Gedankensplitter

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Ralf Langer

Mitglied
Versuch über einige Fragen des Dichterischen

Über das Dichterische

Was ist das eigentlich ein Gedicht? Was hat es, was nicht? In wessen Besitz ist es, dieses Gebilde aus Form, Klang und Inhalt, dieses zerbrechlich Zusammengefügte und doch – wenn es vollendet ist – die Zeiten überdauernde.
Es hat, vor allen Dingen, das Wort. Im originären hat es nur das Wort.
Um den Unterschied zu anderen Formen der Kunst zu betrachten hilft es, das Lrische dem Prosaischen gegenüber zu stellen.
Der Prosaiker schreibt, er benutzt dieselben Worte, und doch ist das Gedicht etwas ganz anderes. Der Romancier hat einen Stoff. Er benutzt die Worte um über etwas zu schreiben. Worte sind ihm Vokabel, Transporteure eines Ausgedachtem. Dem Lyriker aber ist das Wort heilig. Es ist Geist und Sinn, und es ist ihm etwas transzendentes, das Wort weist auf etwas hin, das durch die Faszination am Wirklichen entstand.
Der Inhalt eines Gedichtes ist im Besitz aller Menschen, sei es das melancholische des Herbstes,
die Stimmung eines Sonnenaufgangs, oder das pathologische der Seele. Alles Gefühl, alles Sinnliche erfährt ein Jeder. Aber das ist noch kein Gedicht. Das richtige Wort, die richtige Form, der Klang, dabei entsteht ein Gedicht.
Und eigentlich entsteht es nicht. Es wird gemacht. Ein Gedicht entsteht nicht aus Gefühlen, es wird aus Worten gemacht (Mallarme).
Hier betreten wir den Bereich des Transzendenten:
Denn es gibt wohl Farben, es gibt Klänge in der Natur, aber Worte gibt es nicht. Worte sind das Ergebnis, eine Disziplin des Geistes. So ist denn auch das Verhältnis des Dichters zum Wort primär. Es ist eine Beziehung die nicht vermittelbar ist. Man hat es, oder man hat es nicht. Man kann lernen über Scherben zu laufen, Seiltanz, Bälle jonglieren, aber das Wort zu setzen ist Talent, es schließt die Übung aus.
Der Dichter ist im Wort verwurzelt, es ist sein Wortschatz. Und er muss seine Worte kennen. Er findet sie, klopft sie ab, setzt sie in Szene.
Das macht das Gedicht zu etwas besonderem auch im weiteren Vergleich mit den Künsten.
Bilder, Skulpturen, Sinfonien, all diese Werke sind international, das Gedicht ist an seine Sprache, an sein Verstehen, an die Körperschaft des nationalen Gebrauches gebunden. In diesem Sinne ist ein Gedicht monologisch. Es ist im eigentlichen Sinne das nicht Übersetzbare.
Vergessen ist nicht „oublier“, ist nicht „to forget“, und das berühmte poe`sche „nevermore“ ist nicht „nimmermehr“. „Nevermore“, zwei kurze verschlossene Silben und dann das lange, dunkle, strömende „more“. Der Deutsche lässt sich entrücken. Er sieht zusätzlich das „Moor“, der Franzose erkennt „ la mort“.
„Nimmermehr“ hingegen ist beim Wasser, ist an der See, erkennt das „Meer“.
So sind die Worte sie bergen mehr als nur eine Nachricht, transportieren mehr als Inhalt. Worte schlagen immer mindestens zwei Seiten an:
eine akustische, dem Klang folgende, und eine emotionale dem Bewusstsein folgende.
Hier spannt sich seine Welt auf. Und sie ist zeitlos. Wer will glauben, das die alten Griechen anders empfanden, wer meint das die Wikinger andere Dinge sahen, als sie das Noordmeer durchquerten? Mit der Sprache, war das Gedicht, und es war da, es war stets in seiner Gänze vorhanden.
Immer schon brauchte die Lyrik nur einen Schöpfer, und er verlässt seine Schöpfung wenn er sie für vollendet erklärt. Danach entsteht alles aus dem Zusammenhang von Leser und Wort. Der Dichter ist als Autor, wie eine Schildkröte die nach der Eiablage ihr Gehege für immer verlässt.
Was dem Gedicht innewohnt, was bleibt ist das lyrische ich, ein Wesen, etwas zwitterhaftes das in das Sein tritt, durch das hinterlassene Wort, und es bleibt der Leser auf den es immer wieder, und immer wieder neu, trifft.

„Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß,
Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immerfort dasselbe,...“
 

Ralf Langer

Mitglied
Versuch über den Sinn von Lyrikforen

Versuch über den Sinn von Lyrikforen

Dieser Text soll eine Vertiefung des vorherigen „ Versuch über einige Fragen des Dichterischen“sein.

Ich stelle fest, das meine Aussage hier:

„aber das Wort zu setzen ist Talent, es schließt die Übung aus .“

einiger ergänzender Ausführungen bedarf.

Hier setze ich zwei Maßstäbe an. Da ist auf der einen Seite das Formale. Das Formale bedarf der Übung. Niemand wird in der Lage sein z.Bsp. ein Sonett auf Anhieb in seine Form zu bringen. Zeichensetzung ist Übung. Rhythmus, Klangbild, Hebungen, Kadenzen, Zeilensprünge, all das unterliegt der Übung.
Die Form des Gedichtes ist in dieser Hinsicht Handwerk.
Was also meint Talent? Talent ist der andere Maßstab:
Es ist ein Vermögen, im Sinne von Potenz, (lat. posse) etwas in dessen Besitz ein Mensch ist, etwas von dem ich nicht sehe und glaube, das es erworben werden kann. Gleichsam ist es aber nötig, die Potenz freizusetzen. Es gibt Dichter (oder auch Künstler im Allgemeinen), deren Entelechie verborgen ist, vielleicht auch ein Leben lang bleibt. Der Schmetterling ist die Entelechie einer Raupe. Aber nicht jede Raupe wird zum Schmetterling.

Der Dichter muss also in der Lage sein seine Wirklichkeit zu durchschauen. Er muss sich darauf einlassen, das Besondere einer Stimmung einzufangen, er muss die Möglichkeit des Ausdrucks besitzen. Hier, glaube ich, ist er dann auf dem Weg zu sich selbst.

Mithin denke ich auch, das nur er allein entscheiden kann, wann ein Werk vollendet ist.
Auch hier ist Vermögen gefordert. Ich muss zurückhalten können, ich muss erkennen, ob das Geschriebene meinem Anspruch genügt.
(Immer voraus gesetzt ich habe einen Anspruch, der über den Dilettantismus, die Liebhaberei hinausreicht)

In dem ganzen Prozess des Werdens von Kunst - wenn sie mehr als Kopie sein soll - spielt die öffentliche Wahrnehmung keine Rolle. Ein amerikanischer Schriftsteller beantwortete einmal die Frage für wen er schriebe:
„An die Muse, was aber nur verstecken soll, das ich an niemanden schreibe.“
(aus dem Kopf zitiert)
Ruhm, Anerkennung, Geld all das ist bedeutungslos. Der Künstler hat keinen Markt, sonst ist er Handwerker, Auftragnehmer.
Der Schaffensprozess bleibt monologisch. Dort existieren nur Herz und Geist auf der einen, und Stift und Papier auf der anderen Seite.

Die modernen Medien, hier vor allem das Internet, und eben Plattformen wie z. Bsp. Die Leselupe sind auf einer elementaren Ebene Förderer einer Illusion.

Spüre denn nur ich die Absurdität die dahinter steckt?

Für das handwerkliche gibt es die Lyrik-Werkstatt. Hier kann der Dichter anhand von klaren Vorgaben sich einer Aufgabe stellen, und an den Dingen üben, von denen ich schrieb, das ich sie für erlernbar halte.
Aber ist nicht der Schaffende ansonst allein?
Was bedeutet es denn , wenn ein Dichter sein Werk in der Werkstatt veröffentlicht.
Zu aller erst: Es ist nicht fertig. Also war der Autor seinem Inhalt nicht, oder noch nicht, gewachsen.
Hieße das aber nicht, das der Autor genau erklären muss, an welcher Stelle er Hilfe benötigt, welcher Satz, welches Wort ihm nicht gelang?
Wie also sollen die Rezipienten mit einem Text umgehen, wenn sie helfen wollen, aber nicht steht wo?
Und ist diese Hilfe nicht eine Veränderung. Ist der Text, wenn viele mitschreiben dann noch Ausdruck einer individuellen Einsicht?
Am Ende der Kette ist der Text dann nicht mehr seiner.
So sehe ich Hilfe als zweischneidiges Schwert.

Was wenn der Leser dem Thema des Textes nicht gewachsen ist. Und die Hilfe zur Verunsicherung führt?
In diesem Sinne muss in einem Forum wie diesem der Autor auch seine Leser kennen.Nicht alle die helfen wollen, können es auch.

So denke ich, das der Dichter bei sich selbst am besten aufgehoben ist.


Der Autor trägt mehr Verantwortung als möglicherweise angenommen wird:

Es bedarf einer ausgeprägten Haltung zur eigenen Lyrik, und es bedarf einer ausgeprägten Haltung zur Kritikfähigkeit innerhalb des Forums.
 
O

orlando

Gast
Lieber Ralf,
ich nehme im Folgenden Bezug auf Seite 1, weil ich lesetechnisch noch nicht weiter gekommen bin.
Du sprichst über meinen Liebling Thomas Mann, den seine Frau (vollkommen zu Recht) seinerzeit den größten Lebenden (Schriftsteller) nannte. Und du führst Goethes Faust und den ebenso göttlichen Don Quichote an.
Fast noch spannender als Faust / Zauberberg ist allerdings die notwendige Gegenüberstellung von Faust und Don Juan (Tirso de Molina), die wahrhaft dialektisch wirkt:
Im Don Juan verkörpert sich der hemmungslose Trieb, der Wunsch nach erotischer Erfüllung, während sich im (deutschen) Faust das Streben nach letzter Erkenntnis, ebenfalls verbunden mit der rücksichtslosen Überschreitung gesellschaftlicher Normen, findet.
Grabbe, ein Typ, den heute kaum noch eine Socke kennt, hat die Vereinigung beider Figuren versucht (Don Juan und Faust. 1829), Sehr lesenswert. Oder auch Lenau: Faust. 1836)
Und tatsächlich geht es, wie du richtig anmerkst, stets um die Versöhnung des apollinischen mit dem dionysischen Prinzip, die leider niemals so richtig zu klappen scheint.
Davon weiß so manche(r) ein Lied zu singen. ;)
Bis die Tage
Heidrun
 
O

orlando

Gast
Schon wieder ich.
Kann halt nicht gegen an - all diese Themen faszinieren und beschäftigen mich auch gerade - deshalb gehe ich jetzt unverdrossen zu deiner Seite 2 über.
Über die Entstehung der monotheistischen Gottvorstellung ist viel nachgedacht und geforscht worden. Neben Franz Werfels Roman (Höret die Stimme), leuchten Thomas Mann und seine Josephsromane, das letzte Projekt Sigmund Freuds, (Der Mann Moses und die monotheistische Religion 1939) und Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron aus dem Dunkel, lassen wir die Philosophen (insbesondere Nietzsche) einmal außen vor.
Religiöse Vorstellungen der Völker, in der jüdisch-christlichen Tradition eben die von dir genannten, gründen sich auf Mythen, die immer wieder recycelt werden. Das Neue stellt sich neben das Alte, was aber in unserer Kultur durch die Kanonisierung über lange Zeit zum Stillstand gebracht worden ist. Stoff und Mythentext fielen zusammen, bis jene im Zuge der Aufklärung wieder hervorbrachen, parallel zu ihrem religiösen Geltungsschwund, als - Literatur.
Es ist jetzt also möglich, Vorstellungen des Einzelnen in ein Gesamtes zu integrieren, ohne, dass es zu Verwerfungen, kränkenden Überstülpungen etc. kommen muss.
Es gilt die mythische Gleichzeitigkeit zu bedenken. Der Mythos der Sintflut ist bei fast allen Völkern zu finden, die jüdisch-christliche Vorstellung ruht auf einer viel älteren babylonischen. Darunter liegt Weiteres, Älteres.
Nicht anders verhält es sich mit dem Turmbau zu Babel, dem Brudermord, dem Esau-Betrug, der Wiederauferstehung, die sich beispielsweise schon beim jungen Joseph in seiner Errettung aus dem Brunnen zeigt und in vielen, vielen anderen.
Nicht alle Mythen sind gleich, aber es gibt unzählige Parallelen in den Religionen der unterschiedlichsten Ethnien.
Betrachten wir unsere eigene Kultur in diesem Licht, relativieren sich viele Dinge. Es ist vielleicht gar nicht ausschlaggebend, ob die Dreifaltigkeit Wahrheit oder
etwas Gedachtes, Entwickeltes ist. ---
Freud erkennt in den Mythen den Fortschritt der Geistigkeit. Für ihn ist Religionsbildung stets nur Wiederholung einer früheren (Wiederkehr des Verdrängten).
Dies trifft auch auf das Verständnis von Thomas Mann zu., erweitert durch eine Zukunftsvorstellung: "Gottes Zeit ist die lineare Zeit des Werdens, der Verheißung und der Erfüllung. Mit Gott kommt Richtung ... in die Zeit des Menschen."
In Arnold Schönbergs Oper Moses und Arons
finden wir eine weitaus radikalere Ausformung, das "Entweder-Oder" Kierkegaads, das keinerlei Kompromisse zulässt. Ihm erscheint Gott als reiner Geist, ein Gedanke, der sich allenfalls denken, aber nicht verkünden lässt. Die Kühnheit Schönbergs liegt darin, dass er nicht zwischen richtigen und falschen Religionen unterscheidet, sondern das Konfliktpotential in der Entwicklung des Monotheismus selber sieht (Bei uns: Brüderpaar Moses und Aaron). Schönbergs Gott ist nicht nur "einzig, ewig, allgegenwärtig und unsichtbar (wie bei Freud und Mann), sondern auch unvorstellbar.
Er verwirft also selbst die inneren Bilder ("Du sollst dir kein Bildnis machen ...")
Um jetzt wieder zu deinen interessanten Ausführungen zurückzukommen: Die Trias "Vater, Sohn und Heiliger Geist" lässt sich auch aus dieser Sicht beleuchten.
Hier findet der vertrauende Glauben ebenso Platz wie der absolut abstrakte Heilige Geist (Quelle: Jan Assmman).
Tja.
Hoffentlich war ich nicht zu ausführlich oder habe dich gar gelangweilt.
orlando
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo orlando,
in aller kürze (weihnachtsfeier!):
danke für deine gedanken, die du hiergelassen hast.

ich greife nur kurz das stichwort mythos auf:

mache mir gerade intensiv darüber gedanken, was das wesen des mythos ist.
werde dazu in kürze einen versuch posten

lg
ralf
 
O

orlando

Gast
Die Welt ist voller mittelmäßiger Romane, aber ein mittelmäßiges Gedicht
ist Nichts, muss Nichts sein.
Leider nur zu wahr.
Und (fast) immer dieses Gefühl, nicht fertig zu sein, diese lustvolle oder quälende Suche nach dem "verborgenen Wort" (Ulla Hahn), dieses Annehmen und Verwerfen.
Das hast du gut beschrieben und von Otto die passende Antwort erhalten. - Mascha Kaléko finde ich ebenfalls ganz großartig. In ihrer Sprache schlicht, aber doch so unheimlich gut. -
Dies soll für heute Abend genügen
orlando
 

Ralf Langer

Mitglied
Bodenständig

War es nicht immer schon ein Garten,
auch wenn du ihn verbannt,
auf dem du wandelst, atmest,
den du dunkel wohl erahntest,
unter den du nun geraten,
und jetzt, da er dir blüht,
- liegt es nicht auf der Hand -
ist dir die Muttererde,
nun - , Vater, Land.
 

Ralf Langer

Mitglied
Ist mir noch nie passiert,

ich hatte den text schon gepostet.hm, sorry an alle.

es gibt so momente - unbedachte - war keine absicht..

ralf
 
D

Die Dohle

Gast
Wieso? Ungelöst gebliebene Fragen drängen sich zu Zeiten wieder und wieder auf. Man geht denselben Weg und erfährt ihn neu. Sogar der lästige Stolperstein im Pflaster ist zwar derselbe, wie gestern. Und doch ist er heute nichts von dem, was der jemals war. Das ist doch schön.

lg
die dohle
 

Ralf Langer

Mitglied
Gedankenflug zum Wesen der Kunst

Die meisten werden es kennen. Man arbeitet gerade an einem Gedicht und dann taucht plötzlich diese intime Selbstfrage auf:
"Was mache ich eigentlich hier?"

Die Frage ist existentiell, berührt aber nicht den Kontext des "Warum?"
Warum ich schreibe ist mir eigentlich nicht wichtig. Es ist mithin Ausdruck peiner Persönlichkeit. Aber das Wesen dessen was ich gerade mache, beschäftigt mich immer wieder.

So kam ich zu einigen sehr persönlichen "Stichworten":

Kunst ist in erster Linie ein monistischer Prozess.

Kunst kennt kein „Du“.

Kunst ist Ausdruck einer vereinzelten Seelenlage.
Sie hat keinen Ansprechpartner.

Sie will Nichts und sie erwartet Nichts.
Kunst die produziert wird für ein „Du“ ist nichts anderes als Bierbestellung.

Kunst braucht Unglück. Glück allein lässt keine Kreativität entstehen.

Kunst benötigt den Hunger des Un -zu - friedenen seins.
 
D

Die Dohle

Gast
Hallo Ralf Langer, hab mal nachgedacht, wie sich das verhält mit dem ins Werk setzen von Werken auf Deine Anregung hin. Mir stellt sich die Sache etwa so dar:

"Kunst ist in erster Linie ein monistischer Prozess."

Monistisch ist mir eigentlich ein zu störrischer Begriff. Aber gut, denkt man zurück, so weit das irgendwie möglich scheint, könnte man sagen, das sei ein monistischer Prozess. Mit persönlich gefällt der Gedanke, wonach sich Kunst als eine Spielart unter vielen anderen im Spiel der Möglichkeiten abspielt. Im Einen sehe ich die lebendige Beziehung der Dinge und Wesen, der Elemente, die Kommunikation selbiger untereinander. Insofern ...

"Kunst kennt kein „Du“."

Aus dem o.g. leite ich ab: Kunst ist intensivst mögliches Ich&Du. Evtl. könnte ich gelten lassen, dass ein Künstler die Du-Suche vollendet in ein Ritual zu bringen versucht. Kunst ohne Du ist ein Eimer ohne Boden.

"Kunst ist Ausdruck einer vereinzelten Seelenlage.
Sie hat keinen Ansprechpartner."

In der Kunst meldet sich, wie überall sonst auch ein Individuum zu Wort. Zwar zugegeben auf sehr eigenen Wegen. I.a.R. sucht der Künstler jedoch sehr sorgfältig, er macht die Sorgfalt sozusagen zum Beruf, nach dem Zwiegespräch mit dem Du. Für den Künstler zunächst schwierig: Steine beispsw. kennen die Sprache der Menschen nicht und umgekehrt gilt dasselbe. Doch mitunter gelingt das Wunder nach einiger Anstrengung und der Steinmetz nennt sich fürderhin Bildhauer deswegen. Sein Werk wird im glücklichen Fall überzeugend Bericht geben von Begegnungen mit Du, was immer das sein kann.

"Sie will Nichts und sie erwartet Nichts.
Kunst die produziert wird für ein „Du“ ist nichts anderes als Bierbestellung."

Natürlich will Kunst was: Sie ist die Suche nach Du, sozusagen die betätigte Wählscheibe des Telefons, sie ist das ins Werk setzen einer Beziehung zu den Wesen und Dingen, die Menschen begegnen. Kunst produziert nicht, stimmt, sie ist. Es ist das Leben selbst, das sie zu sein versucht. Das Herstellen des Werkes ist das dafür notwendig erachtete Ritual. Es, das vollendete Werk liefert der Nachwelt im besseren Fall noch den Hauch des Abglanzes dessen, was sich ereignete. Wirklich wichtig ist es nicht, eher meist schon ein lästiger Klotz am Bein, mitunter sogar gefährlich, sofern dessen Bedeutung nicht richtig eingeschätzt wird. Einen Markt bedienen füllt den Magen. Kunst hingegen füttert die Seele. Falls in Maßen betrieben, kann ich mit beidem gut leben, da das, was den Magen füllen soll, nicht zwingend Plunder sein muß und ein leerer Magen das Seelenheil ebenfalls nicht zwingend befördert. Mir scheint: Es ist die Frage, wie dieses Du aufgefasst wird. Nach getaner Arbeit eine Weizenkaltschale unter Freunden zu sich zu nehmen, das ist doch schön. Es ist nicht unbedeutender Teil der Kunst, wenn auch nicht zwingend Voraussetzung. Das Getränk meine ich, nicht die Freunde, die sind unabdingbar. Damit das künstlerisch behandelte Du eine greifbar kritikfähige Gestalt erfährt.


"Kunst braucht Unglück. Glück allein lässt keine Kreativität entstehen."

Kunst braucht nicht zwingend Unglück. Kunst ist Leben, Sterben, Lachen, Weinen ..., Leben eben. Die Konstruktion Glück-Unglück ist ein Ergebnis der in hiesig verbreiteten ziemlich dämlichen Denke, die alles erklärt, per Urteil Empathie mitteilt, dieses mit Sinn verwechselt und letztlich alles durcheinanderbringt. Mir gelingen die besten Werke, wenn ich glücklich bin. Wenn ich meine Macken annehmen kann, wenn ich in diesem abenteuerlichen und gelegentlich scheißgefährlichen Abenteuer Leben zufrieden feststelle: Ich will leben. Allerdings: Nirgendwo steht geschrieben, dass Leben jederzeit ein Spaziergang sei.

"Kunst benötigt den Hunger des Un -zu - friedenen seins."

Kunst ist der Wunsch nach Beziehung und Entfaltung. Künstler will, wie jeder Mensch, wachsen, sich entwickeln und blühen. Falls das "Un-zu-frieden" zu nennen wäre, bin ich einverstanden.


... klingt zunächst ziemlich anders, als Du das siehst. bin gespannt auf Deine Gedanken.

lg
die dohle
 

Ralf Langer

Mitglied
Eine Antwort

Hallo Dohle,

erst einmal herzlichen Dank für deine Auslassungen zu meinen kurzen Stichworten.

Ich möchte folgendes vorwegschicken:

Meine Gedanken erheben keinen Anspruch auf Wirklichkeit in sofern sie nicht mein
Leben betreffen. Das Geschriebene ist Ausdruck eines Individuums.
Von daher ist von vorne herein sicher, das wir zwei sehr verschiedene Wirklichkeiten zum
Prozess der Kunstenstehung haben werden.

Nichtsdetotrotz werde ich – wo ich kann – das ein oder andere erläutern:

Kunst ist in erster Linie ein monistischer Prozess

Der Künstler ist sich selbst und seinem kreativen Prozess Nahe wenn er alleine ist.
Ich habe hier in diesem Tagebuch das schon einmal näher erläutert.

Am Beispiel solcher Seiten wie der Leselupe möchte ich das gerne noch einmal kurz darstellen.

Die Produktion eines Gedichtes entsteht für mich ausschließlich zwischen der Aussenwelt, meinem Gehirn, meiner Seelenlage und Zettel und Stift. Es gibt kein „Du“. Es gibt keinen dritten.

Deswegen sehe ich zum Beispiel Vorschläge etc, von dritten, nachdem ein Gedicht die Öffentlichkeit der Leselupe erreicht als kritisch an.
Wann sollte der Künstler ein Gedicht veröffentlichen?
Doch erst, wenn es nach Maßgabe seiner Vorstellungen, den Grad an „Perfektion“ erreicht hat,
wenn es den gestzten, bewußten Ansprüchen des Künstlers antspricht.

Nun gibt es Möglichkeiten Vorschläge zu unterbreiten in Bezug auf die Form eins Gedichtes, oder des Metrums, des Reimes etc, aber das ist ja nicht das Gedicht, denn das Gedicht, so wie ich es sehe, ist Ausdruck einer einzelnen Seelenlage, und also auch das Werk einer einzelnen Person.

Durch den Eingriff dritter ändert sich das.
Es ist nicht mehr seins.

Wenn ein Text- hier ein Gedicht, sozusagen scheitert, liegt es womöglich daran, das der Künstler seinem Inhalt nicht gewachsen war.

Wenn aber der Dichter mit sich zufrieden ist, und andere sind unzufrieden, an welcher Stelle sollte dort Hilfe möglich sein.
In vielen Fällen ist eineseits der Dichter sozusagen an seine Grenzen gestossen, und in anderen Fällen kann der Leser auch dem Thema des Gedichtes nicht „gewachsen“ sein.

Soviel dazu.

„ Sie will Nichts und sie erwartet Nichts.“

Gemeint ist der Prozess der Entstehung.
Während der Schaffensphase gibt es kein „Du“. Ich bin ganz bei mir, ich bin h#ganz allein.
In diesen Momenten oder Stunden ist niemand da.

„Kunst die produziert wird für ein „Du“ ist nichts anderes als Bierbestellung.“

Hier meine ich sozusagen das Resultat. Das was geschieht wenn Kunst veröffentlicht ist.
Ob sie auf dem Markt funktioniert.
Ich denke, das alles was die Zeiten überdauert nur „Erfolg“ hat, weil es einsam entstanden ist, weil es sich nicht verkaufen lassen wollte.

Das untescheidet den Künstler vom Handwerker, der auf Bestellung arbeitet.


„Kunst und Unglück“
Hm, das ist sehr persönlich, und ich glaube das das jeder anders empfindet. Ich kann an diese Stelle nur festhalten, das ich wenn ich“glücklich“ bin nicht kreativ werde. Erst das „unzufriedene sein“ schafft bei mir die Vorraussetzungen dafür, das ich schreibe.

Dir einen lieben Gruß
Ralf
 

Ralf Langer

Mitglied
Über Möglichkeiten

Über Möglichkeiten des Alltags

Wenn sich etwas neigt, so wie dieser mittelmeerische Urlaub, wenn etwas endet gewinnt der Blick auf Soll und haben an Schärfe. So neigt sich jetzt die Abwesenheit von Zwang ihrem Ende entgegen. Stunden für die freie, die selbstgewählte Form, Tage, in denen ich die Möglichkeiten ausschöpfte, mich ausschöpfen lies, sie treten wieder den Rückzug in ihr dämmerndes Refugium an.

Ich stelle fest: Gedanken brauchen Hinwendung. Körperlich erholt, fühle ich mich gehirnlich ausgeschöpft.

Das fühlt sich an wie etwas fremdes, seltenes : Glück.

Der Dichter und sein Ich. Das eine hervorgeholt in dieser einen Woche, das andere bis auf physische Bedingtheiten zurückgedrängt.
Endlich wieder viel gelesen, viel fremde Lyrik hier im Forum, und dem dichtenden Ich jene Zeit eingeräumt, die es brauchte um anderen dichterischen Ausdrucksformen hinter zu lauschen.
Endlich wieder nach-gedacht, mich in fremden Worten gesucht, mich durch das Andere “Expressioniert“.

Diese Dichtung, die ich so sehr ehre. Die Potentiale des Wortes, das denkerische Durchdringen von Wirklichkeiten.

Und schließlich und endlich die tiefere, nachdenkliche Annäherung an die Form.
Denn das ist ja das Gedicht, das ist sein Geheimnis-trotz aller Worte, das Gedicht zeigt und verbirgt sich im Wort.
Wie ich neuerdings hier las suchen viele etwas anderes, suchen im Ausdruck bach Sinn, nach einem “entweder oder“ . Aber, so will mir scheinen, wird dem Gedicht nicht gerecht.
Das Gedicht, wenn es gelang, ist immer ' sowohl als auch“, das Gesagte und das Verschwiegene, die Welt und ihr Widerspruch, die Verortung und das Raumlose.

Ein Gedicht muß ja erst durch den Dichter hindurch gegangen sein. Da trifft Aussenwelt auf Innenwelt, und diese Innenwelten sind doch der für den Leser unsichtbare Filter,
hier werden aus Wirklichkeiten Wirklichkeitsempfindungen, und aus den Empfindungen konstruiert er mit hilfer seiner Worte eine verdichtete Welt.
Diese fremden Wirklichkeitskonzepte müssen nun ungekehrt ihren Weg zurück durch den Filter des Lesers gehen,
und hier erst entsteht das Gedicht, es entsteht neu,aber nicht minder wirklich.
Die Summe der möglichen Wirklichkeiten ist die Summe der wirklichen Möglichkeiten.
Ein Paradoxon. Herrlich, großartig.
Also nicht: Was will der Dichter sagen, der Dichter ist ja schon zur Gänze verschwunden, sondern, was sagt mir das Gedicht, wie und wovon spricht es durch die in Worten angelegte Teanszendenz zu mir!

Ja, und auch Lesen und Verstehen sind auf ihre Art eine Kunst.
Sie verlangt nach Selbst-erkenntnis.
Und eine weitere Form der Kunst ist es diese Erkenntnis durch Worte wieder wirklich werden zu lassen; das Unmittelbare, das Verstandene und das “Frag-würdige“.

Das ist soviel mehr, um so vieles wichtiger als die popelige Schulgedichtsanalytik uns beigebracht hat.
Als wäre die Herunterleierung von Metrum u.ä. schon das Gedicht.
Erbärmliche Schulweisheiten, und eben der unüberbrückbare Unterschied zwischen dem Kunst und dem Kulturträger.

Ich erinere mich gerade an das unbeschreibliche Gefühl, das ich empfand als ich zum ersten Mal ein Gedicht von Benn las. Wie dankbar bin ich dieser, meiner Deutschlehrerin,die längst in Vergessenheit geraten ist, wie dankbar fpr diese Eintrittskarte in eine andere Welt!
( Es war: Verlorenes Ich)
Das war sie also die Dichrung, die nicht die Welt ändert, aber infernalisch, weil sie mich für immer änderte.

Ah, ich sehe der Urlaub geht zu Ende, und ich sehe die gierige Fressmaschine des Alltags auf mich zu rennen.

Aber man muß ja leben, diese irdische,physische Ding durchziehen, für ein Leben wie Serge es führte bin ich nicht entworfen. Also Haltung bewahren, der Dichter wird in den nächsten Stunden kleiner werden, er wird sich zurückziehen, sich einkapseln, wird wider nur Keim sein.

Da liegt kein Glanz, aber doch es bleibt diese Woche, es bleiben
ein paar geglückte Tage.
 

Ralf Langer

Mitglied
Woran ich mich nicht erinnere I

Der Tod meines Großvaters

Ich schlafe.
Es ist Nacht. Das Telefon klingelt im Wohnungsflur. Davon werde ich wach.
Dann ist da die Stimme meines Vaters: Brüchig, verschlafen.
Ich höre nur die Stimme, verstehe nicht die Worte.
Ich bin sieben Jahre alt, und habe keine Sorgen.
Vater öffnet die Tür zum Kinderzimmer. Er will mich wecken, als er sieht das ich wach bin, bleibt er in der Tür stehen und kratzt sich am Hinterkopf.
Er sagt: „Opa ist tot.“
Ich lausche dem Klang der Worte nach. Suche nach einer Antwort.
„Wie lange?“, frage ich.

Dann schlafe ich wieder.
 

Ralf Langer

Mitglied
Short stories of a long life

Versuche über Erinnerungen

Wer ist Kronski ?


Ich begegnete Herrn Kronski zum ersten mal in einem Spätsommer vor etwa 25 Jahren.
Es hatte geregnet und ein kalter Ostwind ging durch die Hochstraße. Er trug einen alten Trenchcoat, wie Schimanski einen trug. Dieser Mantel verbarg seine hoch gewachsene Gestalt, die, ich schätzte ihn auf Ende vierzig, schon leicht nach vorne gebeugt war.
Alles an ihm drückte Mühe aus. Die Augen, die knorrigen Hände, die ständig an seiner Nase herumfuchtelten.
Gleichzeitig hatte er etwas Heiliges. Da war etwas hinter seiner Stirn, kaum bemerkbar. Ein Mensch, der vielleicht über Wasser laufen konnte, das aber mit einer lässigen Handbewegung abtat. So lief er die Hochstraße herunter, während es regnete , und alle anderen Menschen bemüht waren unter den Vordächern Schutz zu finden.
Dann bog er in die Springestraße ab und verweilte ein weinig auf dem damals noch unbebauten Platz, auf dem heute die Markthalle steht. Der Regen tropfte ihm von der Stirn. Aber auch das interessierte ihn nicht.
Gleichgültig öffnete er seine Manteltasche nahm ein Buch hervor und begann ein wenig darin zu blättern. Ich erkannte den Umschlag. Es war eine Rohwolt Taschenbuchausgabe eines Romans von Henry Miller. Wie ich lesen konnte, handelte es sich um Nexus.

Und so entstand Herr Kronski vor mir. Der Pathologe aus diesem Roman. Wenn es ihn je gab, ging er an diesem Tag vor mir her durch den Bueraner Regen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Ralf,

Schimanski im Trenchcoat? Unvorstellbar! Der trug doch immer seine verknautschte Jacke. Der mit dem alten Trenchcoat war Columbo. ;)

Gruß Ciconia
 

Ralf Langer

Mitglied
Sinn – Leben- Lyrik



Manchmal schlägt ein blauer Schmetterling mit den Flügeln und die Welt gerät aus den Fugen.
Meisstens aber passiert nichts.
Das Leben hält für den Einzelnen mehr spurlose Begegnungen bereit als folgenschwere Ereignisse.
Das ist die Kausalität des Lebens:
Aus A folgt nicht B. Etwas beginnt und etwas endet. Dann beginnt etwas Neues;
wir nennen es B.

Der Wunsch das Leben zu verketten, treibt den Menschen dazu an Ereignissen so lange herumzuzerren, sie zu dehnen, zu biegen, bis aus vielem Zugefallenem eine eigene Geschichte wird.
Es bleibt ein ausgedachtes Etwas.

Die Vergangenheit ist nicht mehr als ein verführerischer Traum, der uns daran glauben lassen will das es neben der reinen Existenz auch eine erzählbare Geschichte der Existenz gibt

So ist die Vergangenheit das Einzige was wir ohne uns zu erinnern, täglich ändern .



Was ist meine Kunst – ein Versuch.

Der Weg in die Lyrik.

Gibt es so etwas, oder ist schon der Versuch zu klären, wie es dazu kam, dass ich mich heute der Lyrik verpflichtet fühle, ein Gedichtetes an sich.

Die Vergangenheit ist ja wie Wachs zwischen den Händen. Da sind Erinnerungen an Ereignisse. Am besten wäre sie einfach aufzulisten, aber daraus entwickelte sich ja keine Geschichte, kein Ganzes.
Also schlage ich Brücken, besser ich baue sie, von einem Ereignis A zu einem Ereignis B. Die Brücke ist dann Kausalität. Obschon sie bildlich gesehen etwas in der Luft überquert, ist sie für die eigene Vita der eigentliche Grund.
Und Gründe brauchen wir. Was wären wir, wenn alles was geschehen ist rein phänomenal wäre?

Wenn wir uns nur einredeten, das die Dinge des Lebensalltags sozusagen zwingend zu dem führten was wir heute sind ?

Ich blicke zurück und sehe einen Jungen von fünfzehn Jahren. Er ist ein geselliger Typ. Akne zeichnet sein spätpubertäres Gesicht Der Junge spielt Handball, liest Perry Rhodan, geht in einen Bibelkurs, und schaut mittlerweise interessiert, aber planlos, jungen Mädchen hinterher.

Es ist eine Deutschstunde, wahrscheinlich um 1983, der Name der Deutschlehrerin ist nicht mehr geläufig. Die Gesichter der Klassenkameraden sind mit der Zeit verschwunden.
Alles ist im nicht mehr greifbaren meines Gehirns entschwunden.
Dann lesen wir Gottfried Benn. Verlorenes Ich.

Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, was sie aber zweifelsfrei tut, haben wir vorher von der Hülsthoff die Judenbuche und im Nachgang romantische Gedichte von Eichendorff gelesen.
Ich weiß es nicht mehr, aber wenn es so gewesen sein sollte, würde es Sinn machen.

Das eigentliche Ereignis geschieht nicht im Sinne einer Tat, Was geschieht geschieht in mir.
Es ist nicht visuell. Es ist ein Ereignis des Geistes, oder dessen was ich „Ich“ nennen möchte.

Ich komme aus keinem lyrischen Hause. Das Kunstverständnis meiner Eltern war nicht existent.
Ich würde gerne behaupten an einer Wohnzimmerwand hing der berühmte röhrende Hirsch. Aber das tat er nicht. Wir hatten keine Bilder im Hause, abgesehen von einem Foto meiner früh verstorbene Schwester, war nichts an das ich mich erinnere.

Vater, Jahrgang 31, gelernter Schlosser, dann über den zweiten Bildungsweg Techniker Fachrichtung Maschinenbau, und im Alter von vierzig Jahren noch eine Prüfung zum Meister abgelegt.
Mutter, Jahrgang 32, gelernt Fleischereifachverkäuferin, dann Hausfrau und Mutter.

Gemeinsame Hobbys? Auch hier müßte ich raten oder lügen. Ich lass es bleiben.
Handarbeiten würde ich zumindest als Hobby meiner Mutter zugestehen. Aber, in den sechziger und siebziger Jahren wurde über all noch viel genäht und geschneidert, weil es billiger war. Vielleicht war es also kein Hobby, sondern eher eine Notwendigkeit.

Zumindest erinnere ich das mein Vater gerne Erich von Däniken las, und einiges an eigenen Gedanken dazu entwickelte. Am liebsten in seiner Stammkneipe, die auf halbem Fußweg von seiner Arbeit zu uns nach Hause lag.
Wenn ich meinen inneren Blick durch unser Wohnzimmer schweifen lasse, sehe ich im Regal neben dem ewigen Krimskrams; eine Bambi aus Holz, ein paarVasen, und weiterem Gedöne, das nur als Staubfänger diente, dann sehe ich dort circa zwanzig Bücher. Einbände gefasst in Schweinsleder, Relikte aus der Teilnahme an einem Bücherclub. Zwei Titel fallen mir ein:

"Eisen“ und , „Uran“

Nur wegen der Titel, die meinen Vater wohl fasziniert hatten, sind sie, und ungelesen ins Regal gestellt worden.

Das war mein lyrisches Umfeld.

Und dann kam Benn.

Und ab hier begänne ich mir meinen eigenen Werdegang zusammenzureimen. Hier begänne der Versuch mir einen Big Bang einzureden. Einen eigenen Schöpfungsmythos, der mich geradewegs an diesen Schreibtisch führt, an dem ich im Moment sitze, und über mein Leben nachdenke.

Ah, wie verführerisch!

Aber ich lasse das. Nur das Innere lebt. Und dieses Innere wurde damals berührt. Ich denke es spürte sich an wie Verwunderung. Und damit war Neugier da, und ich kaufte mir nicht viel später einen Gedichtband Benns, der all seine veröffentlichten Gedichte enthielt.
Es waren etwa 250 Stück. Aber nur ganz wenige von Ihnen sprachen mit mir:

"Kleine Aster" zum Beispiel, "Mutter", "Gang durch die Krebsbaracke" und natürlich „Verlorenes Ich“. Das allermeiste hatte mir damals aber noch nichts zu sagen.

Dann passierte Nichts. Natürlich ist das falsch, etwas geschieht immer: Ich hatte eine erste Freundin, ich verließ den Bibelkreis, fuhr in den Skiurlaub,verletzte mich schwer beim Handball.

Aber erst kurz vor dem Abitur geschah mir etwas weiteres, was mich an diesem Schreibtisch sitzen lässt. Es gab in der Schule eine Projektwoche, und innerhalb dieser Projektwoche gab es ein Seminar zum Thema „kreatives Schreiben“.

Ich erinnere mich an kein Detail, müsste wieder zusammnreimen, was ich erneut nicht tue.
Aber zum Abschluss der Projektwoche gab es eine „öffentliche“ Lesung im Musikzimmer der Schule. Und hier las ich meines ersten Prosatext. Das war wahrscheinlich 1984.
Aber ich sehe mich noch sehr genau neben dem Piano sitzen, sehe heute noch die Gesichter der
Anwesenden, ihre höflich gespielte Neugier, und ich höre mich diesen Text mit leicht zitternde Stimme lesen.

Das alles ist ganz da. Es steht wie greifbares neben mir.
Dann Applaus. Eine Stimme forderte mich auf den Text noch einmal zu lesen. Was ich nicht tat.
Und als ich das Musikzimmer verließ hielt mich ein Lehrer auf und fragte ob ich diesen Text selber geschrieben hätte.

Ich möchte heute glauben, das er es nicht glauben konnte, weil der Text wohl sehr erwachsen Klang. Aber das könnte schon wieder eine Einbildung von mir sein.
Es waren ein paar Zeilen die mit dem berühmten Satz:

"Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin. … dann kommt der Krieg zu dir",

die also mit diesem Satz in einer Variante, spielten.

Von diesem Tag an habe ich so etwas wie ein literarisches Tagebuch geführt, habe damit begonnen selbst Texte zu verfassen, die längst im Dunkel einer Mülltonne verschwunden sind.

Dann geschah wieder Nichts. Nichts heißt ich machte Abitur, machte Zivildienst, fing ein Studium an, beendete es vorzeitig, und so weiter. Alles nur Einzelstücke im Leben. Nichts was ich mit dem heutigen Tag in Verbindung bringen kann.

Irgendwann in den Neunziger lernte ich Michael Klaus kennen. Gelsenkirchener. Schriftsteller.
Er hatte als Lehrer gearbeitet und hatte sich in eine seiner Schülerinnen verliebt. Sie war damals schon achtzehn. Alles erlaubt. Er musste die Schule verlassen. Und er wurde Schriftsteller. Mittlerweile verstorben. Ich möchte behaupten er war ein Freund. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er es genauso beschreiben würde.

Nichtsdestotrotz: Plötzlich kannte ich persönlich jemanden, einen Lebenden, einen Gelsenkirchner zu dem, der Schriftsteller war. Jemanden der mit Müh und Not, aber immerhin , sein Lebensunterhalt mit seiner Kunst verdiente. Und jemanden der, als er von mir erfahren hatte, das ich „auch schriebe“, darauf bestand Texte von mir zu lesen.

Das war das letzte Mal, das ich mich schämte für das was ich so „im Geheimen“ tat. Er nahm mir die Scham. Ich erinnere nicht mehr wie, oder ob es überhaupt ein „wie“gab.

Aber ich schrieb jetzt in der Öffentlichkeit, nicht mehr nur spät Abends allein Zuhause. Ich begann zu notieren, vorzuformulieren, mich zu hinterfragen, zu verwerfen, und die Dinge um mich herum auf eine speziellere Art wahrzunehmen.

Ich weiß gar nicht zu sagen wie. Daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert.
Vielleicht könnte man sagen, während viele Menschen nur „sehen“, also empirisch wahrnehmen, begann ich zu „schauen“. Kann man das verstehen?

Nun, ich verstehe es.

Im Rückblick möchte ich meinen in diesem Zeitraum, trat die Lyrik, die schon geöffnete Tür in mein Leben, vollends auf.

Im übrigen kann ich nicht behaupten das mich Michael Klaus im eigentlichen Sinne ermunterte zu schreiben, oder das er mir gar half. Auch er war Monist, ein hermetisches Wesen, wenn es um „seine“ Kunst ging.

Es scheint da keine aufklärerischen Prozesse zu geben. Der Künstler schöpft nur aus sich selbst.
Ich wünschte mir er hätte gesagt: Du musst deine Sprache finden, oder etwas ähnlich rituell geheimnisvolles, aber das hat er nie getan.
Aber wir haben viel über die Einsamkeit, das Alleine Sein in der Kunst, und über das Glück an sich, das dieser Prozess dem Schreibenden vermittelt, gesprochen.
Immerhin zusätzlich hat sich eine Veränderung im Umfeld meines Bekanntenkreises ergeben. Durch Michael lernt ich Glasmeier kennen, durch Glasmeier öffnete sich die Tür zum Kulturamt der Stadt Gelsenkirchen. Und dadurch lernte ich auf Vernissagen, auf die ich plötzlich offiziell eingeladen, wurde viele Gelsenkirchener Künstler kennen.

Hier begriff ich die Kulturwelt ist nicht deckungsgleich mit der Welt der Kunst. Ganz im Gegenteil, sie berühren sich kaum. Es sind die Künstler die diesen Kulturraum betreten, und wieder verlassen. Sie sind nicht Teil, sie sind nur wie Schilder auf einer Straße. Sie geben der Kultur einen Namen, sie sind aber nicht der Name. Die Künstler die für die Stadt arbeiteten, taten das nur aus finanzieller Notwendigkeit.

Ich war nicht mehr allein.
 



 
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