ein Zucken, worauf Meerwasser aus ihrem Mund rann.

Toni schrie: „Du lebst“
Tami presste den Unterarm auf ihren Mund, hustete, erbrach.
„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht schwimmen gehen.“ Er schniefte. „Warum bist du …“
Sie spuckte. „Kotzen!“, röchelte sie und stützte den Oberkörper auf ihren Ellenbogen auf. „Ich musste“. Anstatt des Wortes spie sie ihren Mageninhalt auf den Boden aus.
Er schnappte sich zwei Handtücher, welche zwar nicht sauber, jedoch trocken waren, schlang eins um ihren Hals, während er mit dem anderen ihre Arme rubbelte.
Ihren Kopf auf die Seite legend, umfasste Tami seinen Oberkörper und presste diesen an ihren Leib. „Danke!“ Sie zog ihren Kopf zurück. „Bist klatschnass! Sieh dich aus! Erkältetes dich“, zischte sie, eher im Tonfall einer Mutter als den einer vor dem Ertrinken, Erfrieren geretteten.

Toni stand auf, drehte auf den Hacken und beugte sich vor, berührte ihre Jeans. Seinen Mund zu einem Lächeln verzogen, warf sie ihm ein Badetuch auf den Rücken, frottierte sodann ihr kurz geschorenes Haar und setzte sich auf ihre Koje.
Toni hing das Tuch um seine Schulter, entkleidet sich, schlug das Badelaken um seinen Körper, wandte sich zur Freundin und setzte sich zu ihr. Erleichtert darüber, sie wohlbehalten an seiner rechten Seite zu wissen, frottierte er ihren Rücken. Er strich über ihre Schulterblätter, über den Hals, sowie ihr Brustbein, das sich Takt des Herzschlages hob und sank. Die Mundwinkel emporgezogen, ergriff sie seine Hand, legte sie auf ihren Busen und senkte ihren Kopf auf seine Schulter. Ihr Atem floss an seine Wange, die ihre Finger tauchten unter Tonis Badetuch, bis dieses von seinem Oberkörper glitt.
Tami sprang auf, hielt das Frottiertuch schützen vor ihre Brust, starrte Toni an und schrie: „Du bist ein …“



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Der Täter fehlt
Unser Kind! Unser Kind, waren Klaras letzten Worte gewesen, bevor sie ihn verlassen hatte, plötzlich wie sie erschienen war. Diese zwei Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. War es ein Versprecher ihrerseits oder ein gezielter Hinweis von ihr gewesen? Sprach sie als Klara oder Tanja? Die Kombination Klara und er schob er beiseite, denn er hätte ihr nie beigeschlafen. Sie war mehr Tochter als Frau für ihn. Unser! Klara war mit Stephen verheiratet. Der Fingerzeig mit der Schwangerschaft eine Metapher symbolisierte einen Akt aus der Geschichte. Nein! Zu abgefahren. Klara strich er.
Er pellte sich aus der Uniformjacke, öffnete sein Hemd und wedelte sich Luft zu.
War es das, was Tanja ihm Geländewagen sagen wollte. Die Worte die er als kindliches, weibliches Geschwafel abgetan hatte. Sie daraufhin wutentbrannt ausgestiegen war. Die Nacht mit ihr nicht folgenlos gewesen.
Drei Mädchen verlangte er zu sehen. Der Zusammenhang einzig der, dass sie die Kinder der Misshandelten oder alle verwandt mit ihm, Sprösslinge erstens, zweiten Grades von ihm waren.
Die erste Variante schloss er aus. Josephine hatte außer seinem Enkel kein Kind, außerdem war er ein Junge.
Er fuhr sich durch die Haare.
Ein Junge! Bärbels Neffe! Er lebte, da hatte seine Ex-Verlobte recht, wie ein Mädchen – Sophias Kind.
Er schlug sich an die Stirn. Bärbels Spross und der Vater war sein Bruder. Klara von ihm gezeugt, damit war ihr Kind seine Enkeltochter – Alina! Und Tanjas?
Wieder fehlte ihm ein Kind. Die rechte Hand trommelte auf seine Stirn. Das Dunkelhaarige!
Quatsch!
Die Haarprobe war blond. Der Junge als Mädchen geschmückt mit currygelbem Schopf.
Bärbels Haar war gefärbt. Er biss auf die Unterlippe, strich über sein Kinn.
Das burschikose Mädchen war der Junge. Seine Haare nach der Probenentnahme getönt. Mit dieser Schlussfolgerung hatte er sich zumindest nicht getäuscht, die Blonde war weiblich.
Er kam nicht weiter. Er brauchte wissenschaftlichen Rat. An den Zähnen reibend griff er zum Hörer, legte wieder auf. »Drei Tage Seminar«, murmelte er, hörte seinen Magen knurren und stand auf.

Angewidert warf er das Besteck auf den Teller. Wenn er hier der Chef wäre der Koch der Ersten, den er einbuchtete - der Fraß eine Vergewaltigung seines Gaumens.
Die Beschwerde erinnerte ihn an sein Vorhaben, tief in die Katakomben des Reviers einzudringen und die Akte zu bergen.

Die Stirn in Falten gelegt, holte er eine braune Dokumentenmappe aus der Asservatenbox. Er hatte bereits aufgeben wollen. Stunden hatte er gesucht. Der Karton mit den Utensilien der Geiselnahme in einem Bereich des Archivs, in dem sie nichts zu suchen hatte.
Die Mappe, welche er von ihr bei Alfons stehlen ließ, lag in diesem Karton. Dabei war es nicht einmal seine Idee gewesen. Der Tipp kam von Wouters. Er hatte dem Vorgesetzten seine Fahrten nach Passau damit schmackhaft gemacht, dass er gegen Fridolin ermittelte, obwohl dieser für ihn ein unbedeutender Fisch war.
Nur was hatte diese Mappe in der Kiste zu suchen. Er hatte sie Wouters überreicht. Der Inhalt war belangloses kindliches Gekritzel, das er nicht lesen konnte, es war in Sütterlin geschrieben - dazu Grafiken von Segelbooten.

Er warf die Mappe auf den Tisch, schnappte sich die Vernehmungsakte.
Dünn, gerade sechs Seiten umfasste sie. Joos blätterte, bis er das Untersuchungsprotokoll erblickte. Entwickelte hatte er es, damit kein Mitarbeiter bei möglichen Missbrauchsdelikten wesentliches übersah.
Sein Zeigefinger glitt über das Papier, Name, Adresse, Geschlecht.
»Hämatome, Hautabschürfungen, Rötungen an Fuß- und/oder Handgelenken – Negativ«, murmelte er. Er runzelte die Stirn. Sie war gefesselt gewesen, zwar nur leicht, aber er hatte die Abschürfungen gesehen.
»Hämatome, Hautabschürfungen, Rötungen am Hals – Negativ.«
Wieder falsch. Sie konnte kaum Luft holen, sprechen – eindeutiger Beweis für eine Strangulation.
»Hämatome an den Genitalien oder Schenkeln – Negativ.«
Gut! Möglich! Nur der untersuchende Arzt hatte sie nackt gesehen.
»Scheidenabstrich«, handschriftlich ergänzt. »Nicht notwendig!«
Keine angenehme Prozedur für ein Mädchen, aber für eine spätere Beweislage war diese unumgängliche.
»Fotos – beiliegend.«

Er durchwühlte die Kiste. Kein einziges Bild fand er, weder vom Tatort geschweige von Tanja. Nur eine zweite Akte ‚Zeugenaussage von‘ geschwärzt und ausgekratzt der Rest. Es gab damals nur einen Zeugen. Der Junge, der Tanja gefunden hatte.

Er klappte den Deckel auf und zuckte zusammen. Ein Blatt erblickte er, vormals gefaltete, geglättet und abgeheftet. Ein Schriftstück welches er seit Jahren suchte. Eine Liste von Namen, teilweise umkreist oder abgehakt. Er hatte diese Tabelle geführt, weit vor dem Kidnapping. Sein Vater hatte ihn dazu beauftragt.
Nach dem Tode seiner Schwester hatte der Senior mit der Schriftstellerin Elsabeth von Knöckenhein die Stiftung gegründet. Und er bei allen Bekannten und Freunden Geld gesammelt. Die Kreise bedeuteten, wer weiterhin für die Institution tätig gewesen war, der Haken für die gesetzt, die er ausschloss, mit dem Mädchenhandel in Interaktion zu stehen.

Die Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn in Falten studierte er den Zettel. Es fehlten Namen, waren durch andere ergänzt. Er heftet das Blatt aus, hielt es gegen das flackende Neonlicht. Es war ein Faksimile, ein sehr gutes, dennoch eine Kopie. Sogar seine Handschrift war gefälscht. Von vier Personen wusste er genau, dass sie gespendet hatten und von der Liste verschwunden waren. Einer von ihnen war Wouters.
Er hefte den Zettel wieder ab, nahm das Untersuchungsprotokoll unter die Augen. Die Unterschrift seines Chefs gekritzelt, schlug ihn in Bann.

Auf der Polizeischule hatten sie sich kennengelernt. Sie waren im selben Jahrgang. Joos aus wohlbehütetem Elternhaus hatte den Beruf gewählt, um das Verbrechen zu jagen – es auszurotten. Wouters, um Karriere zu machen. Sein Freund war nie ein guter Schüler. Joos half ihm, wo es ging, schleppte ihn praktisch durch die Ausbildung. Piet Wouters nahm jede Beförderung mit.
Er brauchte keine höhere Besoldungsstufe, war mit dem, was er hatte, zufrieden. Geld spielte bei ihm nie eine Rolle. Sie waren ein eingespieltes Team, immer in derselben Abteilung. Nie hatte Joos bemerkt, ob Wouters das Recht gebeugt hatte – nun dieses.
Das Protokoll, die Akte aufzunehmen, zu unterzeichnen nicht in Wouters Befugnis gewesen. Für organisierte Verbrechen waren sie zuständig. Die Jahre in der Sitte hatten sie zwar gelehrt, mit derlei Delikten umzugehen, sie aufzuklären, aber war nicht ihre Tätigkeit. Erst recht, da Josephine mit involviert war.


Er klappte die Akte zu, studierte die Ablaufvermerkte. Die ersten Unterschriften von Kollegen des richtigen Dezernates, die letzte von Wouters geschrieben. Joos ergriff erneut den Vorgang des kindlichen Zeugen. Ebenfalls die unterste Signatur von seinem Freund gezeichnet.

Joos sortierte seine Erinnerungen, welche die er selbst erlebt und jene die er gehört hatte. Er hatte ihn nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, nur sein Hinterteil als Anton ihn abholte. Hatte er in wirklich mitgenommen, oder war es nur Zufall. Anton Hausmeister bei seinem Vater und sicherlich bekannt mit dem Leiter des Reiterhofes. Genauso hatte er es damals wahrgenommen.

Es war alles hektisch gewesen. Nachdem er Klara aus dem Wagen geworfen hatte, kam er gerade rechtzeitig zum Zugriff – seinem Alibi. Wouters erschien erst nach ihm, obwohl er als Leiter, der Erste sein sollte. Nach Aussage der Kollegen hatte der Junge Tanja entdeckt, war zum Reiterhof geritten und hatte die Polizei gerufen. Eine viertel Stunde mehr nicht bis zum Eintreffen der Uniformierten verstrichen. Joos vergrub Mund und Nase in seinen Händen. Dann war die Eingreiftruppe selbstredend am Tatort. Warum haben sie ihm passieren lassen? Wouters rief ihm eine Stunde vorm Zugriff an. Fragte ihn, wo er bleibe.

War Stephen der Junge gewesen? Joos schüttelte den Kopf. Der Knabe war in Reitmontur und sofern es ihm bekannt, hatte es Franziskas Sprössling nicht mit Pferden. Er hätte ihn dann öfters gesehen. Denn soweit es ihm die Zeit erlaubte, verbrachte er, wenn er bei seinem Vater war, die eine oder andere Stunde im Stall. Stephen war eher ein Streber, zurückgezogen, in Bücher vertieft, dem machte es nichts aus in Mädchenuniform herumzulaufen, einzig um die Chance zu haben, sich Wissen einzuverleiben. Anton konnte sich nicht durchsetzen. Wenn Joos mit ihm die eine oder andere Flasche leerten, dann klagte Anton ihm seine Nöte. Franziska sah es andersartig. Er erinnerte sich an dieses komische Fest.

Joos kam aus Österreich, Passau lag auf dem Weg, Alfons mal wieder ausquetschen. Endgültig hatte er ihn nicht von seiner Liste gestrichen. Andauernd fand er Verknüpfungen, die ihn in den Dunstkreis des Syndikates spülten. Es war der Teufel los in dem Dorf. Unzähligen Frauen in Trachten, sangen und tanzten, strömten zum Dorfkrug, wie Hexen am Walpurgistage zum Brocken. Alfons längst angetrunken, zerrte ihn in den Schankraum, in dem sich die Männer verkrochen, sich eng gedrängt in Sicherheit begaben. Ihre Humpen umklammerten. Ein Geplauder war nicht möglich, daher entschloss er, den Heimweg anzutreten.
Auf dem Weg zu seinem Auto kam er am Saal vorbei, drückte die Nase auf der Fensterscheibe platt. Umringt von johlenden Weibern saß Stephen, kaum zu unterscheiden von der Meute, auf einem Hocker.
Hinter ihm Franziska und Gertrude im Zank vereint, jede der beiden eine Haube in der Hand.

Nein! Stephen schloss er aus. Wenn er ihn verdächtige, dann gehörte er zum Kreis der mutmaßlichen Vergewaltiger.

Bevor Joos den Deckel über den Karton stülpte, entnahm er diesem einen gefalteten Zettel - Standard Briefformat. Er entfaltete das Blatt, las, kratze sich am Genick und pfiff.

 



 
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