Sonntag, der 15. September 2019, San Pedro de Rozados - Salamanca 26 km
Wenn ich die Augen schließe, fliege ich über weites Land.
Heute ist Sonntag der 15. September. Um Sieben ist die Welt noch in Ordnung aber stockdunkel. Ich öffne das Fenster. Gegenüber im Lichtschein, erkenne ich eine hohe Mauer, sonst ist da nichts, nur Dunkelheit. Bis in die frühen Morgenstunden hatte es geregnet. Ich fühle mit der Hand in die Schwärze, es nieselt. Nach den Sturzbächen der Nacht riecht man die frische Sauberkeit der Atmosphäre. Es ist recht kühl, vielleicht 10° C, San Pedro de Rozados liegt immerhin auf 1000 Höhe.
Ich freue mich auf Salamanca, habe ich doch viel Interessantes über die glorreiche Geschichte und die Schönheit dieser Stadt gehört und gelesen. Heute werde ich alles mit meinen eigenen Augen sehen und erleben können. Aber es liegt auch eine gefühlte Wehmut in meiner Freude, denn es ist heute mein letzter Gang auf der Via, dem Weg der mir in den vorangegangenen Tagen viele schöne Momente geschenkt hat. Meine Eindrücke waren vielfältig und nachdrücklich und sie werden mit vielen Emotionen in meinem Kopf weiterspinnen. Daheim, in der Erinnerung, werde ich einmal alles in einem glorreichen Licht nacherleben können. Der Weg verändert jeden, der ihn geht. Er schenkt Glück im Empfinden, Gelassenheit im Wesen, und Demut gegenüber der Schöpfung.
Um 8 hänge ich in der Bar zum Frühstück. Allein! Diesem sonst lebendigen Raum fehlt noch die Seele. Da ist noch niemand kein Laut, kein Lachen, nur das leise Brummen des Kühlschranks. Es ist Sonntag, die letzte Nacht war spät. Auch auf dem Land ist der Spanier kein Morgenmensch. Um halb neun kommt die Señora mit einer deftigen Portion Schinken, Chorizo und Spiegeleiern aus der Küche. Olé! Damit fordere ich heute noch jeden Stier.
Patrik ist längst wieder über alle Berge, es ist für mich ohne Belang. In Salamanca werden wir uns ohnehin wiedertreffen, irgendwann. Unterwegs bin ich gern allein, es bietet mir die Möglichkeit einer Selbstreflektion im Kosmos allen Lebens.
Die Hauptstraße in ihrer tiefenden Nässe widerspiegelt den traurigen Himmel über San Pedro. Ich bin voll Freude und Zuversicht heute nicht nur die finale Etappe zu gehen, sondern auch das Ziel meines zweiten Abschnitts, der vor zwei Wochen in Cáceres begann, zu erleben. Morille erreiche ich nach einer knappen Stunde. Es ist ein sehr kleiner Ort, der einzige auf der heutigen Etappe. Ein paar misstrauische Katzen drücken sich der Dorfstraße herum, sonst ist auch hier am Sonntagmorgen kein Leben. Hinter dem Ort empfängt mich wieder die abgeerntete Weite mit ihrer braunen Krume. Noch einmal öffne ich ein Gatter, erklimme einen Haag von Steineichen, knarzige, alte Bäume und knorrige Gewächse wie ich. Oben, am fernen, dunstverwaschenen Horizont, erahne ich bereits die Türme von Salamanca. Mir wachsen Flügel!
Unten öffnet sich wieder die Ebene ins Unendliche. In diesem sanft gewellten Land, wogt im Frühsommer ein grünes Weizenmeer. Kastilien ist die Kornkammer Spaniens, hier entsteht das Weißbrot, 'pan', das auf keinem Tisch im Land fehlen darf. Nun, da alle Felder abgeerntet sind, ist es ein Flickenteppich in Ocker- und Brauntönen und darüber, hoch über allem, fliegende die Wolkenfregatten, grau und weiß in ihren Schattierungen, über das blaueste Himmelsblau.
Der Weg, kriecht über das wellige Land, da ist jetzt kein Baum oder Strauch, der die Sicht hindern könnte. Meine Augen fliegen über die abgeernteten Felder und suchen den Horizont. Dort oben, hinten und immer noch fern, kommen die Türme Salamancas wieder ein Stück näher. Im Jahr 1812 besiegte Wellington auf dieser Ebene die napoleonische Armee. Die Geschichte hält mich nicht auf. Auf einer Felsnase über dem Schlachtfeld steht ein Jakobskreuz und erzählt sie jedem, den es interessiert. Mein Ziel scheint jetzt zum Greifen nah, und doch kündet das Navi noch von zwei langen Stunden.
Als ich die ersten Häuser erreiche, versteckt sich die Kathedrale, mein Wegweiser, hinter Hügeln und den Gebäuden der Vorstadt. Ich verlaufe mich prompt, es kostete mich 2 Extrakilometer. Der Wanderführer im Rucksack ist meinem Auge und Gefühl überlegen. Ich folge dem Ratgeber in einer weiten Schleife des Rio Thormes und gelange endlich zur mächtigen Römerbrücke, deren Pflaster mich ins Zentrum führt. Ich bin da!
Salamanca.
Es ist Sonntag und in den Gassen und auf den Plätzen flaniert das Publikum. Ich muss mich erst wieder an die Menschen gewöhnen, das quirlige Leben war mir in den vergangenen Tagen fremd geworden. Allein mit meinen Gedanken in Gottes Natur, habe ich das Gras wachsen hören, habe der summenden Erde und dem zwitschernden Himmel gelauscht, habe das Recken und Strecken der Bäume vernommen und allen Wettern und Schmerzen getrotzt, habe es eingetauscht gegen das unstete, laute und rastlose Treiben daheim und mich gut erholt. Jetzt, wo alles vorbei ist, muss mich erst wieder an die andere, meine normale Welt, gewöhnen. Und übermorgen, hoch über den Wolken, werde ich dem Land da unten Adiós sagen. Aber versprochen, ich komme wieder, werde meiner Passion auf der Via de la Plata folgen und meinen Weg zum Sternenfeld weiter folgen. In der Kathedrale gibt man mir einen hübschen Stempel in den Pilgerpass, den vorerst letzten.
Das Hotel Las Torres liegt am Plaza Mayor, ein Juwel eingefasst in ein Geviert von Arkaden, ist es einer der schönsten Plätze Spaniens. Hier, im pulsierenden Zentrum der Stadt unmittelbar am linken Flügel des Rathauses, gönne ich mir den Luxus zwei Tage zu wohnen.
Im Bogen unter dem Rathaustor bin ich mit Patrik zum Abendessen verabredet.
-Fortsetzung folgt -