Geh-schichten von der Via de la Plata

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John Wein

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Montag, 9. September 2019, Galisteo – Carcaboso 12 km

Über den Dächern von Galisteo wölbt sich ein tiefblau kolorierter Herbstmorgen, sonnengeflutet und frisch. Eine Jammergestalt zerrt mich am Ärmel aus den Tiefen eines Traums ins grelle Licht. Ich liege in einer schrägen Kammer mit spärlicher Möblierung. Mein Kopf ist noch verbarrikadiert. Im Radio-Wecker singt eine traurige Stimme vom wundervollen Leben. Vorsichtig taste ich mich in das meine zurück. Draußen erfindet die Turmuhr ihre eigene Zeit.

Galisteo, ein Städtchen wie aus der Zeit gefallen, eingefasst in seinen Mauergürtel. Baulichkeit und Gefüge atmen Geschichte, es sind die Erzählungen aus alten Zeiten und anderen Welten. Um diese Stunde ist kein Leben in den Gassen, da nisten neben den Schwalben, nur Stille und Leere.

Ich turne auf der Mauerkrone, lasse meine Gedanken ihren Lauf, fliege mit Ihnen hinüber zum Horizont, dorthin, von wo ich gestern noch über dieses Meisterwerk gestaunt habe. Jetzt sitze ich hier oben auf den Zinnen und wandere in meiner Erinnerung zurück. Vor mir hat eine Grille ihren Platz genommen. Beide schauen wir in die gleiche Ferne, wo der staubige Weg unter dem makellosen Morgenhimmel über dem Horizont klettert. „Was denkst du“, frage ich den Hüpfer, ist das hier alles Kulisse oder ist das echt?“ Für einen Moment scheint er innezuhalten, nachzudenken, dann krabbelt und husch, hüpft er todesmutig nach unten ins gleißende Sonnenlicht. Das war’s dann! Ein schneidiger Mauersegler, unter dem Torbogen ist seine Heimstatt, hat ein paar Schnäbel zu stopfen.

Die Strecke nach Cascarboso ist mit 12 km nur wenig herausfordernd, was macht es schon, dass sie asphaltiert sind. Guter Dinge mache ich mich auf den Weg durch das nördliche Tor und über den Rücken einer aus allen Zeiten gefallenen Brücke in eine Landschaft ganz ohne Höhepunkte. Gegen 13 Uhr, die Siesta des Tages ist gerade eingeläutet, ist mein Ziel um die Ecke in Carcaboso. Da ist viel Zeit für das Alimentario, um mich ein bisschen um Proviant zu kümmern.

Am Abend, es ist Twilight Time, jene Stunde zwischen hell und dunkel, eine Zeit, an dem sich der Tag noch nicht entscheiden kann zum so oder so. Ich sitze, frisch geduscht, im Gestühl auf dem Bürgersteig vor dem Restaurant des Hostal Ciudad de Cáparra bei einem Glas Bier und warte, dass man mich zum Abendessen, la cena, in den Comedor bittet. Es ist inzwischen 21 Uhr. In Spanien isst man spät, sehr spät!

Vor mir, auf der Dorfstraße, schneidet ein Motorrad knatternd in die Abendstille und über mir, man mag es kaum glauben nach diesen letzten, wolkenlos heißen Tagen, grasen ein paar Schäfchen über die hellblaue Himmelswiese und künden vom Wetterumschwung. Ich fühle mich gut. Die Temperatur ist angenehm. Sacht fächelt der Wind in den Zweigen der Königspalmen im kleinen Park gegenüber und auf der Bank darunter erzählen ein paar Frauen ihre Geschichte vom Tag. Nach Valdeobispo weist das Straßenschild am Abzweig der Hauptsstraße, er ist mein Wegweiser morgen früh.

Und während ich noch warte, dass der Camaréro mit einer Geste zum Essen winkt, zieht die Dämmerung im Osten einen Stern nach dem anderen auf die Himmelswiese Carcabosos.

Der erste Gang ist Gazpacho Andaluz.

-Fortsetzung folgt -
 
Was glaubst du, John Wein, was ich mir gerade ansehe? Über Google Maps eine Serie zur Burg von Galisteo. Da gibt es auch Bilder aus jüngster Zeit, aber ich denke, Veränderungen am Bauwerk dürften nur nach Ablauf von Menschenaltern feststellbar sein, wenn überhaupt. Es wirkt sehr archaisch, ganz schmucklos. Ich habe einen Mauergang oben mit Weitblick gesehen, eine gar nicht so gut gangbare Treppe hinauf und einen alten Mann mit Rucksack vor dem Hintergrund von Ort und Burg (diese Aufnahme von 2011). Wenn ich erst deinen Text lese und dann solche Bilder sehe, führt das zu einem Wiedererkennen: Ach, da war er doch auch ... Nicht dass du unanschaulich schriebest - es ist nur so, dass die Landschaft und die alten Orte dort einem, der nie dort war, zunächst fremd und ungewohnt vorkommen müssen.

Freundliche Grüße
Arno
 

John Wein

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Schön, dass du wieder dabei bist! Leider kann ich hier nicht die entsprechenden Photos zufügen, wir haben ja ein Schreibportal.
Aber auch so kommen mir beim Nachschreiben und Redigieren immer wieder die Bilder in den Sinn, auch die Gefühle von damals und ich hoffe ein bisschen auch dem Leser. Schreibend gehe ich sozusagen die insgesamt 1000 km noch einmal. Wenn ich nicht so alt wäre, könnte ich mir vorstellen, die Tour nochmal zu unternehmen.
Galisteo ist ein Ort, wie aus der Zeit gefallen. Man sieht in jedem Winkel noch das maurische Erbe.
LG, John
 

petrasmiles

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Ich kann das gut verstehen, dass man auch mit den Augen mitreisen möchte, lieber Arno. Mir fehlt dazu noch die Zeit - eigentlich eher Muße, und so bin ich ein wenig neidisch, weil Du aus der Etappe mehr rausholen kannst. Für mich ist sie so schnell vorbei ...
Ich freue mich schon auf den nächsten Teil, lieber John Wein!

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

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Dienstag, 9. September 2019, Carcaboso - Cáppara 18 km

Das kleine Hotel Ciudad de Cáppara bot bei einem Stern ein ruhiges, sauberes Nachtquartier. Ich habe wunderbar geschlafen und stärke mich in der Bar bei einem reichhaltigen Frühstück für unterwegs nach dem anderen Cáppara, das aus der antiken Welt. Jener Ort ist keine Siedlung, sondern nur eine Ansammlung von Grundmauern, mit den Resten eines mächtigen Triumphbogens, inmitten eines Ruinenfelds. Hier befand sich einmal, auf halber Strecke der Via Romana, auf ihrer Nordsüdachse, ein römischer Posten.

In der Nacht ist eine Wetterfront durchgezogen, eigentlich war es mehr eine atmosphärische Störung. Sie hat viel frische, saubere Luft aus Kastilien hinunter in die Extremadura geblasen. Draußen ist es um 9 Uhr bei 12 Grad bemerkenswert frisch, ich muss zum ersten Mal die Ärmlinge überstreifen. Die Wiesennebel sind von der Morgensonne nahezu aufgeleckt und die fernen Kämme sind scharf gegen den blauen Himmel umrissen. Ringsum hat sich die Welt verwandelt. Alles wirkt farbiger und die frische, sauerstoffreiche Luft weitet die Lungen. Sie beschwingt das Herz und beschleunigt meine Schritte. Es ist gut angerichtet für den neuen Tag.

Der Herbst ist die Zeit des Aufbruchs und Abschieds. Die Störche, Flugakrobaten, die ich im Frühling noch so zahlreich bei ihren Flugmanövern bewundert habe, sie sind fort! Alle Nester auf den Gesimsen und Masten sind verweist. Auch die Extremadura scheint den großen Vögeln kein geeignetes Winterquartier zu sein. In ihren Genen ruht seit Generationen der Wandertrieb, der ihnen im südafrikanischen Frühling einen reich gedeckten Tisch verspricht.

Die abwechslungsreiche Hügellandschaft ist unaufgeregt und hat kein anstrengendes Profil. Ich wandere auf eingetretenen Pfaden durch das trockene, goldschimmernde Grasland der Dehesas, eine nahezu parkähnliche Gegend mit knorrigen Steineichen in satten Grüntönen koloriert und mächtigen, von der Eiszeitreise glattgeschliffen und ausgeschwitzten Findlingen, dekoriert. In der Ferne erahnt man das iberische Scheidegebirge, die Sierra de Béjar, mit ihren bis zweieinhalbtausend Meter hohen Gipfeln. Im kühlen Schatten der großen Steine mache ich eine erste Pause. Kastilien, die nächste spanische Region auf meiner Pilgerreise ist ganz nah.

Gegen Mittag, wie aus dem Nichts und prominent in der Landschaft, wächst das antike Tor von Cáppara aus dem umgebenden Ausgrabungsfeld. Es ist Original und Vorlage für den Entwurf der kubischen Granit Wegweiser der Via de la Plata in der Extremadura. Das immerwährende Konzert der Zikaden verstärkt den Eindruck weltlicher Abgeschiedenheit dieses Ortes. Würdevoll in sich ruhend ist dieser Triumphbogen ein Höhepunkt auf dem Weg nach Santiago, er dient den Pilgern heute ganz profan als Schattenspender und Schirm gegen Sonne und Regen.

Überraschend, nachdem sich die geblendeten Augen an die Dunkelheit des Schattens gewöhnt haben, bemerke ich auf dem Boden sitzend eine Person, zwischen Gepäck und Fahrradteilen. Ich bin also nicht allein!

„Hola,..¿que es?.. ¿puedo ayudar? Kann ich helfen? “

Ixabel, eine atlethische, junge Frau: „I am Basque from Bilbao“, schaut ungläubig zu mir herauf. Ungeduldig und vergeblich ist sie damit beschäftigt, einen platten Fahrradreifen aufzupumpen. Ich versuche mein Glück und erkenne nach einigen Hüben, nicht der Schlauch ist defekt, es ist die Luftpumpe!

der Google Übersetzer:
¡No es la manguera, es la bomba de aire!,

Ratlos schaut Ixabel herauf, hier zwischen Baum und Borke, gibt keine Luftpumpen zu kaufen. In meiner Brust erwacht der noble Ritter. Weil die gesamte Etappe mit 40 km für mich extrem zu lang ist, hatte ich ohnehin geplant, ein Taxi nach Aldeadenueva zu nehmen, morgen zurückzukehren und von hier den zweiten Etappenteil zu gehen.

Googl:
¡Ixabel, pídeme un taxi, te llevo conmigo!

Sie bestellt uns das Taxi. Alles wird eingeladen und dann fliegen wir zu Dritt durch die Extremadura und zurück in die Welt der Dinge. Der Taxista, wie praktisch, setzt sie bei einer Tankstelle an der Landstraße ab, hier gibt es kostenfrei Luft für ihren Reifen.

„Adios und buen camino, Ixabel!“

„Tresmentiras“ heißt das kleine Hotel Rural in dem ich zwei Nächte verbringen werde, „Drei Lügen“.

Was mag mich herwarten!?

- Fortsetzung folgt -
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber John,

es will mir scheinen als seien Deine Naturbeschreibungen in diesem Abschnitt besonders gelungen - was nicht heißen soll, das andere schlechter wären - vielleicht sind es nur meine heute besonders offenen Sinne für Deine Beschreibungen.
In der Nacht ist eine Wetterfront durchgezogen, eigentlich war es mehr eine atmosphärische Störung. Sie hat viel frische, saubere Luft aus Kastilien hinunter in die Extremadura geblasen. Draußen ist es um 9 Uhr bei 12 Grad bemerkenswert frisch, ich muss zum ersten Mal die Ärmlinge überstreifen. Die Wiesennebel sind von der Morgensonne nahezu aufgeleckt und die fernen Kämme sind scharf gegen den blauen Himmel umrissen. Ringsum hat sich die Welt verwandelt. Alles wirkt farbiger und die frische, sauerstoffreiche Luft weitet die Lungen. Sie beschwingt das Herz und beschleunigt meine Schritte. Es ist gut angerichtet für den neuen Tag.
Das ist erste Sahne! Man steht neben Dir und atmet mit.

Liebe Grüße
Petra
 
Ja, besonders verdichteter Abschnitt, John, das fiel mir auch auf beim ersten Lesen gestern Abend. Heute habe ich mir noch Bilder des mir bis anhin völlig unbekannten Cáppara angesehen. Arno kennt jetzt ein neues Wort: Tetrapylon.

Schöne Morgengrüße
Arno Abendschön
 

John Wein

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Petra und Arno,
Vielen Dank für eure Rückmeldung bei meiner Tour über die spanischen Horizonte. Es macht auch mir viel Vergnügen, beim redigieren des Tagebuchs, die Etappen noch einmal auch gefühlsmäßig nachzuerleben. Ja und man kann die Strecke nach Santiago heute auch sehr bequem und mit viel Information im Internet nachverfolgen!
In diesem Sinn und bis zur nächsten Etappe ‚Buen Camino‘
John Wein
 

John Wein

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Mittwoch, den 10.09.2019, Cáppara - Aldeanueva del Camino, 20 km

Letzte Nacht habe ich nicht gut geschlafen. Das ist eigentlich ungewöhnlich, denn nach vielen Stunden körperlicher Anstrengung, ist man am Abend müde, hundemüde.

Draußen, vom Gebirge her, brausten am Abend kühle Fallwinde hinunter ins Tal. In den Gassen von Aldeanueva tanzten kleine Staubteufel über die Pflaster und in den Fluren des Tresmentiras knallten die Türen. Auf der Liegewiese, vor meinem Zimmer, flatterten ohrenbetäubend und mit metallischen Geräuschen die Wedel der Palmen. Vorsichtig schloss ich die großen Fenstertüren und verlor mich sacht in ein einschläferndes Gutenacht Brausen.

Mein erster Traum war noch nicht ausgeträumt, als im Nachbarzimmer die Tür krachend ins Schloss fiel. Augenblicklich war mein süßer Schlummer gesprengt. „Da sind Stimmen, die ich nicht entziffern kann, weibliche Stimmen, spanisch und laut“. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und knipste das Licht an. Draußen, auf den Steinplatten, kippte mit einem schleifenden Geräusch der Wäschetrockner. Ich rannte zur Terassentür. Vier Augen, wölfisch im schwachen Licht der Nachtischlampe gespenstisch leuchtend, stierten durch die Scheiben ins Zimmer. Blitzartig war ich putzmunter! Doch so plötzlich, wie wahrgenommen, hatten sich die Geister verflüchtigt. „Django, Lobo, ¡Silencio!, aquí, ven aquí, ¡Vamos!“ „Hier nebenan übernachten zwei Frauen und zwei Hunde!“, schoss es mir in den Kopf. Wenig quälten mich die Gedanken, ob es erlaubt sei, mehr paralysierte mich das nicht verstummen wollende Geschnatter der beiden Frauen. Es raubte mir die letzte Ruhe. Hundemüde, im Groll ermattend, knete ich das Wachs zurecht, drückte es kräftig in die Gehörgänge und stieg hinunter in das seichte Grab eines schlechten Schlafs.

Der Fahrer ist pünktlich und um 9 Uhr morgens stehe ich wieder am Monument von Cáppara. Der Föhnsturm vom Vorabend hat sich gelegt und der Himmel verspricht mir den nächsten heißen Pilger Tag. Die zweite Halbetappe nach Aldeanueva del Camino bemisst sich auf ungefähr 20 km, das Gelände ist flach und der Weg ohne nennenswerte Hindernisse. Über den Höhenzügen der Ferne fliegen einige weiße Wattebäusche und hier unten in der Ebene gibt die Sonne Gas. Schnell klettert das Thermometer wieder über die dreißig Grad Marke.

Ich bin wieder allein in dem harmonischen Naturparadies der Dehesa, dieser goldfarbigen Savanne, locker besetzt mit dunklen Steineichen und knorrig vergreisten Olivenbäumen. Da trippeln die hochbeinigen, schwarzen Schweine fahrig nach Eicheln stöbernd und im Schatten der Kronen versammeln sich die rassigen Pferde der Extremadura mit ihren Fohlen. Über allem, im dicht belaubten Geäst flötet ein vielstimmiger Chor und in den Lüften zirpt die Zweitstimme dazu. Ich summe mein Lied.

Am späten Vormittag mündet der heitere, schmale Naturpfad in ein brüchiges Asphaltband, rechts und links mit Draht gezäunt. Nebenan nimmt die A 66 ihren langen Anlauf für ihren Flug zum Puerto de Behár, dem Pass, der die Grenze zu Kastilien markiert. Allmählich verengt sich die Ebene und begrünt sich. Rechts, im Osten nähern sich die Ausläufer der Sierra de los Gredos. Kleine Dörfer ducken sich in den grünen Balkons der westlichen Hanglagen. Ich ahne, dass ich seit meinem Aufbruch in Sevilla, es langsam aber stetig mit einer vollkommen anderen Landschaft zu tun bekommen werde. Aldeanueva del Camino versteckt sich noch hinter einer kleinen Felsformation, aber die ersten Feldgärten lassen das Ziel schon erahnen. Zwei italienische Fahrradpilger fliegen an mir vorbei: „Chiao und buen camino!“ Jedem das Seine!

Um 14 Uhr bin ich wieder 'daheim' in der Posada Tresmentiras, den drei Lügen. Das Hundegesponst von nebenan ist perdu. Draußen, der kleine Swimmingpool vor meiner Tür, gehört jetzt mir.

Allein!

- Fortsetzung folgt -
 
Der Abschnitt über die abendlichen Geräusche ist besonders gelungen, John. Der Leser glaubt die Details unmittelbar zu hören und zu sehen.

Nächtliche Störungen aus der Umgebung des Zimmers habe ich auch zur Genüge kennengelernt und nach meiner letzten USA-Reise (u.a. eine Woche im total verlärmten YMCA in NYC fast ohne Schlaf deswegen) immer diese kleinen nützlichen Helfer mitgenommen.

Hm, die neueste Unterkunft hat ja einen seltsamen Namen ...

Freundliche Lesergrüße
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
Danke Arno,
Ja, es nervt, wenn man müde ist und keine Ruhe findet. Dabei waren die beiden Damen die einzigen Gäste mit mir im Haus.
Googl dir mal das Tresmentiras und Aldeanueva del Camino, dann bekommst du einen Eindruck.
Gruss zurück,
John
 

John Wein

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Donnerstag, der 12. September 2019,
Aldeanueva – Calzada de Béjar 23 km

Heute ist er dran, der Puerto de Bejár, Pass und Grenze zwischen der Extremadura und Kastilien-Leon. Im Vestibül hänge ich die Zimmerschlüssel ans Bord. Noch auf der Schwelle kurz verweilend, nimmt mich die sonnengeflutete Morgenfrühe in ihre kühlen Arme. Wie wohltuend ist diese Stimmung und der Augenblick des tiefen Friedens! Nur das unermüdliche „Guruh, Guruh“ der Wildtauben kündet von Leben in den grauen Häuserzeilen von Aldeanueva.

Auf dem Weg nach Calzada de Béjar erwarten mich zum ersten Mal viele Höhenmeter. Der gleichnamige Pass liegt auf über neunhundert Meter Seehöhe und zwängt sie alle, die A 66, die Nationalstraße und den Camino, zwischen der Sierra de Béjár und der Sierra de Francia in den enger werdenden Talschluss. Anfangs führt mich ein freudloser Weg neben den Planken der Nationalstraße nach Baños de Montemayor. Zum Glück ist der Verkehr an diesem Morgen bescheiden, die meisten Lenker bevorzugen die Autobahn.

Montemayor ist Heilbad, dessen Quellen schon die Römer zu schätzen wussten. Es gibt Pilger, die hier die Etappe unterbrechen und sich den Luxus eines Aufenthaltes in einem der Badehäuser gönnen. Das verwinkelte Tausendseelen Nest im grünen Talschluss ist der letzte Ort vor der Grenze. Ich mache einen kurzen Photostop und steige dann Meter um Meter auf altem römischem Pflaster zum Pass hinauf. Westlich, am gegenüber liegendem Hang, quälen sich die schweren LKWs auf der A 66 in die Höhe und davor, in traumatischen Windungen, schmiegen sich die Serpentinen der Nationalstraße in die Landschaft. Mein Weg führt durch schattiges Buschwerk auf einem moderat ansteigenden Pfad aufwärts. Gegen 13 Uhr habe ich es geschafft, bin am bisher höchsten Punkt meiner Pilgerreise und in Kastilien-Leon.

Flüchtige Begegnungen:
Etwas bleibt immer. Der Camino ist ein kosmischer Weg zum Campus Stellae. Es steht in den Sternen, wer uns begegnet und was wir unterwegs erleben. Der Augenblick, unsere Verfassung und unsere Stimmung, beherrschen unseren Gang und begleiten uns auf dem Weg. Ich gehe seit Sevilla allein und wen und wann ich unterwegs jemand begegne und ob ich ihn wiedersehen werde, ist vollkommen offen, ist ein Spiel des Zufalls ohne Vorhersage. Das Unterwegssein spricht seine eigene Sprache, eine die man im normalen Alltag oft nicht mehr versteht, weil sie nicht gesprochen wird. Sie verbindet die Pilger untereinander und gibt ihnen Halt und Sicherheit.

Patrik ist ein sympathischer, fünfunddreißigjähriger Steiermärker. Bei einem knackigen Abstieg, ist er meine erste Begegnung am heutigen Tag. Wir kommen ins Gespräch, reden über unsere Erlebnisse und Erfahrungen auf dem Camino. Ich merke plötzlich dieses eigenartige Gefühl der Verbundenheit, das mir als Einzelgänger beim Alleinsein gar nicht aufgekommen war und spüre dabei eine innere Gemeinsamkeit, ein Gefühl, das die Menschen im Kosmos einer Pilgerschaft verbindet. Wir reden über Gott und die Welt, und stolpern dabei gemeinsam auf steinigem Geläuf abwärts und aus dem Wald heraus.

Im rückwärtigen Tal, eingeklemmt zwischen hohen Bergkämmen, sind es noch 6 schattenlose Kilometer zu unserem Tagesziel. Aus dem Brombeergestrüpp gesellt sich ein magerer, weißer Streuner, ich nenne ihn Anton, zu uns. Der schmale Heidepfad zwingt zur Reihe und der Kater nutzt dabei unsere Beine als Slalomstangen. Bei über 30 Grad, im Schweiße des Angesichts straucheln wir das ein ums andere Mal über das Tier. Spärlich spendet uns ein Gemäuer für eine kurze Trinkpause seinen Schatten. Ein paar Löffel Wasser in die Mulde auf die Felsplatte gegeben, reichen für ein paar Schluck des gierigen Schmusers.

Gegen 15 Uhr grüßt in sonnengegerbtem Land der schmucklose Kirchturm von Calzada de Béjar. Es ist wieder einmal Siesta, Stunde der Stille in täglicher Klausur. Nur die rastlosen Haustauben stören in dieser Unzeit flatternd in den Dorffrieden. Geschmeidig gesellt sich der Schmuser zu den seinen im Holunderschatten.

Durch den Perlenvorhang kraulend, entern wir gegenüber der Kirche, die örtliche Bar. Siesta gilt in Spanien nur außerhalb der Mauern. Schnell noch einen Stempel in den Credentional, Schuhe und Rucksack in die Ecke geworfen und das köstlich kühle Estrella über die durstige Kehle gespült; welch ein Genuss am Ende einer Etappe!

Unser einfaches Abendessen, bereitet vom Herbergsvater, ist gerichtet: Tomaten, Serrano, Wein und Pan. Wir sitzen auf der Bank im Garten vor dem Refugio, ein mild durchwebter Sommerabend neigt sich dem Ende. Der rote Stimmungsaufheller vernebelt die Sinne. Ein leichter, rötlicher Schimmer liegt über den Zweitausendern der Sierra, hinten im Dorf versinken die Gassen, einzelne Fenster zeigen schon Licht. Noch ein Glas und noch einmal den vergangenen Tag erinnern und würdig verabschieden, und während hoch oben auf dem Rain der Vollmond durch die Hecke streift, schmust hier unten Anton, der Schnurrer, um unsere Beine.
Pilgergefühle!
- Fortsetzung folgt-


 
Besonders beeindruckt, John Wein, hat mich diesmal der Kater. Ja, es gibt Katzen, die sich darauf spezialisiert haben, an geeigneten Plätzen zufällig vorbeikommende Fremde zu begrüßen und sich ihnen anzuschließen. Aber Vorsicht, im Extremfall wird man sie nur schwer wieder los. ich warte mal ab, wie sich eure Beziehung zu dem Tier evtl. noch entwickelt hat ...

Abendliche Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber John,

ich finde Deine Reiseberichte ganz wunderbar und bin froh, dass Du uns teilhaben lässt.
Auch sprachlich lässt Du es schön funkeln, ganz besonders bei den Landschaftsbeschreibungen.
Und die Auswahl der Themen, die Dich beschäftigen, nehmen mich mit, sind nicht detaliiert, sondern gerade so in den Raum gestellt, dass man mitsinnieren kann.
Ja, der Kater. Das war eine zwischenkreatürliche Verständigung. Wie selbstverständlich Ihr oder Du dem Tier Wasser gegeben hast bzw. habt, das ist eigentlich eine großartige Anerkenntnis eines anderen Lebewesens und seiner Bedürfnisse. Ich glaube nicht, dass Du ihn nicht mehr losgeworden bist, aber das wird der Fortgang der Geschichte zeigen.

Wieder gerne mit eingetaucht.

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Freitag, der 13. September 2019, Calzada de Béjar - Fuenterroble de Salvatierra, 22 km

Freitag, der 13., was mag dieser Tag bedeuten?! Der Morgen hat noch seinen farblos gedämpften Anstrich, Grau- und Brauntöne überwiegen. Faserige Cirruswolken überziehen einen blassen Himmel. Im Laufe des Vormittags schätze ich, wird die Sonne sie aufsaugen.

Es ist frisch, vielleicht 15 Grad, ich habe die Ärmlinge übergestreift. Patrik, ein Frühstarter ist schon unterwegs und Anton, der Schnurrer, er träumt noch im Stuhlkissen unter dem Verandadach von weißen und grauen Mäusen. Leise schleiche ich mich vorbei, gehe auf Zehenspitzen durch den Vorgarten und schließe vorsichtig das Gartentor hinter mir. Hier endet unsere Beziehung!

Heute führt mich der Weg mit 22 km über flaches Terrain nach Fuenterroble de Salvatierra. Zunächst geht es auf staubiger Piste mit leichtem Schritt schnurgeradeaus nach Valdecasa. Nach einer Stunde grüßt rechts am Wegrand die zweieinhalb Meter hohe Säule, eines römischen Meilensteins. Diese Markenzeichen haben viele hundert Jahre irgendwo in den Bauernhöfen und Dörfern der Umgebung überdauert. Heute stellt man sie als Dokument und historisches Erbe zurück an ihre vormalige Stelle. Die lateinischen Inschriften sind oft noch gut erhalten und lesbar. Dieser hat die Nummer 154: „Caesar, göttlicher Sohn von Traianus, Augustus, Germanicus, Pontifex Maximus…“ Daneben hat man auf ausgedehnter Strecke Teile der historischen Straße im Originalzustand ausgegraben. Es zeigt den Aufbau, die abgerundete Form und die Breite der Trassierung. Die Römer hatten vorzügliche Baumeister und Handwerker.

Valdecasa ist ein Ort im westlichen Winkel Kastiliens, den Zeit und Geschichte verloren haben. Aber immerhin gibt es hier eine Bar und ich habe Lust auf einen Americano. Das Gastzimmer gleicht einem Wartesaal ist schmuddelig und hat eine ungastliche Witterung. Ich gehe raus in den Garten. Die Bedienung sitzt am Tisch und telefoniert. Ich störe: „Camarera!?“ Ohne das Gespräch zu beenden bringt sie mir einen Pott Kaffee, das Handy mit dem Ohr in die Schulter geklemmt und schiebt ihn auf den Tisch. „Buen proveche!“ Der Americano ist einwandfrei und weckt ein paar neue Lebensgeister in mir. Ich stehe auf, schiebe den Stuhl unter den Tisch und gehe, ich fühle mich hier nicht wohl.

Hinter dem Ortschild schlängelt es leicht und stetig bis auf 1000m Höhe bergan. Die schmale Straße gehört nicht allein den Pilgern, einigen Asphaltrittern dient der kurvenreiche Kurs auch als Rennpiste. Zweimal rette ich mich in den Graben. In der unteren Himmelsetage sammeln sich ein paar Geier, man sagt, dort wo sie kreisen sei das Tote nicht weit. Ich denke an Patrik, der irgendwo voraus ist.

Oben, auf der Höhe, öffnet sich die Landschaft wieder ins Horizontlose. Die Dehesas reichen rechts und links bis an die Flanken der fernen Berge. In paradiesischer Eintracht lebt auf sommerverbrannter Erde das Weidevieh: Rinder, Schafe und Schweine. Mir kommt Schinken in den Sinn. Am Vorabend hatte ich ein Bocadillo, mit reichlich Schinken belegt, in den Rucksack gepackt, allein der Gedanke daran macht Appetit. Belaubtes Buschwerk hinter einer Gablung und eine Handvoll in die Natur gewürfelte Felsbrocken bieten einen schattigen Rastplatz.

Da, plötzlich wie aus einem Film geschnitten, kommt einer um die Ecke, es ist meine zweite Begegnung der letzten Tage. Alberto ist Kolumbianer mit europäischen Zügen in einem athletischen Körper. Er nimmt die Flasche und leistet mir seine Gesellschaft. Am heutigen Morgen: „en Montemayor, ¡si,si!“ sei er aufgebrochen, will heißen, der Kerl hat jetzt 12 km mehr auf dem Buckel als ich. Ich überschlage: insgesamt 34 km zum Zielort, Hut ab! „Buen camino!“ Er fliegt davon, was solls! Es ist erst 14 Uhr und in der Ferne das ist Ziel gut auszumachen.

Die Gassen in Fuenterroble de Salvatierra sind leer, natürlich ist wieder mal Siesta! Ich schaue mich um. Hinten in der Dorfstraße gegenüber der Bar sitzt jemand und schwenkt einen Bierkrug zu mir herüber.

Patrik!

Meine Herberge liegt am hinteren Zipfel des Dorfes und wird nicht durchgehend bewirtschaftet. Ich habe das ganze Anwesen für mich allein. Den Schlüssel hatte ich, wie im Wanderführer vorgeschlagen, bereits vorn im Dorf beim Besitzer abgeholt. Bis auf eine vergessene Büchse Mahou ist der Kühlschrank im Hause leer. Aber davon allein, werde ich heute nicht mehr satt. Eine kleine Küchenzeile im Erdgeschoss, drei Schlafräume oben im Dach und sogar ein Aufenthaltsraum mit Sofa für müde Couchpotatoes, das ist ein angenehmes Quartier für die Nacht.

Aus der Dusche perlt warmer Regen.

Protein

Um16 Uhr öffnet der kleine Ortsladen neben der Bar. Es ist der tägliche Anlaufpunkt aller Pilger: Pan, Salchichon, Queso ein bisschen Knabberzeug und mein Einkauf ist in der Tüte! Patrik und Alberto schneien herein. Beide sind sie im Pfarrhaus untergekrochen. Die Herberge des Don Blas, geistliche Berühmtheit auf der Via de la Plata und Kult, bietet ihnen Unterkommen. Es gibt Regeln mit festen Essen- und Bettzeiten, dafür ist alles für lau, d.h. für Donativo/Spende.

Mein kolumbianischer Athlet, schwört auf Protein. „Pan, no!“: zu viel Kohlehydrate!, „Salchichón no!“ und „Queso, no!“, zu viele Fette! „Huevos!“ Eier, schwört er, seien die beste Proteinquelle. Die gibt es im Laden aber nur im 12er Pack, was tun? „Gut“, sag ich, „drei, mehr nicht!“, und Patrik: „ok, auch höchstens drei!“ Am hinteren Dorfausgang, in meiner Küche: drei Männer, zwölf Eier, ein Kochtopf und nichts ist unmöglich auf einem Pilgerweg. Alles regelt sich!

Das gemeinsame Abendessen bei und mit Don Blas besteht aus einem Tischgebet, einer zünftigen Linsensuppe, dazu Weißbrot, Salat aus dem Garten, ein bisschen Räucherschinken und zum Abrunden einen Becher Wein. Der fortschreitende Abend bei Don Blas ist ist fröhlich umwölkt aber geregelt, um 10 Uhr ist Zapfenstreich. Patrik und Alberto müssen in die Falle! Aber wohin sonst auch sollte man in Fuenterroble noch auf die Rolle gehen. Ich trolle mich zu meinem Nachtquartier hinter der letzten Laterne des Dorfes und verschmelze mit der nächtlichen Einsamkeit in der Salvatierra.

Oben, hinter der Dachluke über meinem Bett, flattern kleine Vampire über die helle Scheibe des Vollmonds. Er lächelt …. oder lacht er mich aus?

Nun, wer weiß das schon!

Die drei Eier liegen mir schwer im Magen.

-Fortsetzung folgt -
 
Was mir aufgrund der neuesten Folge wieder durch den Kopf ging, John: Haben wir es da bei diesen Begegnungen und Wiederbegegnungen nicht mit einem passageren Netzwerk von Beziehungen zu tun? Und ruft dessen Untergang nicht so etwas wie Wehmut hervor? Ist das ein Antrieb zur späteren Gestaltung? Sind die Namen geändert worden?

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
Ein bisschen stimmt das schon, denn es ist eine Lust diesen Weg und die Zeit in der Erinnerung noch einmal in mir wachzurufen, die Gefühle nachzuempfinden und das für mich selbst (ganz eigennützig) aufzubewahren. Es ist nicht allein das Veröffentlichen in der LL und damit der Gemeinde das Erleben etwas näher zu bringen, sondern beim Redigieren meiner Aufzeichnungen bei mir selbst den Genuss des Nachfühlens zu spüren und mich selbst ein wenig damit zu erden.
Es ist getan! Meine Wege sind gezählt, nicht nur des Alters wegen, sondern des Vermögens. Die letzte Unternehmung in Spanien: Granada - Cordoba musste ich (ich hatte schon eingecheckt nach Madrid) krankheitsbeding absagen. So bleibt mir nur die Abstraktion.
Die sind Namen sind verfremdet, doch die Beziehungen (kein Netzwerk)waren echt.
Gruß John
 

John Wein

Mitglied
Samstag, der 14. September 2019, Fuenterroble de Salvatierra - San Pedro de Rozados, 30 km

Es ist kurz nach Sieben. Ich bin relativ früh unterwegs, Fuenterroble liegt noch in den Federn. Müde Straßenlaternen tauchen die Gassen in milchig gelbes Licht. Nichts scheint real. Bis San Pedro de Rozados sind es knapp 30 km, es wird für mich die bisher längste Etappe auf der Via sein. Unterwegs gibt es viel Gegend, kein Ort und keine Wasserstelle zum Nachtanken, nichts, nur Gelände mit vertrockneter Natur in Braun und Ocker darauf.

Die herbstlichen Architekten haben ganze Arbeit geleistet. Selbst die, aus den grauen Einerlei schielenden Sonnenstrahlen, vermögen da nichts. Diese seltsame Kontrastlosigkeit zwischen Himmel und Erde, alles ist trüb und grau und ein bisschen ist es das auch in mir. Patrik und der Eiermann aus Kolumbien vermute ich irgendwo vor mir, ich sehe das an den Schuhabdrücken im Sand. In aller Welt um mich herum erkenne ich sonst keines Menschen Seele. Der Camino führt in diesem Strich über uralte Pfade. Es ist die antike Via zum Gold von Astorga, originale Meilensteine und die in Teilen freigelegte Trasse belegen das anschaulich. Die Römer haben immer den kürzeren Weg gewählt und so geht’s heute wieder einmal schnurgeradeaus.

Hier begleiten mich auch die alten Viehtriften, Transhumanz genannt, die jetzt im Spätherbst die Herden vom Norden Spaniens in den Süden führen und im Vorfrühling umgekehrt in den Norden. Die „Cañada Reales“ sind 70 m breite Schneisen, die per Königsdekret nicht eingezäunt werden durften und auf denen seit hunderten von Jahren die Hirten mit ihren Tieren zogen und weideten, im Herbst süd- und im Frühjahr nordwärts. Heutzutage versucht man in Teilen dieses historische Erbe wieder zu beleben.

Wie zum Gruß ins graue Einerlei breitet sich ein rosavioletter Teppich vor mir aus, es sind tausende Blüten von Safrankrokussen, die auf dem festen und trockenen Lehmboden der Salvatierra ihren perfekten Standort gefunden haben.

Nach 10 km führt der Weg abrupt steinig steil auf 1170m bergan zum schmalen und felsigen Kamm der Picos de Dueña. Hier geben an die hundert Windräder ein tosendes Konzert in die Einsamkeit der Höhe. Noch lästiger sind die Schwärme winziger Fliegen, die mir ohne Unterlass um den Kopf schwirren. Der Schweiß auf der Stirn lockt sie an. Ich kann danach schlagen, aber erwischen tue ich sie nicht. Eigentlich sind sie auf die Tränenflüssigkeit des Viehs spezialisiert, wahrscheinlich dünken ihnen meine dunklen Brillengläser als Kuhaugen.

What goes up must go down! Unten angekommen breitet sich wieder die unendliche Weite ins Horizontlose. Meine Uhr sagt mir noch dreieinhalb Stunden oder 14 km Wegstrecke vorraus. Ringsum ist nichts, nur Zäune, Mauern und ab und zu ein römischer Meilenstein. In weiter Ferne wähne ich eine Finca, vielleicht ist es auch nur eine Fata Morgana. Wenn ich mir vorstelle, dass sie auf halbem Weg nach San Pedro de Rozados liegt, dann macht es mich noch einsamer. Ist es nicht merkwürdig, dass in dem Wort „gemeinsam“ geh‘ und einsam steckt? Neben dem Camino zeigt mir die verwitterte Asphaltstraße, dass hier früher einmal Leben war.

Die Finca Calzadilla de Mendigos ist auf Schweineschinken spezialisiert. Man riecht es, wenn der Wind vom fernen Hang herüber weht! Hier ringsum, auf einem weit geschwungenen Eichenhain, ist das Leben unseren nahen Verwandten ungetrübtes Schweineglück. Die Tiere laufen frei und putzmunter über die Grasflächen, liegen faul in der Suhle, wühlen nach Wurzeln und Eicheln und produzieren nebenbei den köstlichen Jamón Iberico. Hier darf ein Schwein noch Schwein sein. Mir ist so nach Schinken! Doch ich darf nicht rasten, im Osten künden erste Regenfahnen von einer Wetterfront. Schnell schlinge ich ein paar Bissen hinunter und nehme ein paar lange Züge aus der Wasserflasche, dann muss ich weiter. Der Regen ist nicht das Problem, aber ein Gewitter in dieser Landschaft wäre sicher ungesund.

Pling! Das Handy kündet mir, Patrik ist in San Pedro.

Es sind noch zwei Wegstunden oder 8 km bis zum Ziel und ich beschleunige meine Schritte. Jetzt vielleicht mit nur 120 Minuten zu kalkulieren ist wenig beruhigend. Von der Landschaft nehme ich nur noch wenig wahr, da ist sowieso alles Gegend. Mein scheuer Blick geht mehr ins Östliche, nach dort woher es schwarz und dunkel dräut. Noch halten die ersten Wolkenschiffe über mir die nasse Fracht, doch der Wind, himmlischer Vorbote der nahenden Front, bläst mir schon heftig ins Gesicht. Hinten am Horizont, eine lockere Baumreihe markiert den Weg, erkenne ich den Abzweig nach San Pedro, von dort sind es noch drei Kilometer. Geniesel setzt ein, was soll‘s, jetzt gilt nur noch der Drang nach vorwärts! Den Anorak aus dem Rucksack kramen, hieße Zeit verschwenden, was nass ist kann trocknen, aber bitte lieber Gott erspare mir in diesem schutzlosen Grasland ein Gewitter! Oben fliege ich über die Kuppe hinweg, da hinten in der Talmulde duckt sich San Pedro de Rozados. Noch eine halbe Stunde, dann sollte ich es geschafft haben.

Endlich bin ich im Dorf! Regenfahnen peitschen über den Asphalt und speisen lehmige Sturzbäche in den Gassen. Zwischen den Häuserzeilen spurte ich die letzten Meter hinauf zum Hostal, öffne die Tür des „Carreras“, atemlos aber kreuzglücklich. Vorn, an einem Tisch in der Guten Stube, wartet schon jemand auf mich.

„Hallo Patrik!“
 
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Dieser Abschnitt, geschätzter John, ist dir besonders gelungen. Es liegt an der Fülle von Details aus der Außenwelt, die knapp und treffend dargestellt werden. Natürlich liegt es auch daran, dass dieser Abschnitt des Weges besonders ergiebig und im Verlauf abwechslungsreich war. Es fällt dann leichter, eine den Leser anregende Atmosphäre zu erzeugen.

Schönen Abendgruß
Arno
 



 
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