Ji Rina
Mitglied
Es war zu Beginn eines Sommers, als sie mich besuchte. Morgens um sieben stand sie vor der Tür.
>Helga!< Ich dachte, ich sehe nicht richtig.
>Tach!<
>Was machst du denn hier?< Sie lebte in Berlin. Und da stand sie nun, in einem blaugepunkteten leichten Kleid, die Sonnebrille hoch über die Stirn gezogen.
>Bin die Nacht durchgefahren<
So war sie. Immer kam sie unangemeldet. Seit einem halben Jahr hatten wir uns nicht mehr gesehen. Wir fielen uns um den Hals.
>Konntest nicht vorher Bescheid sagen?<
>Nö. Wollte dich überraschen!<
Die Überraschung war gelungen. Wir standen auf der Terrasse und sie zeigte auf den Parkplatz.
>Schau mal, was sagste nu?<
Ich blickte auf einen großen hellblauen Mercedes.
>Ist das deiner?<
>Musste ich haben!<
Schön fand ich ihn nicht. Zu groß, irgendwie eckig, hässlich, keine Ahnung, wahrscheinlich eins dieser älteren Modelle. Und dann diese Farbe …
>Hm, sieht gut aus …< Ich kratzte mich am Kinn. >Und wieso diese Farbe?<
>Geil was? 'n Freund aus Berlin hat ihn mir lackiert!<
>Hm … nicht schlecht!<
Wir gingen rein, und ich schlug vor zu frühstücken. Helga setzte sich auf die Holzbank und ich machte mich ans Werk, während sie von ihrer Reise, von Berlin, und den Leuten, die wir gemeinsam kannten, erzählte.
So ein deutsches Frühstück hat mit einem spanischen ja nichts zu tun. Wir essen höchstens ein Croissant oder ein paar Kekse und trinken dazu einen Kaffee. Aber wenn Freunde aus Deutschland zu Besuch kamen, holte ich alles Essbare raus, was ich nur finden konnte: Graubrot, Toast, Butter, Honig, Eier, Schinken, Käse, Wurst, Jogurt, Obst, Gurke, Quark, Erdbeer-Marmelade, Müsli, Nüsse. Das musste reichen.
>Was macht eigentlich Timo?<
>Der ist in Portugal<
Aha. Timo war Helgas Freund. Ich dachte immer, ihre Beziehung sei nicht das Gelbe vom Ei, aber nun waren sie schon seit sieben Jahre zusammen.
>Und was macht er da?
>Braucht Ruhe<
So war das immer. Dieser Timo schien immer Ruhe zu brauchen. Und so reiste er ständing durch die Gegend – ohne Helga. Seltsame Beziehung.
>Wollen wir irgendwo hinfahren?<, fragte sie, >Wir könnten eine kleine Reise machen … in den Süden oder so … Der Wagen steht ja schon bereit …<
Ich grinste: >Nach Portugal?<
>Ach Quatsch! Sag, wo du hinwillst! Nach Sevilla? Nach Madrid? Wollen wir einfach mal nach Paris fahren?<
Ich dachte darüber nach, legte zwei Eier in das kochende Wasser und plötzlich fiel mir was ein.
>Ja. Wir könnten wohin fahren!<
>Sach!<
>Saintes-Maries-de-la-Mer <
>Watt?<
>Das ist ein kleiner Ort im Süden Frankreichs, nicht weit von der spanischen Grenze<.
Ich nahm Platz, schenkte uns Kaffee ein und erzählte ihr von diesem Argentinier namens Diego, den ich zwei Monate zuvor im Dorf kennengelernt hatte. An jenem Morgen trank ich einen Kaffee in einer Bar und las ein Buch und er saß einen Tisch weiter. Und ja, es war nicht so, dass ich ihn nicht längst bemerkt hätte. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und überlegte aus welcher Ecke er wohl herkam, da ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Alter Schwede, wie der aussah: Braungebrannt, längere dunkle gepflegte Haare, irre Augen, schöne Hände, tolle Figur. Und eine Aura, die nur so um sich sprühte! Er sah ein paarmal zu mir rüber, und plötzlich fragte er mich, was für ein Buch ich läse. Ich sagte es ihm, versuchte aber, dabei cool zu bleiben. Denn wenn Männer einem perfekten Ideal gleichen, ist das ein schlechtes Omen. Aber für mich waren die Männer zu der Zeit sowieso ein schlechtes Omen, denn ich fand gar keinen. Umso überraschter war ich, als er plötzlich an meinem Tisch saß und über Hemingway redete (Das Buch, das ich las, war: “49 Stories”) Verblüfft stellte ich fest, dass er fast alles von ihm kannte. Wie dem auch sei, wir unterhielten uns über alles Mögliche: Das Wetter, das spanische Essen, die unterschiedlichen Mentalitäten und so weiter. Als ich ihn fragte, ob er als Tourist unterwegs sei, erklärte er, er habe Freunde im Dorf, in deren Wohnung er eine Woche lang Urlaub mache. Und dass er am nächsten Tag jedoch zurück nach Saintes-Maries-de-la-Mer müsse, da er dort am Hafen arbeite und Segelboote betreue. Wir tranken zwei Kaffees und dann fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, ihm ein wenig das Dorf zu zeigen. Ja, hatte ich. Wir liefen zum Hafen, dann auf der anderen Seite wieder rauf ins Dorf, wo ich ihm ein paar Aussichts-terrassen zeigte, von denen aus man das Meer und die Umgebung sehen konnte. Dann landeten wir wieder in einer Bar und mir kam es so vor, als wollten wir uns gar nicht mehr trennen. Es herrschte eine knisternde Energie zwischen uns. So, als würden wir uns ein Leben lang kennen. Ich war bereits verknallt, ließ mir aber nichts anmerken. Seine Blicke durchdrangen mich wie ein Blitz. Und wenn er lachte, zeigte er eine ganze Reihe schneeweißer Zähne. Um es kurz zumachen: Ich fiel in so eine Art Romantic Flash. Auf jeden Fall verabschiedeten wir uns an dem Tag vor dem Café in dem wir uns kennengelernt hatten und das Letzte, was er sagte, war, ich solle doch mal nach Saintes-Maries-de-la-Mer kommen und ihn besuchen. Es sei eine wunderschöne Gegend.
>Oha …<, sagte Helga und zog die Augenbrauen hoch, >Und bei dir hat's ordentlich geknallt, was?<
>Kann man wohl sagen<, antwortete ich und köpfte sehr konzentriert das Ei.
>Na dann, nix wie los!<
Unsere Entscheidung war also rasch getroffen. Es machte nichts, wenn ich drei, vier Tage verschwand. Zu dem Zeitpunkt kümmerte ich mich um vier Wohnungen, die ich für einen Amerikaner verwaltete, und dort war alles in Ordnung. Die Mieten waren kassiert, die Reparaturen in den Wohnungen erledigt. Der Amerikaner war auf Reisen, und ich hatte Zeit.
Am darauffolgenden Tag warf ich meine Tasche mit ein paar Kleidungsstücken, einem Bikini und ein paar CDs auf den Rücksitz des Mercedes, und wir fuhren los. Bis nach Valencia hörten wir Supertramp. Es folgte The Clash, Pink Floyd, Talking Heads. Irgendwann kam die Sonne raus, ein roter Ball über dem Meer. Helga fuhr sehr konzentriert. Hier und da machte sie Bemerkungen über den Mercedes, wie gut er doch führe und wie geil er aussehe. Sie war überrascht, wie wenig Benzin er brauchte, und erklärte mir den Preis pro Liter und Kilometer. Ich nickte und sah aus dem Fenster. Die Sonne hatte sich über dem Meer erhoben und tauchte Dörfer und Täler in orangerotes Licht. Ich dachte an Diego, und in manchen Augenblicken war ich so abwesend, dass ich nicht mal mehr hörte, was Helga erzählte.
Die Vorstellung, vor seinem Boot aufzutauchen und ihn zu überraschen, jagte mir ein Kribbeln durch den Körper. Ich malte mir die Szene so intensiv wie möglich aus; sein überraschter Blick, sein Lächeln. Tja, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt …
>Was arbeitet dieser Typ eigentlich?<
>Irgendwas mit Booten.<, sagte ich >Er lebt da am Hafen und erledigt Jobs.<
>Und wie sieht er aus?<
>Göttlich!<
>Mh … Du bist verknallt! Das merke ich dir doch an! Du bist über beide Ohren verknallt! Fährst neunhundert Kilometer zu einem Typen, dem du an einem Tag begegnet bist.<
Das stimmte. Als wir uns damals verabschiedeten, lag eine Art Vertrautheit, etwas wie ein geheimes Einverständnis in unseren Blicken, so als ob es zwischen uns noch etwas Unerledigtes gäbe, irgendetwas, das irgendwann noch kommen musste. Nun. Mit jedem Kilometer, den wir Richtung Frankreich fuhren, war ich ihm näher.
>Nicht, dass ich dann da das fünfte Rad am Wagen bin?<, sagte Helga und lachte.
Daran hatte auch ich gedacht. Denn diesmal würden Diego und ich Zeit haben. Wir könnten so lange spazierengehen und uns Dinge erzählen, wie es uns Spaß machte. Wir würden guten Wein trinken, vielleicht in seiner Bootsküche irgendetwas kochen, einen selbst geangelten Fisch braten. War es nicht das, was man auf Booten so machte? Und irgendwann würden wir uns in Diegos Koje zurückziehen…So stellte ich es mir vor. Gedanklich sah ich das kleine Liebesgemach bereits vor mir: ein Regal mit ein Paar Büchern über Segelboote, drei, vier herumfliegende Kleidungstücke und ein Bett mit einem angegrauten, zerknitterten Laken, auf dem wir unsere wildesten Träume ausleben würden. Und was würde Helga währenddessen machen? In einer Chauffeurjacke am Tisch sitzen und warten? Darüber wollte ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Es würde sich schon regeln.
Irgendwann machten wir halt um in einer Raststätte etwas zu essen. Wir bestellten Tapas und ein Glas Wein. Ab Narbonne war es dann nicht mehr weit. In früheren Jahren war ich hier oft entlanggefahren. Erinnerte mich plötzlich auch ganz vage an den Namen Saintes-Maries-de-la-Mer. Aber als ich ihn diesmal las, bekam ich Herzklopfen. Und als wir den Ort erreichten und in Richtung des Hafens fuhren, dachte ich plötzlich, dass das Ganze völlig absurd war. Was, wenn wir ihn gar nicht finden würden? Was wenn er wieder verreist war?
Wir suchten das Hafenbüro auf und parkten direkt vor dem Eingang. Außer einer freundlich aussehenden Dame mit kurzem, burschikosem Haarschnitt war niemand zu sehen. Ich fragte nach einem Argentinier namens Diego, der Boote reparierte und hier irgendwo einen Liegeplatz hatte. Zu meiner Überraschung wusste sie sofort, wen ich meinte.
>Diego? Na klar, Diego Quina! Sein Boot liegt gleich hier fünfzig Meter weiter. Sie müssen nur nach links gehen, und wenn Sie auf der Höhe des Cafés sind, stehen Sie direkt davor. Sein Boot heißt Soledad.<
>Wissen Sie, ob er da ist?<, fragte ich so cool wie möglich, und spürte das Schlottern meiner Beine.
Sie kniff die Augen zu, und überlegte: >Also, vor zwei Tagen habe ich ihn noch gesehen. Da war er mit einem Herrn hier im Büro.<
Er war da! Nur wenige Meter von uns entfernt! Das Ganze hatte sich doch gelohnt. Meine Intuition hatte mich nicht getäuscht. Wir bedankten uns und gingen hinaus.
>Nervös?< Helga grinste.
Ja. Ich war nervös. Und ich war verdammt verliebt. Als wir am Kai vor dem Café standen, entdeckte ich es als Erste. Ein kleines Segelboot mit weißem und türkisfarbenem Anstrich und seitlich einer kleinen schrägen Aufschrift: ›Soledad‹. Auf dem Boot war niemand zu sehen. Aber ich bemerkte eine kleine, gespannte Hängeleiter. Falls er also nicht an Bord war, so war er zumindest in der Nähe. Wir standen unschlüssig da und blickten auf das Boot, das sanft auf dem Wasser schaukelte.
>Soledad …<, sagte ich beeindruckt. >Das bedeutet Einsamkeit. Was für ein suggestiver, poetischer Name …<
>Mh…<, machte Helga, >Und nu?<
Ich zuckte mit den Schultern und nahm all meinen Mut zusammen. Dann rief ich laut seinen Namen. Zuerst etwas zögernd, doch dann entschlossener. >Dieeegooo?<
Eine Weile passierte nichts, aber dann hörten wir etwas. Eine Luke wurde aufgeschoben, und ein dunkler Haarschopf tauchte auf. Ich erkannte ihn sofort. Diego. Sein Gesicht, seine Augen, sein Lächeln.
>Das gibt’s doch nicht!< Er lachte und zeigte seine weißen göttlichen Zähne.
Und ich stellte sofort fest, dass er genauso gut aussah wie zwei Monate zuvor. Nein, jetzt sah er noch viel besser aus. >Wir wollten dir einen kleinen Besuch abstatten<, sagte ich und lachte.
>Ich kann’s nicht fassen!<, rief er, trat zur Hängeleiter und hielt uns die Hand entgegen. >Kommt rüber! Seid ihr von Alicante bis hierher gefahren? Habt ihr wirklich hierhergefunden? Kommt rein! Kommt rein!<
>Na, schwer war’s nicht<, sagte Helga. >Immer geradeaus und dann rechts.<
Er reichte uns die Hand und half uns über den Steg. Und als ich seine Hand hielt, spürte ich eine Elektrizität, die wie ein Blitz durch meinen Körper fuhr.
Wir stiegen hinab durch die Luke in einen kleinen, abgedunkelten Wohnraum. Diego knipste ein Lämpchen an. Ich blinzelte, sah dann einen Tisch mit Stühlen, dahinter eine Holzbank, auf der ein Mädchen saß. Sie trug ein knöchellanges Seidenkleid in pastellrosa, hatte hüftlange, hellblonde Locken und sah sehr nordisch aus. Sie schien überrascht, lächelte aber freundlich.
>Silvie!<, rief er. >Ich habe Besuch aus Spanien, ist das nicht irre?< Er bedeutete uns, auf den Stühlen Platz zu nehmen und setzte sich neben das Mädchen auf die Bank.
Ich sah mich um, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, und weil ich plötzlich eine eisige Wand spürte, die in mir hochkroch und ein befremdliches Gefühl auslöste. Auf dem Tisch standen eine ausgetrunkene Flasche Wein und zwei Gläser. Eine leere, zusammengedrückte Schachtel Gauloises. Ein halb voller Aschenbecher. Landkarten …
Was ist mit dir los?, fragte meine innere Stimme. Gehst du jetzt unter, nur weil ein Mädchen da sitzt? Wahrscheinlich ist sie seine Cousine aus Argentinien oder die Schwester seines besten Freundes. Oder sie ist die Besitzerin des Nachbarbootes und einfach nur mit ihm befreundet.
>Wann haben wir uns damals getroffen?<, fragte er mich, als ob er mit einer alten Bekannten spräche. >Wann war das? Vor drei Monaten? Vor vier?<
>Vor zwei<, antwortete ich sehr sachlich. Ein rascher Blick auf das Mädchen machte mir bewusst, wie unheimlich schön sie war. So schön, dass es fast schmerzte. Der Schnitt ihres Gesichts mit den hohen Wangenknochen – wie gemeißelt. Die hellblonden Naturlocken, die ihr von den Schultern bis zu den Hüften fielen. Das pastellrosa Kleid ließ sie wie ein Engel aussehen. Ja, wahrhaftig, das Mädchen sah aus wie ein Engel. Es fehlte ihr nur noch der Heiligenschein und die Flügel, um zum Fenster hinaus zu fliegen.
>Um wieviel Uhr seit ihr denn abgefahren?<, fragte er und legte den Arm um sie. >Wie lange habt ihr denn gebraucht?<
Ich gab keine Antwort, sondern starrte auf irgendeinen Fleck an der Holzwand. Ich spürte eine Art Lähmung, etwas sehr Seltsames, das mein Sprachzentrum traf.
>Um sechs Uhr heute Morgen<, antwortete Helga, >War ’ne geile Fahrt, nicht viel Verkehr. Hab’n an einer Raststätte noch was gegessen.<
Das Mädchen legte nun ebenfalls ihren Arm um Diegos Schultern und sah uns aufmerksam an. Dann kraulte sie mit ihren Fingern zwischen seinen Locken. >Wo seid ihr den ursprünglich her?<, wollte sie wissen.
>Ich komme aus Berlin<, hörte ich Helga sagen. Ihre Stimme klang plötzlich ganz weit weg. >Und sie<, sie reckte das Kinn in meine Richtung, >lebt schon seit vielen Jahren in Spanien.<
Silvie warf mir einen nachdenklichen Blick zu. >Interessant<, sagte sie. >In Spanien … Wow! Ist ja echt interessant.<
Diego lachte. >Unglaublich!<, sagte er und legte seinen Kopf in ihre Halsgrube. >Da haben wir Besuch aus Spanien!< Er hob seinen Kopf, lächelte Silvie an und küsste sie auf die Wange.
Für einen kurzen Augenblick sahen sie sich stumm in die Augen, und dann verschmolzen ihre Lippen miteinander. Zuerst zaghaft, sanft, dann entschlossener. Und schließlich so heiß und innig, dass Helga und ich schnelle Blicke austauschten. Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte, wusste nicht, ob ich lachen oder heulen sollte, war völlig überfordert.
Sie waren so bei der Sache, dass es ihnen völlig egal war, wer da gerade vor ihnen saß. Diese Liebe musste noch ganz frisch sein. Wahrscheinlich hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Er, gut gebaut, braungebrannt, mit einem Dreitagebart, der ihn so abgefuckt gut aussehen ließ, dass es einen umhaute, und sie wie eine vom Himmel hinabgestiegene Fee. Der liebe Gott hatte sie wohl zusammengebracht, weil sie sich finden sollten. Karma. Ja, weil sie zusammengehörten. Sie waren so vertieft, so in ihrem Rausch, wie es nur zwei sind, die sich nach langer Suche gefunden haben.
Helga grinste und warf mir immer wieder rasche Blicke zu. Und ich wusste nicht, was dieses dämliche Dauergrinsen zu bedeuten hatte. Die beiden hingen eng umschlungen da, während ihre Lippen über die Wangen, die Stirn und die Augen des anderen wanderten. Und wären Helga und ich in dem Moment nicht dagewesen, hätten wir nicht da vor ihnen am Tisch gesessen, hätten sie dort Liebe gemacht. Sie hätten sich wie in Trance ihrer Kleidung entledigt und es da auf der Holzbank getrieben. Ich starrte auf den vollen Aschenbecher und versuchte, mich zu sammeln. Zweifellos waren wir zur falschen Zeit am falschen Ort. Irgendetwas war hier völlig schief gelaufen.
Vor meinem geistigen Augen sah ich den Hafen von Saintes-Maries-de-la-Mer. Ich sah den blauen Himmel und die kleinen, in der Sonne glitzernden Boote; das graue Bürogebäude und die darüber kreisenden Möwen. Und dann kam mir der Mercedes in den Sinn, der in seiner ganzen Hässlichkeit dort einsam vor dem Hafenbüro stand. Groß und unübersehbar. Hellblau. Deutsches Nummernschild. Weit weg von zu Hause, fremd in dieser Gegend. Was hatte einen hellblauen Mercedes aus Berlin nach Saintes-Maries-de-la-Mer verschlagen? Und unversehens sah ich diesen Mercedes als unsere einzige Rettung. Bald würden wir uns verabschieden. Wir würden irgendeine Ausrede finden. Sagen, dass wir eigentlich noch weiterwollten. Nach Saint Tropez, um an den Strand zu gehen. Oder nach Cannes, um uns die Lavendelfelder anzusehen, oder weiß der Geier was.
Wir würden stumm zurück zum Hafengebäude trotten und in den Mercedes steigen. Und dieser dämliche hellblaue Mercedes würde uns die neunhundert Kilometer zurück nach Hause fahren.
>Helga!< Ich dachte, ich sehe nicht richtig.
>Tach!<
>Was machst du denn hier?< Sie lebte in Berlin. Und da stand sie nun, in einem blaugepunkteten leichten Kleid, die Sonnebrille hoch über die Stirn gezogen.
>Bin die Nacht durchgefahren<
So war sie. Immer kam sie unangemeldet. Seit einem halben Jahr hatten wir uns nicht mehr gesehen. Wir fielen uns um den Hals.
>Konntest nicht vorher Bescheid sagen?<
>Nö. Wollte dich überraschen!<
Die Überraschung war gelungen. Wir standen auf der Terrasse und sie zeigte auf den Parkplatz.
>Schau mal, was sagste nu?<
Ich blickte auf einen großen hellblauen Mercedes.
>Ist das deiner?<
>Musste ich haben!<
Schön fand ich ihn nicht. Zu groß, irgendwie eckig, hässlich, keine Ahnung, wahrscheinlich eins dieser älteren Modelle. Und dann diese Farbe …
>Hm, sieht gut aus …< Ich kratzte mich am Kinn. >Und wieso diese Farbe?<
>Geil was? 'n Freund aus Berlin hat ihn mir lackiert!<
>Hm … nicht schlecht!<
Wir gingen rein, und ich schlug vor zu frühstücken. Helga setzte sich auf die Holzbank und ich machte mich ans Werk, während sie von ihrer Reise, von Berlin, und den Leuten, die wir gemeinsam kannten, erzählte.
So ein deutsches Frühstück hat mit einem spanischen ja nichts zu tun. Wir essen höchstens ein Croissant oder ein paar Kekse und trinken dazu einen Kaffee. Aber wenn Freunde aus Deutschland zu Besuch kamen, holte ich alles Essbare raus, was ich nur finden konnte: Graubrot, Toast, Butter, Honig, Eier, Schinken, Käse, Wurst, Jogurt, Obst, Gurke, Quark, Erdbeer-Marmelade, Müsli, Nüsse. Das musste reichen.
>Was macht eigentlich Timo?<
>Der ist in Portugal<
Aha. Timo war Helgas Freund. Ich dachte immer, ihre Beziehung sei nicht das Gelbe vom Ei, aber nun waren sie schon seit sieben Jahre zusammen.
>Und was macht er da?
>Braucht Ruhe<
So war das immer. Dieser Timo schien immer Ruhe zu brauchen. Und so reiste er ständing durch die Gegend – ohne Helga. Seltsame Beziehung.
>Wollen wir irgendwo hinfahren?<, fragte sie, >Wir könnten eine kleine Reise machen … in den Süden oder so … Der Wagen steht ja schon bereit …<
Ich grinste: >Nach Portugal?<
>Ach Quatsch! Sag, wo du hinwillst! Nach Sevilla? Nach Madrid? Wollen wir einfach mal nach Paris fahren?<
Ich dachte darüber nach, legte zwei Eier in das kochende Wasser und plötzlich fiel mir was ein.
>Ja. Wir könnten wohin fahren!<
>Sach!<
>Saintes-Maries-de-la-Mer <
>Watt?<
>Das ist ein kleiner Ort im Süden Frankreichs, nicht weit von der spanischen Grenze<.
Ich nahm Platz, schenkte uns Kaffee ein und erzählte ihr von diesem Argentinier namens Diego, den ich zwei Monate zuvor im Dorf kennengelernt hatte. An jenem Morgen trank ich einen Kaffee in einer Bar und las ein Buch und er saß einen Tisch weiter. Und ja, es war nicht so, dass ich ihn nicht längst bemerkt hätte. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und überlegte aus welcher Ecke er wohl herkam, da ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Alter Schwede, wie der aussah: Braungebrannt, längere dunkle gepflegte Haare, irre Augen, schöne Hände, tolle Figur. Und eine Aura, die nur so um sich sprühte! Er sah ein paarmal zu mir rüber, und plötzlich fragte er mich, was für ein Buch ich läse. Ich sagte es ihm, versuchte aber, dabei cool zu bleiben. Denn wenn Männer einem perfekten Ideal gleichen, ist das ein schlechtes Omen. Aber für mich waren die Männer zu der Zeit sowieso ein schlechtes Omen, denn ich fand gar keinen. Umso überraschter war ich, als er plötzlich an meinem Tisch saß und über Hemingway redete (Das Buch, das ich las, war: “49 Stories”) Verblüfft stellte ich fest, dass er fast alles von ihm kannte. Wie dem auch sei, wir unterhielten uns über alles Mögliche: Das Wetter, das spanische Essen, die unterschiedlichen Mentalitäten und so weiter. Als ich ihn fragte, ob er als Tourist unterwegs sei, erklärte er, er habe Freunde im Dorf, in deren Wohnung er eine Woche lang Urlaub mache. Und dass er am nächsten Tag jedoch zurück nach Saintes-Maries-de-la-Mer müsse, da er dort am Hafen arbeite und Segelboote betreue. Wir tranken zwei Kaffees und dann fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, ihm ein wenig das Dorf zu zeigen. Ja, hatte ich. Wir liefen zum Hafen, dann auf der anderen Seite wieder rauf ins Dorf, wo ich ihm ein paar Aussichts-terrassen zeigte, von denen aus man das Meer und die Umgebung sehen konnte. Dann landeten wir wieder in einer Bar und mir kam es so vor, als wollten wir uns gar nicht mehr trennen. Es herrschte eine knisternde Energie zwischen uns. So, als würden wir uns ein Leben lang kennen. Ich war bereits verknallt, ließ mir aber nichts anmerken. Seine Blicke durchdrangen mich wie ein Blitz. Und wenn er lachte, zeigte er eine ganze Reihe schneeweißer Zähne. Um es kurz zumachen: Ich fiel in so eine Art Romantic Flash. Auf jeden Fall verabschiedeten wir uns an dem Tag vor dem Café in dem wir uns kennengelernt hatten und das Letzte, was er sagte, war, ich solle doch mal nach Saintes-Maries-de-la-Mer kommen und ihn besuchen. Es sei eine wunderschöne Gegend.
>Oha …<, sagte Helga und zog die Augenbrauen hoch, >Und bei dir hat's ordentlich geknallt, was?<
>Kann man wohl sagen<, antwortete ich und köpfte sehr konzentriert das Ei.
>Na dann, nix wie los!<
Unsere Entscheidung war also rasch getroffen. Es machte nichts, wenn ich drei, vier Tage verschwand. Zu dem Zeitpunkt kümmerte ich mich um vier Wohnungen, die ich für einen Amerikaner verwaltete, und dort war alles in Ordnung. Die Mieten waren kassiert, die Reparaturen in den Wohnungen erledigt. Der Amerikaner war auf Reisen, und ich hatte Zeit.
Am darauffolgenden Tag warf ich meine Tasche mit ein paar Kleidungsstücken, einem Bikini und ein paar CDs auf den Rücksitz des Mercedes, und wir fuhren los. Bis nach Valencia hörten wir Supertramp. Es folgte The Clash, Pink Floyd, Talking Heads. Irgendwann kam die Sonne raus, ein roter Ball über dem Meer. Helga fuhr sehr konzentriert. Hier und da machte sie Bemerkungen über den Mercedes, wie gut er doch führe und wie geil er aussehe. Sie war überrascht, wie wenig Benzin er brauchte, und erklärte mir den Preis pro Liter und Kilometer. Ich nickte und sah aus dem Fenster. Die Sonne hatte sich über dem Meer erhoben und tauchte Dörfer und Täler in orangerotes Licht. Ich dachte an Diego, und in manchen Augenblicken war ich so abwesend, dass ich nicht mal mehr hörte, was Helga erzählte.
Die Vorstellung, vor seinem Boot aufzutauchen und ihn zu überraschen, jagte mir ein Kribbeln durch den Körper. Ich malte mir die Szene so intensiv wie möglich aus; sein überraschter Blick, sein Lächeln. Tja, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt …
>Was arbeitet dieser Typ eigentlich?<
>Irgendwas mit Booten.<, sagte ich >Er lebt da am Hafen und erledigt Jobs.<
>Und wie sieht er aus?<
>Göttlich!<
>Mh … Du bist verknallt! Das merke ich dir doch an! Du bist über beide Ohren verknallt! Fährst neunhundert Kilometer zu einem Typen, dem du an einem Tag begegnet bist.<
Das stimmte. Als wir uns damals verabschiedeten, lag eine Art Vertrautheit, etwas wie ein geheimes Einverständnis in unseren Blicken, so als ob es zwischen uns noch etwas Unerledigtes gäbe, irgendetwas, das irgendwann noch kommen musste. Nun. Mit jedem Kilometer, den wir Richtung Frankreich fuhren, war ich ihm näher.
>Nicht, dass ich dann da das fünfte Rad am Wagen bin?<, sagte Helga und lachte.
Daran hatte auch ich gedacht. Denn diesmal würden Diego und ich Zeit haben. Wir könnten so lange spazierengehen und uns Dinge erzählen, wie es uns Spaß machte. Wir würden guten Wein trinken, vielleicht in seiner Bootsküche irgendetwas kochen, einen selbst geangelten Fisch braten. War es nicht das, was man auf Booten so machte? Und irgendwann würden wir uns in Diegos Koje zurückziehen…So stellte ich es mir vor. Gedanklich sah ich das kleine Liebesgemach bereits vor mir: ein Regal mit ein Paar Büchern über Segelboote, drei, vier herumfliegende Kleidungstücke und ein Bett mit einem angegrauten, zerknitterten Laken, auf dem wir unsere wildesten Träume ausleben würden. Und was würde Helga währenddessen machen? In einer Chauffeurjacke am Tisch sitzen und warten? Darüber wollte ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Es würde sich schon regeln.
Irgendwann machten wir halt um in einer Raststätte etwas zu essen. Wir bestellten Tapas und ein Glas Wein. Ab Narbonne war es dann nicht mehr weit. In früheren Jahren war ich hier oft entlanggefahren. Erinnerte mich plötzlich auch ganz vage an den Namen Saintes-Maries-de-la-Mer. Aber als ich ihn diesmal las, bekam ich Herzklopfen. Und als wir den Ort erreichten und in Richtung des Hafens fuhren, dachte ich plötzlich, dass das Ganze völlig absurd war. Was, wenn wir ihn gar nicht finden würden? Was wenn er wieder verreist war?
Wir suchten das Hafenbüro auf und parkten direkt vor dem Eingang. Außer einer freundlich aussehenden Dame mit kurzem, burschikosem Haarschnitt war niemand zu sehen. Ich fragte nach einem Argentinier namens Diego, der Boote reparierte und hier irgendwo einen Liegeplatz hatte. Zu meiner Überraschung wusste sie sofort, wen ich meinte.
>Diego? Na klar, Diego Quina! Sein Boot liegt gleich hier fünfzig Meter weiter. Sie müssen nur nach links gehen, und wenn Sie auf der Höhe des Cafés sind, stehen Sie direkt davor. Sein Boot heißt Soledad.<
>Wissen Sie, ob er da ist?<, fragte ich so cool wie möglich, und spürte das Schlottern meiner Beine.
Sie kniff die Augen zu, und überlegte: >Also, vor zwei Tagen habe ich ihn noch gesehen. Da war er mit einem Herrn hier im Büro.<
Er war da! Nur wenige Meter von uns entfernt! Das Ganze hatte sich doch gelohnt. Meine Intuition hatte mich nicht getäuscht. Wir bedankten uns und gingen hinaus.
>Nervös?< Helga grinste.
Ja. Ich war nervös. Und ich war verdammt verliebt. Als wir am Kai vor dem Café standen, entdeckte ich es als Erste. Ein kleines Segelboot mit weißem und türkisfarbenem Anstrich und seitlich einer kleinen schrägen Aufschrift: ›Soledad‹. Auf dem Boot war niemand zu sehen. Aber ich bemerkte eine kleine, gespannte Hängeleiter. Falls er also nicht an Bord war, so war er zumindest in der Nähe. Wir standen unschlüssig da und blickten auf das Boot, das sanft auf dem Wasser schaukelte.
>Soledad …<, sagte ich beeindruckt. >Das bedeutet Einsamkeit. Was für ein suggestiver, poetischer Name …<
>Mh…<, machte Helga, >Und nu?<
Ich zuckte mit den Schultern und nahm all meinen Mut zusammen. Dann rief ich laut seinen Namen. Zuerst etwas zögernd, doch dann entschlossener. >Dieeegooo?<
Eine Weile passierte nichts, aber dann hörten wir etwas. Eine Luke wurde aufgeschoben, und ein dunkler Haarschopf tauchte auf. Ich erkannte ihn sofort. Diego. Sein Gesicht, seine Augen, sein Lächeln.
>Das gibt’s doch nicht!< Er lachte und zeigte seine weißen göttlichen Zähne.
Und ich stellte sofort fest, dass er genauso gut aussah wie zwei Monate zuvor. Nein, jetzt sah er noch viel besser aus. >Wir wollten dir einen kleinen Besuch abstatten<, sagte ich und lachte.
>Ich kann’s nicht fassen!<, rief er, trat zur Hängeleiter und hielt uns die Hand entgegen. >Kommt rüber! Seid ihr von Alicante bis hierher gefahren? Habt ihr wirklich hierhergefunden? Kommt rein! Kommt rein!<
>Na, schwer war’s nicht<, sagte Helga. >Immer geradeaus und dann rechts.<
Er reichte uns die Hand und half uns über den Steg. Und als ich seine Hand hielt, spürte ich eine Elektrizität, die wie ein Blitz durch meinen Körper fuhr.
Wir stiegen hinab durch die Luke in einen kleinen, abgedunkelten Wohnraum. Diego knipste ein Lämpchen an. Ich blinzelte, sah dann einen Tisch mit Stühlen, dahinter eine Holzbank, auf der ein Mädchen saß. Sie trug ein knöchellanges Seidenkleid in pastellrosa, hatte hüftlange, hellblonde Locken und sah sehr nordisch aus. Sie schien überrascht, lächelte aber freundlich.
>Silvie!<, rief er. >Ich habe Besuch aus Spanien, ist das nicht irre?< Er bedeutete uns, auf den Stühlen Platz zu nehmen und setzte sich neben das Mädchen auf die Bank.
Ich sah mich um, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, und weil ich plötzlich eine eisige Wand spürte, die in mir hochkroch und ein befremdliches Gefühl auslöste. Auf dem Tisch standen eine ausgetrunkene Flasche Wein und zwei Gläser. Eine leere, zusammengedrückte Schachtel Gauloises. Ein halb voller Aschenbecher. Landkarten …
Was ist mit dir los?, fragte meine innere Stimme. Gehst du jetzt unter, nur weil ein Mädchen da sitzt? Wahrscheinlich ist sie seine Cousine aus Argentinien oder die Schwester seines besten Freundes. Oder sie ist die Besitzerin des Nachbarbootes und einfach nur mit ihm befreundet.
>Wann haben wir uns damals getroffen?<, fragte er mich, als ob er mit einer alten Bekannten spräche. >Wann war das? Vor drei Monaten? Vor vier?<
>Vor zwei<, antwortete ich sehr sachlich. Ein rascher Blick auf das Mädchen machte mir bewusst, wie unheimlich schön sie war. So schön, dass es fast schmerzte. Der Schnitt ihres Gesichts mit den hohen Wangenknochen – wie gemeißelt. Die hellblonden Naturlocken, die ihr von den Schultern bis zu den Hüften fielen. Das pastellrosa Kleid ließ sie wie ein Engel aussehen. Ja, wahrhaftig, das Mädchen sah aus wie ein Engel. Es fehlte ihr nur noch der Heiligenschein und die Flügel, um zum Fenster hinaus zu fliegen.
>Um wieviel Uhr seit ihr denn abgefahren?<, fragte er und legte den Arm um sie. >Wie lange habt ihr denn gebraucht?<
Ich gab keine Antwort, sondern starrte auf irgendeinen Fleck an der Holzwand. Ich spürte eine Art Lähmung, etwas sehr Seltsames, das mein Sprachzentrum traf.
>Um sechs Uhr heute Morgen<, antwortete Helga, >War ’ne geile Fahrt, nicht viel Verkehr. Hab’n an einer Raststätte noch was gegessen.<
Das Mädchen legte nun ebenfalls ihren Arm um Diegos Schultern und sah uns aufmerksam an. Dann kraulte sie mit ihren Fingern zwischen seinen Locken. >Wo seid ihr den ursprünglich her?<, wollte sie wissen.
>Ich komme aus Berlin<, hörte ich Helga sagen. Ihre Stimme klang plötzlich ganz weit weg. >Und sie<, sie reckte das Kinn in meine Richtung, >lebt schon seit vielen Jahren in Spanien.<
Silvie warf mir einen nachdenklichen Blick zu. >Interessant<, sagte sie. >In Spanien … Wow! Ist ja echt interessant.<
Diego lachte. >Unglaublich!<, sagte er und legte seinen Kopf in ihre Halsgrube. >Da haben wir Besuch aus Spanien!< Er hob seinen Kopf, lächelte Silvie an und küsste sie auf die Wange.
Für einen kurzen Augenblick sahen sie sich stumm in die Augen, und dann verschmolzen ihre Lippen miteinander. Zuerst zaghaft, sanft, dann entschlossener. Und schließlich so heiß und innig, dass Helga und ich schnelle Blicke austauschten. Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte, wusste nicht, ob ich lachen oder heulen sollte, war völlig überfordert.
Sie waren so bei der Sache, dass es ihnen völlig egal war, wer da gerade vor ihnen saß. Diese Liebe musste noch ganz frisch sein. Wahrscheinlich hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Er, gut gebaut, braungebrannt, mit einem Dreitagebart, der ihn so abgefuckt gut aussehen ließ, dass es einen umhaute, und sie wie eine vom Himmel hinabgestiegene Fee. Der liebe Gott hatte sie wohl zusammengebracht, weil sie sich finden sollten. Karma. Ja, weil sie zusammengehörten. Sie waren so vertieft, so in ihrem Rausch, wie es nur zwei sind, die sich nach langer Suche gefunden haben.
Helga grinste und warf mir immer wieder rasche Blicke zu. Und ich wusste nicht, was dieses dämliche Dauergrinsen zu bedeuten hatte. Die beiden hingen eng umschlungen da, während ihre Lippen über die Wangen, die Stirn und die Augen des anderen wanderten. Und wären Helga und ich in dem Moment nicht dagewesen, hätten wir nicht da vor ihnen am Tisch gesessen, hätten sie dort Liebe gemacht. Sie hätten sich wie in Trance ihrer Kleidung entledigt und es da auf der Holzbank getrieben. Ich starrte auf den vollen Aschenbecher und versuchte, mich zu sammeln. Zweifellos waren wir zur falschen Zeit am falschen Ort. Irgendetwas war hier völlig schief gelaufen.
Vor meinem geistigen Augen sah ich den Hafen von Saintes-Maries-de-la-Mer. Ich sah den blauen Himmel und die kleinen, in der Sonne glitzernden Boote; das graue Bürogebäude und die darüber kreisenden Möwen. Und dann kam mir der Mercedes in den Sinn, der in seiner ganzen Hässlichkeit dort einsam vor dem Hafenbüro stand. Groß und unübersehbar. Hellblau. Deutsches Nummernschild. Weit weg von zu Hause, fremd in dieser Gegend. Was hatte einen hellblauen Mercedes aus Berlin nach Saintes-Maries-de-la-Mer verschlagen? Und unversehens sah ich diesen Mercedes als unsere einzige Rettung. Bald würden wir uns verabschieden. Wir würden irgendeine Ausrede finden. Sagen, dass wir eigentlich noch weiterwollten. Nach Saint Tropez, um an den Strand zu gehen. Oder nach Cannes, um uns die Lavendelfelder anzusehen, oder weiß der Geier was.
Wir würden stumm zurück zum Hafengebäude trotten und in den Mercedes steigen. Und dieser dämliche hellblaue Mercedes würde uns die neunhundert Kilometer zurück nach Hause fahren.
Zuletzt bearbeitet: