In eigener Mission auf See
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28. Oktober 20061
Der winzige Raum bot den beiden Männern kaum Platz. Zusammengekauert zwischen ausgedienten Tauen, alten Lackdosen und rostigen Ölkanistern warteten sie, bis die Nacht hereinbrach, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Die Ungewissheit über den Ausgang des Unterfangens steigerte ihre Nervosität.
Über den Tag hatte sich die stickig, übelriechende Luft in dem Versteck dermaßen erhitzt, dass ihnen das Atmen von Stunde zu Stunde immer schwerer fiel. Der Schweiß rann ihnen über die Körper und tropfte von ihren Gesichtern.
Seit dem ersten Fluchtversuch ihres Freundes, der vor zwei Wochen tödlich endete, hatten sie entschlossen auf diesen Moment hingearbeitet. Gemeinsam mit ihren Kollegen schmuggelten sie Trinkwasser, Lebensmittel und notwendige Utensilien an den Wachen vorbei. Für die Rettung aller, das wussten die beiden Männer, musste es wenigstens einem von ihnen gelingen zu entkommen.
„Wird Zeit, dass das Warten endlich ein Ende hat“, flüsterte der ältere der beiden. „Bei der Hitze ist das Wasser alle, noch bevor wir vom Schiff runter sind.“
„Immerhin wurden wir bis jetzt von den Kerlen noch nicht vermisst. Hab noch etwas Geduld, die Ablösung kommt bald. Gegen Ende werden die eh nachlässig. Die denken dann nur noch an ihren Feierabend. Das ist unsere Chance. Bis dahin müssen wir noch aushalten.“
Beide packten ihre Wasserflaschen zurück in die Plastikbeutel und schnürten diese fest zu. Sie banden sich ein Seil mit zwei daran befestigten Bleistücken um die Hüften und knoteten die mit Nahrung und Wasser gefüllten Plastiksäckchen mit daran fest.
„Brauchen wir das Blei wirklich?“, fragte der Ältere unsicher.
„Wenn wir schnell runterkommen wollen, schon. Möchtest für die doch keine Zielscheibe abgeben wollen, oder? Und vergiss nicht, was ich Dir gesagt habe. Hole paar Mal so tief Luft, wie du kannst. Du weißt, wir müssen es bis runter zur Neptun und darein schaffen. Also halt schön die Luft an. Erst wenn wir in der Neptun sind, kannst du wieder atmen. Halt ja den Beutel beim Absprung gut fest. Wir brauchen das Zeug noch. Und bitte beginne gleich, wenn Du im Wasser landest, mit dem Druckausgleich, nicht erst, wenn die Ohren zu schmerzen beginnen, denn dann wäre es zu spät“, wiederholte der Jüngere geduldig. Sie hatten das schon zigmal bis ins Detail bei der Vorbereitung der Flucht durchgesprochen. Er überprüfte den festen Sitz des Strickgürtels seines Kollegen. „Es geht gleich los“, stellte er mit einem Blick auf die Armbanduhr fest und steckte sein Tauchermesser in den Hosenbund.
Beide Männer lehnten sich an die Eisentür und lauschten, bis sie wenig später den Lärm der Mitgefangenen hörte. Dies war das vereinbarte Ablenkungsmanöver. Wie erwartet, vernahmen sie wenig später die eiligen Schritte von den schweren Stiefeln der Wachen, die direkt an ihrer Tür vorbei den Gang entlang liefen.
„Okay, sie sind durch. Los jetzt“, flüsterte der jüngere Mann, griff nach der Unterwasserlampe und dem Taucherkompass. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt und lugte auf den Gang. Niemand war zu sehen. Er zog den Freund mit sich hinaus. Jede sich bietende Nische als Deckung nutzend, liefen sie den langen Gang entlang, bis sie ins Freie traten. Mit den Rücken, dicht an den Brückenaufbau gedrängt, atmeten sie die frische Luft ein und spürten den lauen Wind, der von Norden her übers Meer wehte. Sie betrachteten den Himmel der Neumondnacht, dann spähten sie übers Meer und atmeten erleichtert auf, als sie sahen, dass die Wasseroberfläche fast glatt wie ein Spiegel war.
Gute Bedingungen für die riskante Flucht. Sie hatten Glück. Im Gegensatz zu einer Neumondnacht ließ sich das Wetter nicht vorausplanen. Eine stürmische See mit hohen Wellen und einer starken Strömung hätte das ohnehin gefährliche Unterfangen aussichtslos gemacht.
Einige Schritte trennten die Männer noch von der Reling und dem Sprung hinab ins Meer, als eine Alarmsirene schrillte und sie der grelle Lichtstrahl des Suchscheinwerfers blendete. Vor Schreck erstarrten sie für einen Moment in ihrer Bewegung.
„Los macht schon! Ihr müsst sie erwischen. Nun knallt die Kerle doch endlich ab!“, bellte der Anführer mit tiefer, wütender Stimme seine ersten Befehle.
„Komm, wir springen trotzdem“, entschied der jüngere Mann, alles auf einen Karte setzend. Die Unterwasserlampe fest im Griff zog er den älteren mit sich. Zeitgleich sprangen sie über Bord. Noch ehe sie die Wasseroberfläche erreichten, eröffnete die Wache das Feuer auf sie.
Durch den unkontrollierten Absprung presste es den Flüchtigen schmerzhaft die Luft aus den Lungen als sie auf die Wasseroberfläche auftrafen. Dann schlugen die Wellen über ihnen zusammen und die Bleigewichte zogen sie rasch in die Tiefe. Unzählige Projektile peitschten durch das von Suchscheinwerfern erhellte Wasser dicht an ihnen vorbei.
„Los, nun macht schon! Schießt! Deckt von mir aus die ganze Fläche mit Blei ein, bis ihr sie durchlöchert habt wie ein Sieb. Die dürfen uns nicht entwischen!“, brüllte der Anführer mehrere Schützen an. Der Klang der ratternden Maschinenpistolen hallte ohrenbetäubend übers Meer. Bald zeichnete sich eine Blutspur im Wasser ab, die immer größer wurde und trieb, von der leichten Strömung getragen, gegen den Schiffsrumpf.
„Wir haben sie, Boss!“, schrie einer der Männer triumphierend.
„Gut gemacht. Fischt die Kerle raus. Ich will sichergehen, dass ihr sie beide erwischt habt.“
„Das wird nicht nötig sein, Boss. Den Rest erledigen die da“, rief ein anderer der Männer von der Reling aus und deutete dabei grinsend auf die unverkennbaren Rückenflossen, die sich knapp über der Wasseroberfläche langsam näherten. Mit teuflischem Vergnügen beobachteten die Männer, wie die Haie an einer Stelle zu kreisen begannen, immer engere Bahnen zogen und dann blitzschnell auf ihre Beute in die Tiefe stießen, bis das Wasser rot zu kochen schien.
Bevor der neue Morgen graute, war der ganze Spuk vorbei.
Zu dem Entsetzen, der Wut und der Trauer unter den Gefangenen gesellte sich nun zunehmende Resignation. Mit dem grausamen Tod der beiden Männer verloren sie jegliche Hoffnung auf Rettung.
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03. Dezember 2006Die ersten Flocken tanzten vom Himmel, als Romana aus dem Haus trat und zu ihrem Wagen ging. Einige Schneekristalle verfingen sich in ihrem roten, welligen Haar und schmolzen langsam zu Wassertropfen, die wie Perlen in ihren Locken schimmerten.
Gut gelaunt setzte sie sich hinter das Steuer ihres metallicblauen Honda Civic und startete den Motor. Sie war auf dem Weg zu ihrer Mutter. Gemeinsam wollten sie bei einem gemütlichen Kaffeetrinken den ersten Advent feiern, bevor sie ihre Nachtschicht im Krankenhaus antreten musste.
Bevor sie ihr eigentliches Ziel erreichte, wollte sie in Frau Richters Blumenladen vorbeischauen. Sie musste sich beeilen, denn Frau Richter öffnete sonntags nur für kurze Zeit. "Mann fahr schon", schrie sie die Windschutzscheibe an, meinte jedoch den Dussel in seiner Angeberkarre, der gleich beide Fahrstreifen einnahm. "Komm runter Romy", murmelte sie und atmete tief durch. Obwohl es Sonntag, noch dazu der erste Advent war, schien wohl jeder unterwegs zu sein, denn an der Kreuzung hinter der Elbbrücke staute sich der Verkehr. Die ersten ungeduldigen Autofahrer taten ihren Unmut darüber mit lautem Hupen kund, das man bestimmt bis zum Zwinger hörte.
Sie mochte Frau Richter. Sie war etwas älter als ihre Mutter, dafür fitter. Frau Richter und ihre Mutter verband eine ebenso tiefe und langjährige Freundschaft, wie Romana und Ralf, Frau Richters Sohn. "Ralf" Sie lächelte. Sie grübelte nach, wann sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Seit der Sandkastenzeit waren sie eng befreundet und hatten die Verbindung zueinander nie abreißen lassen. Auch nicht, als sie nach der Schulzeit unterschiedliche Wege gegangen waren und die geografische Distanz von Kontinenten meist nur lockeren Kontakt zuließ. Umso mehr hatten sie die gemeinsame Zeit auf dem Forschungsschiff genossen. Nachdem sie zwei Jahre als Mitglied der Organisation Ärzte ohne Grenzen gearbeitet hatte, trat sie ihren Dienst als Bordärztin auf der Blue Sea an. Die Besatzungsmitglieder und Wissenschaftler an Bord hatten sie sofort in ihrer Mitte aufgenommen. Ja, Ralf war nicht ganz unschuldig daran. Wo Ralf war, war Leben. Aber nicht allein die Crew nahm sie auf, sondern ebenso das kleine Team in der Basisstation an Land, welches die Verbindung zum Forschungsschiff hielt. Für sie auch der Anlaufpunkt, um frische Lebensmittel oder Gerätschaften aufzunehmen. Sie dachte sehr gern an diese Zeit und die netten Leute an Bord zurück. Das war fast zwei Jahre her. Mit Ralf hatte sie den Großteil ihrer Freizeit auf dem Schiff und beim Tauchen verbracht. Er war Techniker auf der Blue Sea und Pilot des kleinen Forschungs-U-Bootes sowie des Hubschraubers an Bord.
Endlich angekommen, parkte Romana ihren Wagen direkt vor dem Blumenladen. Sie betrachtete das liebevoll weihnachtlich dekorierte Schaufenster, bevor sie hineinging.
Freundlich grüßend trat sie ein. Tief zog sie den Blumenduft durch die Nase ein, was ihr gleich ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.
„Oh, Romy, schön, dich mal wiederzusehen“, begrüßte Frau Richter sie. „Du möchtest bestimmt ein paar Blumen für deine Mutter mitnehmen. Suche dir nur in Ruhe die Schönsten aus.“
Romana kannte Frau Richter als ausgeglichene, frohe Frau, aber dieses mal kam sie ihr verändert, irgendwie unsicher und abwesend vor. Ihre Hände zitterten, ihre Stimme klang nicht so fröhlich wie sonst gewohnt. Ihre Augen wanderten ruhelos hin und her. Ihr Gesicht war blass und von tiefen Sorgenfalten gezeichnet.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Romana.
„Ja, ja, geht schon“, meinte sie und tat es mit einer Handbewegung ab. Bevor Romana nachhaken konnte, fuhr Frau Richter mit besorgter Stimme fort: „Ich weiß, dass ich mit niemanden darüber sprechen sollte. Die Beamten haben es mir ja verboten. Angeblich, weil es Ralf schaden könnte. Aber ich weiß doch, dass du bestimmt nichts weitererzählen wirst. Na ja, und deiner Mutter habe ich es auch schon erzählt. Ich musste einfach mit jemanden darüber reden. Mein Ralf ist jetzt schon seit über zwei Wochen verschwunden. Und nun soll ich mit keinem darüber sprechen dürfen, sondern den Beamten Bescheid geben, wenn er sich bei mir meldet. Romy, ich weiß nicht, was ich davon halten und jetzt tun soll.“ Bei den letzten Worten zitterte ihre Stimme.
Romana brauchte einige Sekunden, um das Gehörte zu verarbeiten.
„Das muss ein Missverständnis sein, Frau Richter. Oder jemand hat sich einen bösen Scherz mit Ihnen erlaubt“, erklärte sie ruhig. „Ich hatte erst vor kurzem Mailkontakt mit meinem Kollegen und Nachfolger auf der Blue Sea. Der hätte mir doch etwas davon geschrieben, wenn Ralf verschwunden wäre“, versuchte sie Frau Richter zu beruhigen. „Was waren das überhaupt für Beamte? Von welcher Behörde kamen die denn?“
Frau Richter setzte sich auf ihren Stuhl hinter dem Ladentisch. „Ich weiß es nicht, Romy. Ich habe nicht nach ihren Ausweisen gefragt. Alles kam so überraschend. Es ging alles so schnell“, Sie hielt sich die Hand vor den Mund. „Danach hätte ich wirklich fragen sollen. Und von diesem neumodischen Computerkram, deinen Mähls, oder wie du das nennst, versteh’ ich nichts. Aber es muss etwas passiert sein. Jede Woche bekam ich Post von meinem Jungen, und wenn’s nur eine Ansichtskarte war. Und jetzt, seit über drei Wochen, nichts mehr. Kein Brief, keine Karte, kein kurzer Anruf, nichts!“
„Vielleicht sind sie diesmal länger unterwegs und Ralf konnte seine Nachricht noch nicht auf der Basis abgeben. Sie wissen doch, dass die Post schon mal länger ausbleiben kann. Sie sind auf dem Roten Meer unterwegs und steuern manchmal auch wochenlang keinen Hafen an“, versuchte Romana sie nochmals zu beruhigen.
„Das weiß ich doch auch, Romy. Aber sonst hatte er mir vorher auch immer mit geschrieben, wenn sie mal länger unterwegs waren, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche, wenn da mal eine Woche nichts kommen sollte. Doch auf der letzten Karte stand nichts davon. Und ja, ich weiß, dass die Post von dort auch immer lange unterwegs ist. Aber trotzdem. Ich habe sogar versucht ihn anzurufen, obwohl so ein Auslandsgespräch bestimmt teuer ist. Aber da war nur der Ansagetext zu hören, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar ist.“
„Ach Frau Richter, bitte machen Sie sich keine Sorgen. Vielleicht hat er es nur vergessen mit zu erwähnen oder sie mussten sofort wieder auslaufen, sodass er keine Zeit mehr dafür hatte. Naja und eine Handyverbindung auf den Roten Meer kann da schon auch Glückssache sein. Kommt ganz darauf an, wo sie gerade sind“, versuchte es Romana erneut und lächelte sie zuversichtlich an. „Sobald ich Näheres in Erfahrung gebracht habe, gebe ich Ihnen sofort Bescheid“, versprach sie.
Nun selbst verunsichert und in Gedanken versunken, verließ sie den Laden ohne einen Blumenstrauß für ihre Mutter. Sie entschied sich, das Auto stehen zu lassen, denn beim Haus ihrer Mutter, gab es kaum Parkmöglichkeiten und sonntags war es eh eine Glücksache.
Romana hatte den Haustürschlüssel ihrer Mutter vergessen und musste klingeln. Sie brauchte nicht lange warten, bis der Türöffner summte. Noch während Romana die Stufen in den ersten Stock hoch stieg, hörte sie, wie ihre Mutter die Wohnungstür öffnete.
„Entschuldige, Mutsch. Ich wollte dir Blumen mitbringen. Hab’ sie dann aber bei Frau Richter vergessen. Sie hat mir von Ralfs Verschwinden erzählt. Sag mal, weißt du mehr davon? Ich kann das eigentlich gar nicht recht glauben. Wie sollte das gehen? Er ist doch immer noch auf dem Schiff. Wenn er über Bord gegangen wäre, dann hätte ich doch schon davon erfahren“, sprudelte es aus ihr hervor.
Ihre Mutter packte sie beim Arm, zerrte sie in die Wohnung und ließ die Tür hinter ihr ins Schloss fallen.
„Mensch Mädchen, Irmgard hat mir das im Vertrauen erzählt. Und du posaunst es durchs ganze Treppenhaus, damit es auch ja alle Nachbarn mitbekommen. Jetzt setz dich erst mal und dann hör mir zu.“
So aufgebracht hatte Romana ihre Mutter selten erlebt.
Während sie sich ihren Mantel und die Schuhe auszog, begrüßte sie Lumpie, den braunen Yorkshire Terrier ihrer Mutter, der mit dem Schwanz wedelnd an ihren Beinen hinaufsprang, bis Romana ihn streichelte. Erst danach gab er ruhe und verzog sich wieder in sein Körbchen.
Der Tisch im Wohnzimmer war liebevoll gedeckt. Es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee und der in feine Scheiben angeschnittene Stollen lud zum Essen ein.
Ihre Mutter berichtete, was sie von der Freundin erfahren hatte. Dabei vergaßen sie, dass sie eigentlich gemütlich Kaffee trinken und Stollen essen wollten. Der Kaffee war fast kalt, als Romana einen Schluck davon nahm. Die Adventskerze war zur Hälfte heruntergebrannt, als ihre Mutter zum Ende kam. Je mehr Romana erfahren hatte, desto mehr suchte sie nach einer plausiblen Erklärung. Wie sollte er verschwunden sein? Das wollte ihr nicht in den Kopf gehen. Egal wie sie es drehte und wendete, sie konnte sich keinen rechten Reim darauf machen. Es passte nicht zu Ralf, seine Mutter ohne Nachricht zu lassen. Dabei fiel ihr seine letzte Mail wieder ein, die sie eine Woche zuvor erhalten, als ungewohnt kurz und untypisch formuliert empfunden hatte. Seit wann nannte er sie Romana, nicht Romy? Ihr mulmiges Gefühl hatte sie zu der Zeit mit dem enormen Arbeitspensum, was öfters auf dem internationalen Forschungsschiff herrschte, abgetan. Jetzt sah das etwas anders aus.
Sie dachte erneut darüber nach. Warum hatte Paul, der befreundete, jetzige Schiffsarzt, in seiner Mail nichts vom Verschwinden Ralfs erwähnt? Er war nur auf ihre fachlich bezogenen Fragen eingegangen und hatte nichts Persönliches dazu geschrieben, was er sonst immer tat. Vielleicht waren sie ja wirklich so stark mit Arbeit eingedeckt, dass keine Zeit für private Zeilen blieb. Sie hatte das oft genug miterlebt, zerstreute sie ihre Zweifel erneut.
Dennoch nahm sie sich fest vor, Ralf gleich nach ihrem Dienst eine Mail zu senden und nachzufragen. Nun fing auch sie an, sich Sorgen zu machen. Obwohl sie weiterhin der Meinung war, dass es sich dabei nur um ein Missverständnis handeln konnte.
Als sie sich von ihrer Mutter verabschiedete und ins Krankenhaus fuhr, war es bereits dunkel und der Schnee in Regen übergegangen.
Die dann, laut Wetterbericht, tieferen Nachttemperaturen würden bestimmt für eisig glatte Straßen sorgen, dachte sie sich.
„Bei dem Wetter wird die Notaufnahme wieder überquellen“, murmelte sie, an die bevorstehende Arbeit denkend.
Die Zeit bis zu ihrem Dienstantritt nutzte Romana, um eine Mail an Ralf zu schreiben. Sie schickte eine zusätzliche Anfrage über den Mailverteiler der Blue Sea mit der Bitte um unverzügliche Antwort.
In dieser Nacht versorgte sie die Opfer von Verkehrsunfällen, verarztete deren Knochenbrüche und Platzwunden. So gelang es ihr zumindest zeitweise, die Gedanken an Ralf zu verdrängen. Aber immer wieder musste sie über die letzten Mails von ihm und Paul nachdenken. Nie hatte Ralf sie Romana genannt. Und Paul? Er nannte sie ebenfalls Romy, seitdem sie sich während der Übergabe an Bord besser kennengelernt hatten und befreundet waren.
Ein neuer Notfall riss sie aus ihrer Grübelei. Ein Auto hatte eine junge Mutter sowie deren Tochter an frühen Morgen auf dem Weg zum Kindergarten erfasst.
Es war bereits kurz nach neun, als sie nach der langen Nacht endlich in ihr Arbeitszimmer trat. Beim Anblick ihres Computers seufzte sie. Notfall- und OP-Berichte für Patientenakten und Abrechnung bei den Krankenkassen standen an. Eigentlich war sie sehr müde, lieber würde sie gleich heimfahren und die Berichte zum Schichtbeginn am Abend schreiben. Doch sie mochte es nicht, wenn Arbeit auf dem Schreibtisch liegen blieb. Also gab sie sich einen Ruck.
Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Da musst du durch als Lurch, wenn du ein Frosch werden willst, erinnerte sie sich schmunzelnd an die Worte ihres Vaters.
Er war Oberlöschmeister der Dresdner Feuerwehr gewesen. Sie war gerade 17 als er bei einem Löscheinsatz schwer verletzt wurde und nach wenigen Tagen im Krankenhaus verstarb.
Sie dachte sehr oft an ihn. War er doch ihr liebster Freund, bester Zuhörer, ihr Vorbild und ihr Held. Er fehlte ihr sehr.
Kopfschüttelnd riss sie sich selbst aus diesen Gedanken. Sie hatte noch Arbeit vor sich.
Dann aber ab Heim, dass du ins Bett kommst, befahl sie sich, während der Rechner hochfuhr. Das vertraute Bing für eine neu eingegangene Nachricht ertönte.
„Na, jetzt bin ich ja mal gespannt“, flüsterte sie und öffnete die Mail, las.
Werte Frau Dr. Veit,
es handelt sich zweifelsohne um ein Missverständnis. Sowohl auf der Basis als auch dem Forschungsschiff ist alles in bester Ordnung. Derzeit ist jedoch der Druck von Seiten der Behörden sehr hoch, endlich Ergebnisse vorzuweisen. Aus diesem Grund verfügt niemand von der Besatzung über ausreichend Zeit für längere, private Kommunikationen. Wir bitten um Ihr Verständnis.
Dirk Schöller
Kapitän der Blue Sea.
„Warum auf einmal so förmlich und unpersönlich, Mister Schöller?“, murmelte sie, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor dem Körper und schloss die Augen, um besser nachdenken zu können.
Die Antwort schien schlüssig zu sein. Und trotzdem … irgendetwas stimmte daran nicht. Aber was?
Ein Jahr lang hatte sie als Ärztin auf dem Forschungsschiff gearbeitet und duzte sich sowohl mit dem Kapitän als auch mit den Besatzungsmitgliedern und dem Forscherteam. Warum war Dirk jetzt so förmlich? Und wie er sich ausdrückte, irgendwie ganz anders als sonst. Sie öffnete die Augen und las erneut, aber das ungute Gefühl blieb.
Ich fange an, Gespenster zu sehen, dachte sie, während sie die Mail an ihre persönliche Adresse weiterleitete. Zeit, dass ich ins Bett komme. Ein paar Stunden Schlaf können nicht schaden. Sie löschte die Mail aus dem Posteingang auf ihrem Dienstrechner und begann, die Behandlungs- und OP-Berichte der Nacht einzutippen.
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04. Dezember 2006Völlig erschöpft und müde öffnete sie ihre Appartementtür. Auf dem Weg zum Schlafzimmer zog sie sich aus und ließ die einzelnen Kleidungsstücke an Ort und Stelle fallen. Kaum im Bett, war sie auch schon eingeschlafen.
Ein Albtraum riss sie aus dem Schlaf. Was sie auch versuchte, sie fand keine Ruhe mehr und entschloss sich, aufzustehen.
Übernächtigt und gereizt folgte sie der Spur ihrer Kleidungsstücke und schalt sich eine Schlampe. Als sie schließlich ihren Mantel aufsammelte, entdeckte sie darunter ein zerknittertes, verschmutztes Kuvert. Was soll das denn, dachte sie, hob den Umschlag auf und warf ihn achtlos auf den Esstisch.
Wähnend sie für sich eine Suppe als verspätetes Mittagessen kochte, beschlich sie erneut das ungute Gefühl, das sie beim Lesen der Mail des Kapitäns hatte.
„So ein Quatsch. Jetzt habe ich mich doch tatsächlich von Frau Richter und meiner Mutter anstecken lassen und sehe Gespenster“, schimpfte sie und wehrte diese Gedanken mit einem kräftigen Kopfschütteln ab.
Als sie den Tisch für ihr kleines verspätetes Mittagsmal deckte, fiel ihr der Umschlag erneut ins Auge. Weder Anschrift noch Absender, stellte sie fest, als sie das Kuvert drehte und wendete.
Neugierig riss sie den Umschlag auf, entnahm diesem einen Fetzen Papier und las:
„Romy,
brauche deine Hilfe. Komm heute Abend zu unserem Platz. Komm allein und achte darauf, dass dir niemand folgt. Es ist wichtig!
Ralf“
Mhm … merkwürdig. Ralf kann nicht hier sein. Wie auch? Der ist auf der Blue Sea. Oder etwa doch nicht? Er kann doch unmöglich an zwei Orten zugleich sein. Aber die Handschrift auf dem Zettel ist unverkennbar seine. Und welchen Platz meint er überhaupt, an dem ich ihn treffen soll, grübelte sie nach.
Es gab viele Plätze, an denen sie als Kinder gespielt und diese geheim gehalten hatten. War das wieder ein Spiel von ihm? Ralf hatte sie damals oft zu einer Art Schnitzeljagd herausgefordert und so an die unmöglichsten Plätze geführt. Aber aus dem Alter waren sie längst heraus. Nein, das war kein Spiel. Ralf musste in der Stadt sein. Doch warum hat er sich nicht bei seiner Mutter gemeldet? Das sah ihm nicht ähnlich. Ohne triftigen Grund ließ er sie niemals im Unklaren. Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Was war da los?
Nach einigen Überlegungen fiel es ihr wieder ein. „Ja klar. Ralf meint die alte, schon halb verfallene Hütte in dem kleinen Wäldchen“, flüsterte sie. Das war ihr geheimer Ort gewesen, an dem sie sich auch später als Jugendliche noch trafen und sich schworen, füreinander da zu sein, sollte einer von ihnen in Not geraten. Damit stand ihr Entschluss fest, sie würde der Sache auf den Grund gehen und herausfinden, was tatsächlich vor sich ging.
Ohne länger nachzudenken, griff sie zum Telefon und wählte. Erleichtert vernahm sie Gregors Stimme.
„Hallo, Herr Kollege. Ich bin’s, Romana. Ich habe eine große Bitte an dich, Gregor. Könntest du heute meinen Nachtdienst übernehmen? Mir geht es nicht so besonders“, log sie. „Nein, nichts Schlimmes, mach dir keine Sorgen. Es ist nur so ’ne kleine Unpässlichkeit.“ Sie lachte kurz in den Hörer. „Hab mich wohl etwas verkühlt … danke, Gregor, hast was gut bei mir.“ Sie legte den Hörer, erleichtert aufatmend, auf.
Bald würde es dunkel werden. Es blieb ihr also noch etwas Zeit, sich auf das Treffen vorzubereiten. Wer auch immer sie dort hinbestellt haben und erwarten mochte, sie musste sich Klarheit verschaffen.
Romana sah zum Fenster. Es regnete in Strömen. Das Außenthermometer zeigte eine Temperatur von vier Grad über Null an, die zum späten Abend hin sicher, wie schon die Nächte zuvor, noch etwas sinken würde. Sie verzog das Gesicht. Kein so gutes Wetter für einen Waldspaziergang, dachte sie.
Erneut las sie die kurze Nachricht durch. Sie kam sich allmählich wie in einem schlechten Film vor. Ralf war geradlinig, von Kollegen wie Freunden geschätzt. Warum diese Heimlichtuerei? Wieso musste er sich verstecken? Wenn ihr Freund tatsächlich Hilfe benötigte, welcher Art mochte diese sein? Und warum konnte er sich damit nur an sie wenden?
Zunehmend verunsichert legte sie sich warme, wetterfeste Kleidung zurecht. Vorsichtshalber schmierte sie ein paar Brote, packte diese in ihre Lunchbox und kochte Kaffee, den sie in eine Thermosflasche füllte und dann alles im Rucksack verstaute. Zusätzlich steckte sie eine handliche Taschenlampe ein, die sie auf dem Weg durch den Wald gut gebrauchen konnte. Ihr Handy steckte sie in die Innentasche ihres Anoraks und nach kurzer Überlegung noch Pfefferspray griffbereit in die rechte Außentasche.
Als die Abenddämmerung einsetzte, zog sie sich die bereitgelegten Sachen über, schulterte den Rucksack und machte sich auf den Weg.
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Es war acht Uhr abends, als Romana die Wohnung verließ. Sie verstaute ihren Rucksack neben der Arzttasche im Kofferraum. Misstrauisch schaute sie sich um, bevor sie in ihren Wagen stieg. Es regnete noch immer und der Wind tat sein Übriges, um sie frösteln zu lassen.
Ralfs Bitte folgend, warf Romana häufig einen Blick in den Rückspiegel. Sobald ihr ein Fahrzeug zu lange folgte, drosselte sie die Geschwindigkeit, fuhr manchmal rechts ran und stoppte. Erst wenn das Auto sie überholt hatte, fuhr sie weiter. Zweimal bog sie sogar vorsichtshalber auf eine weniger befahrene Straße ab, um sicher zu gehen, dass ihr kein Auto folgte.
„Mein Gott, wenn man nicht schon an Verfolgungswahn leidet, kann man dadurch bestimmt einen kriegen. Ich komme mir ja schon selbst wie in einem Spionagethriller vor. Was für ein blödes Spiel“, dachte sie wenig amüsiert, blieb aber weiterhin sehr aufmerksam.
Als sie anderthalb Stunden später den Stadtrand erreichte, musste sie unwillkürlich lächeln. Für diese Strecke durch die Stadt, von einem Ende zum Anderen, hatte sie beinahe dreimal so lange gebraucht als normalerweise. In einer nur schwach beleuchteten Gasse stellte sie ihren Honda ab. Vor ihr lag das Waldstück, das eine Autobahn, eine Schnellstraße sowie der Stadtrand begrenzte. Nur ein schmaler gepflasterter Weg führte steil bergauf zur anderen Seite des Gehölzes.
Romana stülpte ihre Strickmütze über und steckte ihr langes Haar mit darunter, dann schloss den dicken Anorak bis oben hin, zog zusätzlich die Kapuze über und spähte in die Nacht. Erst als keine anderen Autoscheinwerfer mehr zu sehen und die Straße frei war, stieg sie aus.
„Okay, dann wollen wir mal“, flüsterte sie und hob den Rucksack aus dem Kofferraum. „Ralf, ich hoffe nur, dass ich hier nicht von dir verscheißert werde. Sollte das aber der Fall sein, dann wird meine Rache fürchterlich. Das schwöre ich dir hoch und heilig“, zischte sie und machte sich auf den Weg.
Kein Mensch war zu sehen. Sie erreichte den Rand des Waldes, dessen Finsternis sie zu verschlucken drohte. Als sie auf den Weg einbog, rann ihr ein eiskalter Schauder den Rücken hinunter. Sie zog die Kapuze weiter über das Gesicht und steckte die Hände tiefer in die Taschen. Dabei umklammerte sie die Pfefferspraydose, lediglich als Vorsichtsmaßnahme, wie sie sich einzureden versuchte. Der Boden war glitschig vom nassen Laub und sie rutschte mehrmals auf dem ansteigenden Pfad aus. Wie konnte sie sich nur darauf einlassen?
Nach einer Weile verließ sie den Weg. Sie bog ab, stakste durchs Unterholz und kletterte einen Hügel hinauf. So gut es ging, schützte sie ihr Gesicht vor den niedrigeren Zweigen. Morsche Äste knackten unter ihren Schuhen und sie stolperte immer wieder über Baumwurzeln.
Als sie ein gutes Stück vorangekommen war, blieb sie stehen, um zu lauschen. Nur der fallende Regen auf die durchnässten Blätter am Boden war zu hören. Sie ging weiter. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder, als es über ihr in den Ästen laut raschelte und eine aufgeschreckte Krähe kreischend das Weite suchte.
Außer Atem blieb sie stehen und richtete den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe zum Hang, um sich neu zu orientieren.
„Mist verdammter. Hier bin ich falsch“, zischte sie, als sie bemerkte, dass sie bereits zu weit abgekommen war. „Nö, jetzt kehre ich nicht wieder um“, flüsterte sie und machte sich daran das Ziel ohne den Umweg direkt anzusteuern. Auch wenn das bedeutete, dass der Aufstieg dadurch schwieriger würde.
Immer wieder rutschte sie ein Stück zurück, bis sie sich erneut abfangen konnte. Dabei fluchend kroch sie schließlich auf allen Vieren den Hügel weiter hinauf.
Noch zehn Meter trennten sie vom Gipfel des Hanges, als sie hinter sich ein leises Knacken hörte. Erschrocken fuhr sie herum. Erneut vernahm sie das Brechen von Zweigen: diesmal ganz nah. Romana versuchte in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen. Nichts.
Dann, ein Schatten huschte unverhofft durch den Lichtkegel, sodass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Um besser lauschen zu können, hielt sie den Atem an. Stille. Vielleicht nur ein aufgeschreckter Hase, beruhigte sie sich. Gerade, als sie sich zum Weitergehen anschickte, knackte es neben ihr erneut. Der Schreck durchfuhr ihren Körper so vehement, dass sie das Gleichgewicht verlor, ausrutschte und nach hinten taumelte. Ein fester Griff an ihre Schulter bremste sie. Sie wollte aufschreien, aber eine Hand presste ihr den Mund zu. Nur ein erstickter Laut kam über ihre Lippen. In Panik versuchte sie sich aus der Umklammerung zu befreien. Sie wand sich verzweifelt, um zu entkommen. Vergeblich. Es war, als wäre sie ein einem Schraubstock gefangen. Die Angst drohte ihr die Sinne zu rauben.
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„Romy, … bitte, bleib ruhig! Ich bin´s, Ralf. Bitte bleib ruhig“, hörte sie eine tiefe Stimme flüstern.
Als der Griff sich lockerte und sich die Hand von ihrem Mund löste, schnellte Romana herum, holte zum Schlag aus und schrie: „Du blö…“ Weiter kam sie nicht. Bevor sie das Wort beenden konnte, verschloss die Hand erneut ihren Mund, die andere blockte ihren Schlag ab.
„Romy, sei still!“, flüsterte es abermals.
Völlig außer sich, gelang es Romana nur langsam, sich zu beruhigen.
„Kann ich dich jetzt endlich loslassen, ohne dass du gleich wieder losschreist?“
Romana nickte, obwohl ihr Herz weiterhin bis zum Hals schlug. Der Druck ums Handgelenk und vor ihrem Mund lockerte sich allmählich.
„Mann, was soll das? Du hast mich fast zu Tode erschreckt. Was machst Du überhaupt hier?“, fauchte sie, als sie ihm endlich ins Gesicht sehen konnte und Ralf erkannte.
„Warte. Komm, wir gehen erstmal ins Trockene“, flüsterte Ralf, nahm sie bei der Hand und führte sie weiter den Hügel hinauf. Ihr alter Geheimer Treffpunkt, die alte Hütte gab ein trauriges Bild ab. Das schon damals morsche Dach war vollends eingestürzt. Mauern gab es kaum noch. Es war nur eine kläglich aussehende, mit Gestrüpp überwucherte, Ruine übrig geblieben.
Sie stiegen über Schutt und morsche Balken und gelangten zu einer Eisenklappe, die in den Boden eingelassen war. Romana hatte diese nie zuvor bemerkt, als sie sich früher hier getroffen hatten.
Die Scharniere quietschten grässlich, als Ralf die alte Tür öffnete. Ein Lichtschein drang herauf und beleuchtete die alten Sandsteinstufen.
„Achtung!“, warnte er, „die Stufen sind rutschig. Pass auf, wo du hintrittst.“
Vorsichtig stieg sie die Treppe in den kleinen Kellerraum hinab. Angewidert rümpfte sie die Nase als ihr ein muffig, feuchter Gestank entgegenstieg. Ralf schloss die Falltür und folgte ihr. Was sie sah, erinnerte sie an die Behausungen in den Slums, die sie in Namibia gesehen hatte. Nur war es hier wesentlich kälter und weitaus unfreundlicher. Putz gab es nicht mehr. Dafür schwarzen Schimmelbefall auf den verwitterten Ziegelsteinen und in den Ritzen der Wände, die durch das Erdreich und Wurzeln teilweise in den Kellerraum gedrückt wurden. Ihr war, als befände sie sich plötzlich in einer anderen Welt. Das Licht einer Kerze erhellte spärlich den Raum. Eine zerfledderte Matratze lag in einer Ecke, aufeinandergestapelte Ziegelsteine dienten als Tisch und Hocker. Es roch stark nach Moder, obendrein nach Fäkalien. Am liebsten hätte sie sofort wieder kehrt gemacht.
„Willkommen in meinem bescheidenen Heim“, drang Ralfs Stimme an ihr Ohr.
Romana wandte sich dem Freund zu, der gerade die Stufen heruntergekommen war. Sie erschrak, als sie ihn nun im Schein des Kerzenlichtes betrachtete. Er trug völlig verdreckte und verschlissene Sommersachen. Eigentlich kannte sie ihn als sportlich durchtrainierten Mann. Jetzt aber sah er ausgezehrt aus. Seine Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen. Die Haut fahl, das Haar war ungepflegt wie der Bart, der ihm gewachsen war. Beide Arme waren von Wunden übersät. Die Löcher, Schnitte und dunklen Flecken auf dem T-Shirt ließen sie vermuten, dass ihr Freund dort vielleicht verletzt sein könnte.
„Du gehörst sofort in ein Krankenhaus“, sagte sie und vergaß alle Fragen, die sie ihm hatte stellen wollen. Sie trat näher, um sich die Verletzungen genauer anzusehen.
„Das hat Zeit“, wehrte er ab.
„Nein, hat es nicht! Lass mich dir helfen, deshalb sollte ich doch herkommen, oder etwa nicht? Ich habe meine Tasche im Wagen. Ich gehe sie schnell holen“, entschied sie und wandte sich ab, um wieder nach oben zu eilen, ohne ihn erst zu Wort kommen zu lassen.
„Nein!“, widersprach Ralf energisch und hielt sie am Arm zurück. „Es gibt im Moment wirklich Wichtigeres. Setz dich erst mal hin.“ Er wies auf die aufeinandergestapelten Ziegelsteine.
„Aber du brauchst Hi…“
„Ja verdammt, ich weiß“, fiel er ihr ins Wort, „aber ich kann nicht ins Krankenhaus. Was glaubst du, warum ich mich hier verstecke? Die sind hinter mir her. Die suchen mich.“
„Wer? Meinst du die Beamten, die bei deiner Mutter waren? Ich versteh das nicht. Ich verstehe gar nichts mehr. Wieso musst du dich vor denen verstecken?“ Er öffnete den Mund. Doch Romana redete schon weiter. Dabei gestikulierte sie mit den Armen und fing an, in dem kleinen Kabuff nervös auf- und abzugehen. „Wieso erzählen die deiner Mutter, dass du und zwei andere vermisst werden? Aber auf der Blue Sea angeblich keiner was davon weiß? Und jetzt tauchst du hier auf und versteckst dich in dem Loch.“ Abrupt blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. „Ralf, was ist hier los?“
„Und, bist du jetzt fertig? Kann ich nun vielleicht auch mal was sagen?“, fuhr Ralf sie aufgebracht an und ließ sich auf die Matratze sinken. „Die war´n bei meiner Mutter?“, fragte er dann wieder leiser und besorgt, „Geht es ihr gut?“
Noch geschockt, weil Ralf sie angeschrien hatte, nickte Romana nur. „Romy, das waren garantiert keine Beamten“, fuhr er nach einer Weile fort. „Die Blue Sea wurde gekapert und die Besatzung von denen gefangen genommen. Du kannst dir nicht vorstellen, was da los ist. Bob und ich haben versucht zu fliehen.“ Er hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln. „Wir wurden erwischt. Die haben auf uns geschossen. Bob hat es nicht geschafft. Die Schweinehunde sind sich aber nicht sicher, ob einer von uns vielleicht doch überlebt hat. Deshalb die Lügen und die Suche nach mir. Andi van Hogen war der Erste. Die erwischten ihn außerhalb der Basis, in der Wüste. Eh, die haben ihn vor unseren Augen abgeknallt und an Ort und Stelle verscharrt.“
Romana hörte entsetzt zu und spürte dabei einen dicken Kloß in ihrem Hals aufsteigen. Als ihr Freund vor Kälte zu zittern begann, streifte sie ihre Jacke ab, legte sie ihm um die Schultern und fragte: „Wie lange bist du schon hier?“
Ralf dankte ihr mit einem Lächeln.
„Seit zwei Tagen. Musste mich erst mal häuslich einrichten“, antwortete er und zeigte mit einer weitausholenden Geste durch den Raum.
„Sicher bis du hungrig.“ Sie kramte in ihrem Rucksack und holte ihre Thermosflasche und die Brotbüchse hervor. „Hier, das kannst du jetzt gut gebrauchen.“ Mit klammen Fingern drehte sie den Verschluss ab, füllte ihn mit Kaffee und reichte Ralf den Becher. Mit beiden Händen griff er danach und versuchte sich seine Finger daran zu wärmen. Ausgehungert machte er sich über die belegten Brote her, die er regelrecht verschlang. Romana sah ihm zu, bis sie bemerkte, dass es ihm peinlich war und sah sich verlegen um.
„Hier kannst du unmöglich bleiben. In deinem Zustand ist das dein sicherer Tod, selbst wenn ich dich hier versorgen könnte“, meinte sie nachdenklich.
„Ja, ich weiß“, gab er dabei kauend zu.
„Du kommst mit zu mir“, schlug sie vor.
„Nein, das geht nicht. Die haben meine Leiche nicht gefunden.“ Er grinste. „Nun wollen die auf Nummer sicher gehen. Also suchen sie nach mir. Keine Ahnung woher die wissen, dass ich hier her wollte. Die werden natürlich versuchen, herauszufinden, wer mir helfen könnte. Dabei werden sie ganz schnell auf dich stoßen. Kannst dich drauf verlassen, dass die da auch bald vor deiner Tür stehen. Ich kann unmöglich mit zu dir kommen, ohne dich in Gefahr zu bringen. Du riskierst auch so schon viel. Romy, das sind Killer. Du weißt nicht, was da läuft und was auf dem Spiel steht. Hier geht es nicht nur um meine Haut.“
„Na, dann sage es mir endlich! Spätestens seit letzter Nacht wissen die eh, dass es eine Verbindung zwischen uns gibt.“
Erschrocken zuckte er zurück und starrte sie fragend an.
„Ich war beunruhigt und wollte wissen, was los ist. Also habe ich gestern Abend eine Mail über den Verteiler an dich geschickt. Und heute Früh bekam ich eine Antwort vom Kapitän, dass angeblich alles in bester Ordnung sei.“
Sie schwiegen. Romana nutzte die Zeit zum Nachdenken. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf.
„Okay, sie suchen dich. Vielleicht sind sie dabei auch auf mich und meine Adresse gestoßen. Das habe ich mittlerweile kapiert. Ich bin ja schließlich nicht blond und blauäugig“, versuchte sie zu scherzen. Doch der Witz schien nach hinten loszugehen, denn Ralf verdrehte bloß die Augen.
„Kann es sein, dass ich das weiß“, erwiderte er.
„Ja, … ja, ist ja schon gut. Aber im Ernst. Ich weiß, wo sie dich nie vermuten würden.“
Sie sah ihm in die Augen.
Ralf schien plötzlich hellwach. „Und wo soll das sein?“, wollte er wissen.
„Meine Freundin Manu hat mir den Schlüssel zu ihrem Haus gegeben. Ich soll da ab und an mal nach dem Rechten schauen. Sie ist seit drei Monaten in Kanada und wird dort länger bleiben“, erklärte sie und sah ihn erwartungsvoll an. „Wäre das dem Herrn genehm?“
Ralf wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
„Also, was ist nun?“, fragte sie ungeduldig.
„Das klingt vielleicht nicht verkehrt. Aber eben nur vielleicht. Ich traue den Kerlen alles zu“, murmelte er.
„Wer auch immer die Kerle sein mögen“, wehrte Romana ab, „dazu können sie keine Verbindung finden.“
„Woher kennst du diese Manu und seit wann?“
„Ist das denn wirklich so wichtig?“
„Ja, ist es. Spätestens jetzt nach deiner Mail. Die zählen eins und eins zusammen. Kriegen deine Adresse raus und vermuten mich bei dir. Bestimmt stellen die deshalb dein gesamtes Umfeld auf den Kopf, um irgendeinen Hinweis zu finden.“
„Okay, ich habe es verstanden. Auch wenn ich weiterhin nicht weiß, was da überhaupt läuft.“
„Ich weiß auch nicht alles, Romy. Kann mir nur das eine oder andere zusammenreimen. Du musst mir vertrauen.“
Romana grübelte. Dann erzählte sie Ralf, wie, wann und wo sie Manuela kennengelernt hatte. Dass sie vor einem Jahr, nach der Arbeit noch nicht gleich heimgehen wollte. Sie deshalb ins „Tropical“ ging, um sich etwas abzulenken und etwas zu trinken. Das aber alle Tische bereits mit ein oder mehreren Personen besetzt gewesen wären und sie den erstbesten Platz angesteuert habe. Sie habe sich nett mit der jungen Frau unterhalten. Beide hätten dabei festgestellt, dass sie sich sehr sympathisch seien. Ähnliche Interessen hätten. So hätten sie sich schnell angefreundet und viel zusammen unternommen. Bis die Zeit für Manuelas Abreise gekommen wäre. Romana erzählte weiter, wie sie die Freundin zum Flughafen gebracht habe, wo Manuela ihr dann den Schlüssel zu ihrem Haus gegeben hätte.
„Sie hat das Haus von ihren Eltern geerbt. Ich schaue da ab und an nach dem Rechten. Ralf, sie ist bereits seit drei Monaten weg. Es gibt keine Mails oder Briefe, die auf sie und ihre Adresse schließen könnten. Wir haben manchmal telefoniert. Das ist alles. Ich habe bisher niemanden etwas von oder über sie erzählt. Also wer, bitte schön, sollte da eine Verbindung zu dieser Wohnung herstellen können?“ Sie streckte ihre Hände nach der Kerze und hielt sie über die Flamme. Wie konnte es Ralf hier nur aushalten. Sie musste ihn schnellstens hier heraus bekommen. „Was ist nun? Sicher genug? Was meinst du?" Als er nicht sofort antwortete, wurde sie lauter: „Hier kannst du auf keinen Fall mehr bleiben.“
„Ja, könnte klappen.“ Seine Stimme klang schwach. Er sah auf seine Armbanduhr. „Nur heute wird das nichts mehr. Es ist schon zu spät. Wir müssen das nächste Nacht durchziehen.“
Sie stutzte. „Warum erst morgen? Bis dahin bist du ein Eiszapfen und brauchst keine warme Wohnung mehr, sondern nur einen Sarg.“ Sie erschrak über das, was sie von sich gegeben hatte.
Ralf schluckte, als versuchte er, seiner Stimme wieder mehr Kraft zu verleihen. „Du magst vielleicht Recht haben. Aber wenn du jetzt erst heimfährst, den Schlüssel holst und dann wieder hierher kommst, wird es schon bald wieder hell. Das ist zu riskant. Einer von den Kerlen oder deren Leuten könnte mich zufällig sehen. Vielleicht stehen die Kerle auch schon auf deiner Matte und fragen sich, wo du, kaum heim gekommen, nochmal hin willst und folgen dir.“
Sie lächelte. „Wer sagt denn, dass ich dafür erst noch einmal zurück müsste? Was wäre, wenn ich das gute Stück hier mit dran habe?“ Dabei klang ihre Stimme so sanft und geheimnisvoll zugleich, während sie ein Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche zog und vor seinem Gesicht hin und her schwenkte.“
Nun hellte sich auch seine Miene auf. „Mädchen, ich wusste schon immer, dass du eine wilde Wucht in Tüten bist“, lobte er.
„Na, sag ich doch. Also los, lass uns endlich von hier verschwinden“, erwiderte sie dabei lächelnd. Sofort, ohne ein weiteres Wort abzuwarten, steckte sie alles zurück in den Rucksack, griff sich ihre Taschenlampe und drängte den Freund zur Eile. Jetzt wollte sie ihn so schnell wie möglich aus dem Keller heraushaben.
Mühsam, sichtlich geschwächt erhob sich Ralf. Dabei zog er sich die Jacke von den Schultern, um sie Romana zurückzugeben.
„Nein, lass mal. Du brauchst die nötiger“, wehrte sie ab, half ihm in die Ärmel zu schlüpfen, die für ihn viel zu kurz waren, und zog den Reißverschluss bis oben zu. Nachdem sie ihm die Kapuze über den Kopf gestülpt hatte, betrachtete sie zufrieden ihr Werk. Sie schmunzelte. „Bloß gut, dass ich mir das Teil zwei Nummern größer gekauft hatte, um da noch einen dicken Pullover und eine Jacke drunter zu ziehen. Du weißt ja, was für eine Frostbeule ich bin. Trotzdem steckst du da drin wie eine in ´ne Büchse reingequetschte Sardine“, gab sie zum Besten und zog sich ihre Strickmütze wieder tiefer über die Stirn. Sie reichte Ralf ihre Taschenlampe und hob den Rucksack auf ihren Rücken. „Also, auf geht’s.“
Ralf löschte die Kerzenflamme. „Lass mich vorgehen. Die Falltür klemmt etwas. Leuchte mir mal.“ Er gab ihr die Lampe zurück und stieg die Stufen seines Versteckes nach oben. Mit all seiner sichtlich verbliebenen Kraft stemmte er sich gegen die schwere Eisentür, um sie zu öffnen. Romana wartete in der Zwischenzeit am unteren Ende der Treppe und leuchtete mit dem Strahl der Lampe nach oben.
„Schaffst du es oder soll ich dir helfen?“
„Nein, ich hab’s schon. Warte hier. Ich guck erst mal nach, ob die Luft rein ist“, flüsterte er, als die Klappe mit dem durchdringenden Quietschton, der Romana eine Gänsehaut über den Rücken jagte, nachgab.
Er stieg nach draußen und verschwand in der Dunkelheit. Nach kurzer Zeit erschien sein Gesicht wieder an der Öffnung. „Du kannst kommen. Aber sei vorsichtig, du weißt, die Stufen.“
Romana stieg hinauf, kletterte durch die Luke. Er half ihr das letzte Stück, nahm ihr die Lampe wieder ab und schaltete sie aus. Romanas Augen brauchten einen Moment, um in der Dunkelheit etwas sehen zu können. In der Zwischenzeit verschloss Ralf die Falltür und schob mit dem Fuß Schutt darüber, bis die Tür nicht mehr zu sehen war.
„Häh … wozu das denn?“, fragte sie flüsternd. „Du musst dich hier bestimmt nicht wieder verstecken.“
Zum Glück hatte es in der Zwischenzeit aufgehört zu regnen, jedoch war es wesentlich kälter geworden, sodass es Romana in ihrem dicken Pullover fröstelte. Auf den feuchten Blättern am Boden hatte sich eine glitzernde Reifschicht gebildet. Sie bemühten sich, möglichst keinen Lärm zu machen.
6
Romana und Ralf erreichten die Stelle an der sie gestrauchelt, er sie aufgefangen hatte.
„Romy, vorsichtig nicht, dass du hinfällst.“
Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da gab unter Ralfs Füßen der Boden nach. Er strauchelte, kippte zur Seite, verlor das Gleichgewicht und riss Romana im Fall mit sich. Sie rollten ein ganzes Stück, bevor sie sich auf den Rücken drehen konnten und rutschten auf dem glitschigen Laub weiter nach unten. Immer wieder schlugen ihnen Zweige ins Gesicht. Ralf prallte gegen einen Baumstamm, während Romana ein Stück weiter abwärts rutschte, bis Gestrüpp sie einfing.
Nach Luft schnappend, rief sie nach ihm. Doch es kam keine Antwort. Sie richtete sich auf, klopfte den Schmutz von der Kleidung und spähte in die Richtung, aus der sie Stöhnen hörte.
So schnell sie konnte, kletterte sie das Stück zurück. Außer Atem kam sie am Baumstamm an. Ralf saß auf dem Boden, den Rücken an den Stamm gelehnt.
„Was ist passiert? Hast du dich verletzt“, fragte sie, stoßweise atmend.
„Scheiße verdammte. Ich glaube ich habe mir den Knöchel verstaucht. Oh und sorry, dein schöner Anorak ist jetzt wohl hin. Bin sozusagen aus allen Nähten geplatzt.“
„Ich glaube, der Anorak ist jetzt das Letzte was mich interessiert.“ dabei tastete sie sein Bein ab, wobei Ralf erneut unterdrückt aufstöhnte.
„Sieht nicht gut aus. Aber hier kann ich im Moment nichts tun. Kannst du auftreten?“, fragte sie. „Ich kann dich unmöglich bis zum Auto tragen. Also beiß die Zähne zusammen.“
„Wird schon gehen, danke“, wehrte Ralf ab.
Schnell hob Romana die Taschenlampe auf, die ein Stück weiter weg von Ralf zum Liegen gekommen war und steckte sie in den Rucksack. So gut sie konnte half sie ihm beim Aufstehen. „Das wird so nichts“, stellte sie fest, als sie beobachtete, wie er den Fuß kaum, dass er ihn belastete, sofort wieder in Schonhaltung hochzog. „ Los, stütz dich auf mich. Bis zum Weg runter ist es nicht mehr weit. Danach geht es bestimmt besser.“ Ihren Freund stützend, hangelten sie sich, kleine Pausen einlegend, von Baum zu Baum, erst bis zum Weg, dann weiter bis zum Auto, wo sie ihm schnell die hintere Wagentür öffnete und auf die Rückbank half.
„Warte, dir wird es gleich etwas besser gehen“, versprach sie und ging zum Kofferraum. Achtlos warf sie den Rucksack hinein, zog ihren Arztkoffer hervor und öffnete ihn im Schein der Kofferraumbeleuchtung. Ohne erst suchen zu müssen, griff sie nach Spritze und Kanüle und zog aus einer kleinen Ampulle ein Schmerzmittel auf. Sie eilte zurück zu Ralf, öffnete die Jacke und schob sie über seinen linken Arm, bis dieser frei war. „Gleich geht es dir besser. Das ist ein schnell wirkendes Mittel“, erklärte sie, desinfizierte die Armbeuge und gab ihm die Injektion. „Lege dich hin, so gut es geht. Ich hole dir schnell noch eine Decke, dann fahren wir.“
Als sie das kurze Stück vom Kofferraum zur hinteren Wagentür mit der Decke in der Hand zurückkam, war ihr Freund vor Erschöpfung und Übermüdung bereits auf der Rückbank eingeschlafen. Besorgt fühlte sie seinen Puls. Zufrieden nickte sie leicht. Behutsam winkelte sie ihm seine Beine an, die noch aus dem Auto ragten, legte die Decke über ihn und schloss die Wagentür.
Kaum dass sie den Motor gestartet hatte, drehte sie die Heizung hoch und fuhr los.
Während der Fahrt lauschte sie auf die Atmung ihres Freundes, der Schlimmes durchgemacht haben musste. Ihre Sorge galt weniger dem Bein, als vielmehr dem insgesamt schlechten Allgemeinzustand sowie der Wunden am Oberkörper, die sie bislang nur erahnen konnte.
Sie fuhr auf Umwegen zu Manuelas Haus am abgelegenen Stadtrand auf der anderen Elbseite. Nach anderthalb Stunden Fahrt bog sie auf die Nebenstraße ein und schaute erneut in den Rückspiegel, um sicherzustellen, dass ihr niemand folgte. Langsam fuhr sie bis zum Grundstück vor. Dabei warf sie erneut einen prüfenden Blick über die Schulter, ehe sie ihren Honda durch die schmale Einfahrt lenkte und direkt vor der Haustür hielt.
7
Romana musste Ralf wecken, denn ohne sein Zutun würde sie ihn nicht ins Haus bekommen.
Sie zog ihm die Decke weg und kletterte zu ihm auf den Rücksitz.
„Ralf, hörst du mich? Ralf, du musst wach werden und mir helfen, dich ins Haus zu bringen. Ralf, bitte“, flüsterte sie und schlug ihm dabei sacht auf die Wange. „Komm schon, steh auf und stütz dich auf mich. Wir müssen jetzt ein Stück laufen.“ Sie half ihm aus dem Wagen auszusteigen und bot sich seinem Freund als Stütze an. „ Nur die Stufen, dann hast du es geschafft.“
Ralf mühte sich über die drei Stufen. Im Flur angekommen sank er auf den Teppich und blieb an die Wand gelehnt sitzen. Romana war froh, dass sie überhaupt so weit gekommen waren, fühlte kurz seinen Puls. Dann ging sie zurück zu ihrem Wagen und fuhr ihn in die Garage.
Mit dem Notarztkoffer eilte sie zurück. Wieder im Haus, tastete sie nach dem Lichtschalter und betätigte ihn.
Ralf saß genauso da, wie sie ihn verlassen hatte. Erst jetzt im Licht der Flurlampe konnte sie ihn besser sehen. Sein Gesicht, seine Arme und Beine waren mit feinen Kratzern übersät. An der Stirn klaffte eine frische Wunde. Romana schlussfolgerte, dass er sich diese wohl bei der unsanften Begegnung mit dem Baumstamm zugezogen haben musst. Das, was sie neben den vielen verschiedenen Flecken und dem Schmutz auf seinem T-Shirt zusätzlich zu deuten glaubte, entpuppte sich als getrocknetes Blut, das sich an zwei Stellen besonders konzentrierte. An einer Stelle schien das Blut sogar frisch zu sein.
Sie sah genauer hin und zuckte zusammen. „Oh Scheiße, das sind ja Schussverletzungen.“
„Na, ich habe dir doch schon erzählt, dass sie auf uns geschossen haben. Meinst du etwa, ich erfinde so was, um interessant zu wirken“, kam kraftlos Ralfs Kommentar dazu, wobei er zu lächeln versuchte.
„Nein, das nicht. Aber ich hatte nicht gedacht, dass sie dich getroffen haben. Los steh auf. Ich bringe dich ins Wohnzimmer und sehe mir das an.“
Sie fasste ihm unter die Arme, schleifte ihn mit seiner Hilfe, in den Wohnbereich und half ihm, sich auf das Sofa zu legen. Eilig zog sie alle Jalousien zu. Danach betätigte sie alle Lichtschalter, die sie finden konnte und drehte die Heizkörper im Wohnzimmer bis zum Anschlag auf. Dann eilte sie ins Bad, um sich zu waschen. Als Romana ihre Strickmütze abnahm und in den Spiegel sah, erkannte sie sich kaum wieder. Blutende Schrammen zierten ihr dreckverschmiertes Gesicht, das vom nassen, strähnigen Haar umrahmt war. Unwillkürlich erschrak sie vor sich selbst.
Weit beugte sie sich über das Waschbecken und wusch sich gründlich.
Aus dem Flur holte sie ihren Arztkoffer und lief damit zurück ins Wohnzimmer, wo Ralf bereits wieder eingeschlafen war. Sie schnitt den Anorak auf, damit sie ihn Ralf besser ausziehen zu können. Sie tastete nach ihrem Handy in der Innentasche, das sich zum Glück noch dort befand und legte es auf den Tisch neben dem Sofa. Die Jacke ließ sie achtlos fallen. Mit der Schere zerschnitt sie das Shirt, das zerrissen an Ralfs Körper klebte, und riss den letzten Rest des Stoffes auseinander. Was sie zu sehen bekam, erschreckte sie. Sie die als Ärztin einiges gewohnt war. Trotzdem sah sie sich erst die Beine ihres Freundes genau an. Mehrere Schnittwunden zeichneten sich ab, die aber nicht sehr tief waren. Der Knöchel des linken Fußes allerdings war angeschwollen. Romana tastete die Verletzung erneut ab. Sie war sich sicher, dass dies eine Stauchung sein musste. Eine Bein- oder Knöchelfraktur konnte sie so gut wie ausschließen, auch wenn ihr eine zusätzliche Röntgenaufnahme weit lieber gewesen wäre.
Dann wandte sie sich den älteren, verkrusteten Wunden am Oberkörper zu. Sie hatte diese Art von Verwundungen bisher nicht oft gesehen. Es waren Brandwunden, wahrscheinlich, so vermutete sie, durch auf seiner Haut ausgedrückter Zigaretten und glühendem Eisen. Hinzu kamen der Streifschuss an der rechten Seite des Brustkorbs und der glatte Durchschuss an der linken Schulter, unterhalb des Schulterblattes, der sich entzündet hatte und vielleicht durch den Sturz verursacht, erneut einblutete.
„Das hätte schief gehen können“, flüsterte sie, als sie diese Wunde, eine Austrittswunde, näher betrachtete.
Ralf schien sie sich ausgebrannt zu haben, um die Blutung zu stoppen, stellte sie fest, während sie sich um die Wunden kümmerte. Nichts, was sich erklären ließe, ohne es der Polizei melden zu müssen, wenn Ralf damit in ein Krankenhaus ginge.
Was hatte er durchgemacht? Wie war er hierher gelangt? Was war geschehen, dass er all das auf sich genommen hatte? All diese Dinge beschäftigten Romana, während sie die Wunden reinigte und mit dem was sie in ihrem Arztkoffer bei sich hatte, so gut wie möglich versorgte.
Es war kurz vor acht Uhr, am Morgen, als sie ihre Behandlungen abschloss.
Nachdem sie alle Lampen im Raum ausgemacht hatte, stellte sie die Jalousien so, dass sie Licht in den Wohnraum ließen. Die Wärme und all die Ereignisse der Nacht machten sie müde, sodass sie im Sessel neben Ralfs Sofa einschlief, während der Morgen dämmerte.
8
Als Romana aus dem traumlosen Schlaf erwachte und nach Ralf sah, erschrak sie und war sofort hellwach. Wo war er? Die Liege war leer.
Der war doch nicht etwa abgehauen? War er verrückt? In seinem Zustand kam er nicht weit, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie hörte Geräusche aus der Küche und ging nachsehen.
Da stand er,, in eine Decke gehüllt und öffnete eine Schranktür nach der anderen.
„Was tust du hier?“ Verschlafen sah sie ihn irritiert an.
„Oh, ich wollte dich nicht wecken. Eigentlich suche ich hier was Essbares: leider ohne Erfolg. Zumindest Kaffee habe ich gefunden. Wenn ich auch nicht weiß, wie alt der schon ist. Zumindest scheint die Dose dicht verschlossen zu sein. Magst einen?“
Romana nickte. „Was hast du erwartet? Manu wird hier kaum Lebensmittel lagern, wenn sie ein Jahr verreist. Das Zeug würde anfangen zu leben“, antwortete sie und sah ihn fragend an. „Und? Wie geht es dir?“
„Bis auf ein leichtes Hungergefühl, danke, gut. Du hast mich ja eingewickelt wie eine Mumie. Nur der Fuß schmerzt noch beim Auftreten.“
Romana schaute ihn an und sagte leiser als zuvor: „Du hast viel durchgemacht und kannst froh sein, dass du überhaupt noch lebst. Also beschwere dich nicht über den Fuß. Der dürfte dein geringstes Problem sein. Deine Schussverletzung hat sich entzündet, das macht mir eher Sorgen.“
Ralf fasste an seine Schulter und betastete den Verband. Dabei rutschte ihm die Decke herunter und fiel zu Boden.
Romana konnte sich bei dem Anblick ein Kichern nicht verkneifen. „Sorry“, entschuldigte sie sich, hob die Decke auf und legte sie ihm wieder über die Schultern. „Geh ins Wohnzimmer, ich bring dir deinen Kaffee mit.“ Sie drängte ihn aus der Küche und folgte ihm mit den Tassen in den Händen.
Ralf umfasste die Tasse. „Eigentlich würde ich gern mal duschen.“ Er nahm einen Schluck und rümpfte angewidert die Nase. „Was ist das für ein Zeug? Schmeckt ja eklig“, und stellte die Tasse zurück ehe er weiter sprach: „Nur mit dem da ist das wohl nicht möglich. … Oder?“, Im selben Moment griff er nach dem Verband, zupfte daran herum und lächelte Romana gequält an.
„Untersteh dich“, brauste sie sofort auf. „Da wirst du wohl mit dem Waschbecken und einer Katzenwäsche vorlieb nehmen müssen. Ich helfe dir gern. Außerdem wäre es schön, wenn diese Matratze aus deinem Gesicht verschwinden würde.“ Sie fuhr sich bei diesen Worten demonstrativ über ihr Kinn. „Die steht dir nicht.“
„Ja klar, das würde ich gern tun. Doch da gibt es ein minikleines Problemchen. Deine liebe Freundin hat hier weder einen Rasierapparat noch Rasierklingen, noch nicht einmal so ein Ding für Frauen, heißt glaube ich Ladyshaver oder so, konnte ich finden“, antwortete er und grinste dabei übers ganze Gesicht, sodass beide lachen mussten.
Romana grübelte. Dann hellten sich ihre Gesichtszüge auf. Sie hatte einen Entschluss gefasst. „Gut, du wirst dich jetzt noch etwas hinlegen und ausruhen. Aber wirklich! Und ich besorge für dich etwas zu beißen, ordentlichen Kaffee, und ein paar Sachen sowie Schuhe plus Rasierzeug. So aufreizend wie du in der Badehose vielleicht aussehen magst, du brauchst etwas zum Anziehen. Hier ist nämlich Winter. Und ich mag dich lieber ohne die Fusseln im Gesicht.“ Sie reichte ihm eine Schere aus ihrem Arztkoffer zu, der noch offen vor ihnen auf dem Tisch stand, und meinte: „Hier, du kannst ja schon einmal anfangen, den Filz damit zu stutzen, damit du nachher überhaupt durchkommst.“
Er nahm ihr die Schere mit einem Lächeln ab, legte sie neben seine Kaffeetasse auf den Tisch und deutete ein Salutieren an. „Jawohl. Zu Befehl, Frau Doktor“, und dann wieder ernst: „Bitte passe da draußen auf dich auf.“
„Ja, werde ich. Aber wenn ich wieder da bin, dann erzählst du mir alles. Ist das klar? … Sag mal, welche Schuhgröße hast du überhaupt?“
„47.“
„Dann bin ich mal weg.“ Mit diesen Worten erhob sich Romana vom Sofa, zog ihren dicken Pullover, noch mit über ihren Pulli, der von der Rutschpartie, letzte Nacht im Wald, noch nicht wieder ganz trocken, noch schmutzig und an einigen Stellen von dem Sturz zerrissen war.
Sie brauchte auch frische Sachen. Also würde sie zuerst zu ihrer Wohnung fahren, überlegte sie. Das verschwieg sie dem Freund aber lieber.
Ralf hörte, wie Romana doch tatsächlich die Haustür zuschloss. Er musste unweigerlich lachen. Glaubte sie tatsächlich, dass er abhauen würde? Und wenn es so wäre, würde eine verschlossene Tür ihn nicht daran hindern können. Außerdem befand sich das Wohnzimmer im Erdgeschoss.
Er humpelte in die Küche, nahm die Kaffeekanne von der Heizplatte der Kaffeemaschine und hinkte zurück. Während er einen Schluck von dem grauenvollen Kaffee trank, dachte er an die Freunde und Kollegen auf der Blue Sea, die auf seine Hilfe hofften. Ob sie überhaupt noch daran glaubten, dass er es geschafft hatte, zu entkommen? Oder hatten sie einen weiteren Fluchtversuch unternommen? Er hoffte, dass in der Zwischenzeit kein weiteres Mitglied der Besatzung oder des Forscherteams den Kerlen zum Opfer gefallen war.
„Misst verdammter“, zischte er verärgert, „ich habe vergessen, Romy zu sagen, dass ich ´nen internetfähigen Rechner brauche.“ Er hatte sich doch mit seinen Freunden ausgemacht, sich sofort zu melden, sobald er in Sicherheit sei.
Eilig machte er sich in allen Etagen und Zimmern des Hauses auf die Suche nach einem Computer. Doch er fand keinen. Niedergeschlagen setzte er sich in den Sessel. Nach der dritten Tasse Kaffee kippte er den Rest dann doch angewidert in die Spüle und füllte sich lieber ein Glas mit Leitungswasser. Wieder zurück auf dem Sofa, begann er, in Gedanken versunken, mit der Schere zu spielen, die auf dem Tisch lag.
9
Es war kurz nach 15 Uhr. Seit gut einer Stunde war Romana unterwegs. Immer wieder änderte sie die Fahrtrichtung, bog in weniger befahrene Seitenstraßen ab und beobachtete argwöhnisch die Autos hinter sich.
„So was kann ja zu Wahnvorstellungen führen“, sagte sie zu sich und schaute erneut in den Rückspiegel. Eine halbe Stunde später parkte sie den Wagen nicht wie gewohnt auf der Straße, sondern fuhr in die Tiefgarage ihres Wohnblocks. Der Fahrstuhl brachte sie in den dritten Stock. Auf dem Flur sah sie sich mehrmals prüfend nach allen Seiten um und vergewisserte sich zusätzlich, ob etwas im Treppenhaus zu hören war. Alles war ruhig.
Hastig öffnete Romana die Wohnungstür und trat ein. Wie versteinert blieb sie stehen. Jemand war hier gewesen, denn alles war durchwühlt.
Schnell schloss sie die Tür und schob zusätzlich den Riegel vor. Ihre Knie wurden plötzlich ganz weich. Sie lehnte sich gegen die Wohnungstür und versuchte tief durchzuatmen, um sich von dem Schock zu erholen.
Ihre erste Reaktion war, zum Telefon zu greifen, um die Polizei zu rufen. Doch ehe sie die Nummer vollständig gewählt hatte, brach sie den Wahlvorgang ab. „Dafür habe ich jetzt keine Zeit“, murmelte sie, denn das dauere ewig, bis sie da wären und alles aufgenommen hätten. Nein, das musste warten.
Sie stieg über Bücher, achtlos hingeworfene Kissen und aus den Schränken gerissene Sachen, um ins Bad zu gelangen. Dort bot sich ihr ein ähnliches Bild.
Nach kurzem Nachdenken wusste Romana, was sie zu tun hatte.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, griff erneut zum Telefonhörer ihres Festnetzanschlusses und wählte eine Nummer. Sie musste eine Weile warten, was ihr bereits nach einer halben Minute wie eine Ewigkeit vorkam. Endlich meldete sich eine Frauenstimme.
„Doktor Romana Veit hier. Hallo, Mona. Wie geht es Ihnen? ... Das freut mich. Kann ich bitte den Professor sprechen? Es ist sehr dringend … danke.“ Dann knackte es und sie hörte Musik. Ein weiteres Mal musste sie warten. Nach erneutem Knacken in der Leitung meldete sich endlich der gewünschte Ansprechpartner.
„Guten Tag, Herr Professor Klein, ich bin es, Dr. Romana Veit … ja danke, es geht mir gut. Ich habe ein kleines Problem und deshalb eine große Bitte an Sie“, sagte sie, um Fassung bemüht.
„Oh Romana, Sie wissen doch, dass Sie mit jedem Problem und allen Sorgen zu mir kommen können“, tönte es aus dem Hörer.
Romana holte tief Luft. „Herr Professor, ich benötige dringend, schon ab heute, eine unbefristete, unbezahlte Freistellung.“
Eine Weile herrschte Schweigen in der Leitung. Dann hörte sie wieder die Stimme des Professors. „Aber Romana, wie denken Sie sich das? Wir brauchen Sie hier. Wie soll ich so schnell umdisponieren und eine Vertretung für Sie finden? Ist denn etwas passiert?“
„Ja, so könnte man es auch sagen. Es ist etwas Persönliches“, antwortete sie ausweichend. „Ich kann Ihnen im Moment leider noch nichts Näheres dazu sagen, Herr Professor. Aber es ist wirklich sehr wichtig für mich. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir Ihre Zustimmung für die unbefristete Freistellung geben würden.“ Wieder war eine Weile nichts von der anderen Seite der Leitung zu hören. „Hallo, Herr Professor sind Sie noch dran?“, fragte sie unsicher.
„Für wie lange dachten sie denn wegzubleiben?“
„Herr Professor, ehrlich gesagt, weiß ich das noch nicht genau“, antwortete sie ehrlich. Und erneut dauerte es eine Weile bis der Professor sich wieder meldete. „Ich überlegt gerade, wie und durch wen ich Ihre Schichten besetzen könnte. Das ist nicht leicht, aber ich denke, es müsste gehen. Ich genehmige ihnen die unbefristete, unbezahlte Freistellung. Nur bitte, Romana, tuen Sie mir einen Gefallen, bleiben Sie nicht zu lange weg. Wir brauchen Sie hier wirklich dringend.“
Romana atmete erleichtert auf. „Ja, ich weiß. Ich danke Ihnen, Herr Professor. Sollte ich mich vorher nicht mehr melden können, so wünsche ich Ihnen eine schöne Weihnachtszeit. Und nochmals herzlichen Dank Herr Professor.“ Mit diesen Worten trennte sie die Verbindung und wählte erneut. Dieses Mal die Nummer ihrer Mutter.
„Hallo Mutsch. Ich bin es, Romy. … Nein danke, mir geht es gut. Ich möchte dir nur sagen, dass ich mich kurzfristig dazu entschlossen habe, eine Auszeit zu nehmen. … Aber nein, es ist nichts passiert. Es ist alles in Ordnung. Ich mag nur einfach das Wetter hier nicht mehr. … Nein, ich weiß noch nicht, wo ich hin möchte. Ich werde heute auf den Flughafen fahren und sehen, was ich finde“, log Romana. „Was? Die zwei Beamten waren wieder bei Frau Richter? Was wollten sie denn dieses Mal? … Oh nein, Ralf würde doch niemals ...“, ihr stockte der Atem und sie musste sich setzen. „Und sie haben nicht gesagt, wonach sie suchen und haben auch nichts mitgenommen? ... Nein bitte, mache dir keine Sorgen. Dabei muss es sich bestimmt um einen Irrtum handeln. Sicher klärt sich bald alles auf. Und nein, du musst dir meinetwegen keine Sorgen machen. Du kennst mich und meine schnellen Entschlüsse doch. Ich muss einfach mal wieder raus aus dem Alltagstrott. Knuddle doch den kleinen Handtaschenkampfhamster Lumpie noch mal von mir. … Ja, ich melde mich ganz bestimmt bei dir. Das mache ich doch immer. … Aber ja doch, bestimmt. Mutti, ich hätte da noch eine große Bitte. Wie wäre es, wenn du über die Feiertage zu deiner Schwester fährst? Du hast sie doch so lange nicht mehr gesehen. Frage doch Tante Else, ob du deine Freundin, Frau Richter, mitbringen könntest. Ich glaube, sie hätte nichts dagegen und würde sich freuen. Mir wäre es sehr lieb und wichtig, wenn du und Frau Richter nicht so allein wärt. Frau Richter würde ein Ortswechsel bestimmt guttun nach all dem … Bitte Mutti, frage nicht warum, tue es einfach. Und noch eine Bitte. Sagt niemandem, wohin ihr fahrt. Versprich mir das. Es würde mich beruhigen und ich würde mich wirklich viel wohler fühlen, wenn ihr bei Tante Else währt. Ich melde mich wieder. Tschüss Mutsch, ich liebe dich.“ Romana standen Tränen in den Augen, als sie auflegte. Zugleich empfand sie unbändige Wut auf die fremden Männer, die ihre Wohnung durchwühlt hatten und wohl auch wieder bei Ralfs Mutter aufgetaucht waren.
Schnell suchte sie ein paar Sachen zusammen, die auf dem Boden verstreut lagen, und zog sich um. Aus der Abstellkammer holte sie ihren Koffer, stopfte wild durcheinander ein paar ihrer Sachen, sowie Hygiene- und Kosmetikartikel hinein und verschloss ihn. Von der Garderobe nahm sie ihren Mantel und zog ihn über.
Gerade, als sie die Wohnung verlassen wollte, fiel ihr der Laptop ein. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und zog den Karton, der unversehrt geblieben zu sein schien, unter ihrem Bett hervor. Sie hatte den Laptop erst kürzlich gekauft, um ihn ihrer Mutter zu Weihnachten zu schenken. Noch einmal öffnete sie den Koffer und legte den Karton zwischen die in Eile gepackten Sachen.
An der Wohnungstür drehte sie sich letztmalig um und betrachtete das Chaos. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Computer in ihrer Arbeitsecke völlig zerstört war. Ein böses Lächeln zog über ihr Gesicht.
„Ihr seid nicht so gut, wie ihr glaubt. Ihr habt einen Fehler gemacht. Und solche Fehler werden sich vielleicht noch häufen“, mutmaßte sie flüsternd. Mit diesen Worten verließ sie, weiterhin das böse Lächeln im Gesicht, die Wohnung und schloss hinter sich ab. Mit dem Fahrstuhl fuhr sie wieder in der Tiefgarage.
10
Elfriede Veit legte nach dem Gespräch den Hörer auf und starrte einige Zeit gedankenverloren auf das Telefon. Sie beugte sich zu ihrem Hund hinunter und streichelte ihn. „Na Lumpie, hast du das gehört? Was meinst du dazu? Romy hat mich im Gespräch nicht wie sonst immer Mutsch, sondern auch ein paarmal Mutti genannt. Ich sage dir, da ist etwas nicht in Ordnung. Doch wenn Romy vorschlägt, dass wir zu Else fahren sollen, dann wird sie schon einen Grund dafür haben. Also rufen wir Else doch mal an und hören, ob sie sich über unseren Besuch freuen würde. Danach rufe ich auch noch Irmgard an“, dabei verfinsterte sich ihr Gesicht vor Sorge. Sie wusste instinktiv, dass da etwas nicht stimmte. Nur was?
Hinter Romanas so eindringlich vorgebrachten Bitten und Ratschlägen verbargen sich meist triftige Gründe. Und jetzt diese überstürzte Reise. Sie hatte doch ihren ganzen Jahresurlaub schon genommen. Das passte so gar nicht zu ihr, überlegte Frau Veit. Und ja, Romanas Vorschlag, dass sie mit Frau Richter zu Else fahren solle, klang eher wie eine Forderung, nicht wie eine Bitte.
„Lumpie mein Schatz, ich denke, irgendwas hat unsere Romy vor, wovon sie uns aber nichts verraten will“, sinnierte sie, dabei kraulte sie versonnen den Hund, was er sehr zu genießen schien. Schließlich griff sie zum Hörer und wählte die Nummer ihrer Schwester.
Während Elfriede Veit noch mit ihrer Schwester telefonierte, befand sich Romana bereits im Stadtzentrum und kaufte die nötigen Sachen für ihren Freund.
11
Schwer bepackt kehrte sie zu ihrem Wagen zurück, als sie ein schrecklicher Gedanke überkam. Wenn diese Männer ihre Wohnung gefunden hatten, würden sie auch ihren Wagen ausfindig machen können.
„Nein Jungs, so leicht mache ich es euch dann doch nicht“, flüsterte sie und grinste listig.
Eilig verstaute sie alles im Kofferraum und ging zurück zum Fahrstuhl. In der Lederwarenabteilung des Warenhauses stieg sie aus, erwarb einen großen Koffer sowie einen Tourenrucksack. In der Telefonabteilung besorgte sie einen UMTS-Stick mit SIM-Karte, (auch Internet-Stick oder Surf-Stick genannt) für das Notebook und steckte ihn in ihre Hosentasche. Ihr Plan stand fest und musste nur noch in die Tat umgesetzt werden. Ihr nächstes Ziel war der Flughafen.
Die Wolken hingen tief und dicke Flocken platschten auf die Frontscheibe, sodass die Scheibenwischer es kaum schafften. Die Temperatur war zu mild, der Schnee hatte keine Chance auf dem Boden liegen zu bleiben. Es bildete sich eine Matschschicht auf der Straße, die den Verkehr zunehmend behinderte.
Dieses Mal lenkte Romana den Wagen zur Autobahnauffahrt, um sich den Weg durch die Stadt zu ersparen. Es war bereits dunkel geworden. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 20:37 Uhr an.
Ihr brannte die Zeit unter den Nägeln. Ralf brauchte unbedingt die nächste Antibiotika-Gabe und einen frischen Verband. Zudem musste sie ihn darüber informieren, was alles passiert war. Außerdem wollte sie endlich von ihm erfahren, worum es bei der ganzen Sache eigentlich ginge. Weshalb diese Männer ihre Wohnung auf den Kopf gestellt hatten
Sie drückte das Gaspedal weiter durch und näherte sich schneller der Autobahnabfahrt.
Auf dem Grundstück war alles dunkel. Nicht der kleinste Lichtstrahl drang aus dem Haus nach draußen. Die Rollladen waren lichtdicht verschlossen. Romana fuhr den Wagen in die Garage.
Mit den beiden schweren Koffern, der großen Tasche in den Händen und dem Rucksack auf dem Rücken, ging sie zur Haustür. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, drückte die Tür auf und hievte die Koffer hinein. Hinter sich verschloss sie die Tür und stellte das Gepäck mit einem erleichterten Seufzer im Flur ab.
Von der Anstrengung schwer atmend, trat sie ins hellerleuchtete Wohnzimmer. Von Ralf keine Spur. Sie sah in der Küche nach, auch da war er nicht. Im Bad entdeckte sie neben abgeschnittenen Barthaaren einige wenige Bluttropfen im Waschbecken. Besorgt rief sie nach ihm.
„Ich bin hier“, antwortete Ralf nach einer Weile und kam die Treppe heruntergehumpelt. Romana rannte ihm entgegen, umarmte ihn erleichtert und gab ihm einen flüchtigen Klaps.
„Eh, … was soll das denn?“, fragte er verwirrt.
„Ich habe dich hier unten nicht gefunden, dann habe ich das Blut im Bad gesehen. Ich hatte bereits sonst etwas gedacht“, rechtfertigte sie sich. „Wie kannst du mich nur so erschrecken! Was hast du angestellt?“
Ralf grinste verlegen. „Sorry, aber als du ewig nicht kamst, wollte ich dich überraschen und habe versucht, meinen Bart mit einem deiner Skalpelle zu stutzen. Das ist wohl schiefgegangen. Und, als dann das fremdes Auto aufs Grundstück fuhr, habe ich es vorgezogen, mich in die obere Etage zu verkrümeln.“
Romana betrachtete das Gesicht ihres Freundes genauer, dabei entdeckte sie die frische Schnittwunde die zusätzlich, zu einigen Kratzern im Gesicht, sein Kinn zierte. Sie konnte nicht anders und musste lauthals lachen. „Du blöder Kerl“, war alles, was sie unter erleichtertem, befreiendem Gelächter hervorbrachte.
Sie wandte sich um, ging zurück in den Flur, in den Ralf ihr humpelnd folgte. „Was bringst du denn da alles angeschleppt?“, wollte er wissen.
„Ich denke, all das, was du und ich hier brauchen werden. Ich hoffe, dass ich nichts vergessen habe.“
„Halt mal“, versuchte er sie zu stoppen. „Wieso für uns? Du meinst für mich.“
„Nein, Du hast schon richtig gehört. Die Sachen sind für uns. Du lagst nämlich völlig richtig. Meine Wohnung wurde in der Nacht oder heute Morgen auf den Kopf gestellt. In den Zimmern sieht es aus, als hätten die nach irgendetwas gesucht. All meine Schränke sind durchwühlt wurden. An meinem Rechner haben sie sich auch zu schaffen gemacht. Der ist jetzt Schrott. Bloß gut, dass ich da nichts Wichtiges drauf hatte.“
Ralf wurde kreidebleich. Mit weit aufgerissenen Augen sah er Romana an. „Die waren schon bei dir? Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell sind“, murmelte er. Es klang eher nach einer Frage als nach einer Feststellung.
„Sieht ganz so aus. Laut meiner Mutter waren die beiden netten Herren auch wieder bei deiner Mutter und haben da wohl so etwas wie eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Außerdem haben sie sich bei ihr nach deinen Freunden erkundigt.“
„Diese Schweine!“, schrie Ralf. „Die wissen also, dass ich noch am Leben bin. Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut“, sagte er dann leiser, als spräche er zu sich selbst.
„Nichts, absolut gar nichts wissen die. Die haben nichts gefunden und nichts mitgenommen. Das weiß ich von meiner Mutter, weil es ihr deine Mutter gleich erzählt hat. Ralf, die klopfen nur auf den Busch“, setzte Romana ihm entgegen. Ohne ein weiteres Wort ging sie ins Bad, um sich gründlich die Hände zu waschen, holte dann ihrer Arzttasche aus der Ecke und legte sie auf den Tisch vor sich hin.
„Es wird Zeit für deine Injektion. Und danach will ich endlich wissen, was los ist. Warum haben die bei deiner Mutter eine Hausdurchsuchung gemacht? Und warum verwüsteten die meine Wohnung? Was suchen diese Männer?“, fragte sie, während sie die Spritze aufzog.
„Romy, warum hast du jetzt einen anderen Wagen?“, fragte er nach einer Weile, ohne auf ihre Fragen einzugehen. „Es war ein hellblauer Opel Corsa Zweitürer, wenn ich richtig gesehen habe.“
„Hast du. Das ist ein Leihwagen. Ich dachte mir, wenn die meine Wohnung so schnell gefunden und durchwühlt haben, dürfte es ihnen ebenso ein leichtes sein, meinen Wagen ausfindig zu machen. Wer weiß, vielleicht hätten sie mich dann bis hier her verfolgen können. Also habe ich mein Auto in der Stadt stehen lassen, bin erst mit der Straßenbahn und dann weiter mit dem Bus zum Flughafen gefahren und habe mir dort einen Wagen gemietet. Ich hoffe, dass der nicht so schnell von denen zu uns zurückverfolgt werden kann.“
„Romy, du bist die größte, schönste und schlaueste Frau auf Erden.“ Er küsste sie auf die Stirn. Dann wurde er schnell wieder ernst. „Nur leider reicht das nicht ganz.“
„Warum?“, wollte Romana wissen. Er wirkte mit einem Mal bedrückt auf sie. „Weil wir zu all dem auch einen PC mit Internetanschluss bräuchten, um unseren Freunden wenigstens ein Zeichen zu senden. Doch deiner ist nicht mehr zu gebrauchen, wie du gerade erzählt hast und hier gibt es keinen. Ich habe bereits überall nachgeschaut. Also muss ich eine andere Möglichkeit finden. Vielleicht gibt es in der Nähe so etwas Ähnliches wie ein Internetcafé, in das ich gehen könnte. Romy, weißt du, wo es hier sowas gibt?“
Ohne darauf einzugehen, begann Romana, im Koffer herumzuwühlen. Nach kurzer Suche zog sie eine Kulturtasche hervor.
„Weißt du was? Du gehst jetzt erst einmal mit dem Zeug hier ins Bad und machst einen Menschen aus dir. Aber bitte, ohne dich wieder zu schneiden“, mahnte sie, drückte ihm die Tasche in die Hand und schob ihn in Richtung des Badezimmers. „Danach sehen wir weiter.“
Ralf nahm nur widerwillig die Sachen an sich und ging damit, ohne noch ein Wort zu sagen, ins Bad.
Er machte sich große Sorgen. Schien es ihm doch so, als wäre er bisher keinen Schritt weiter gekommen, um seinen Freunden in irgendeiner Weise helfen zu können. Er wusste, dass er seiner Freundin alles erzählen musste, auch wenn er ihr damit große Schmerzen bereiten würde und sie damit auch zusätzlich in Gefahr brächte, wenn sie ihm weiterhin hälfe.
Während Ralf im Bad war, holte Romana das Notebook aus ihrem Koffer. Dann suchte sie nach einer freien Steckdose nahe der Couch, um dem Rechner den nötigen Strom zu verschaffen. Aus ihrer Hosentasche zog sie den Internetstick, den sie erworben hatte. „Kommst Du klar?“, rief sie in Richtung Bad.
„Ja, geht so. Allerdings könnte ich auch einen Haarschnitt gebrauchen“, kam seine knappe Antwort.
„Vielleicht später mal. Jetzt muss erst einmal ein Haargummi von mir reichen.“ Romana ging zum Badezimmer, steckte die Hand durch die, einen Spalt offenstehende Tür und reichte ihm den Haargummi entgegen. „Das kann übrigens auch erotisch auf Frauen wirken.“ Sie reflektierte, was sie soeben gesagt hatte und errötete. Insgeheim fand sie Männer mit gepflegter, längerer Haarpracht, zum Zopf zusammengefasst, anziehend. Und Ralf hatte lockiges, schwarzes Haar, dessen derzeitige Länge ihr gefiel. Wenn es nur nicht so ungepflegt und strähnig ausgesehen hätte.
Während sie zurück ins Wohnzimmer ging, hörte sie ihren Reiseföhn aufheulen, den sie mit in den Beutel gesteckt hatte.
„Sag mal“, erklang seine tiefe Stimme, „du hast wohl an alles gedacht, was?“
„Ich hoffe es zumindest.“
Das Geräusch des Föns verstummte.
„Nur nützt uns das nicht viel, solange wir nicht an einen Rechner rankommen. Den bräuchte ich nämlich dringend.“
Romana lächelte. „Kein Problem“, antwortete sie und wies auf das Notebook auf dem Couchtisch, als Ralf ins Wohnzimmer trat. „Und hier der noch dazu. Versuch, ob du ihn ans Netz kriegst.“ Dabei reichte sie ihm den UMTS-Stick.
Ohne an seine Verletzungen zu denken, hob er sie hoch, bis sie den Boden unter den Füßen verlor. Fest drückte er sie an sich und wirbelte sie herum.
„Du bist die Größte!“, rief er euphorisch, ließ sie sacht wieder herunter, hielt sie aber weiterhin fest. Dabei sahen sie sich tief in die Augen.
„Ähm, … könntest du mich wieder loslassen. Du erdrückst mich nämlich sonst noch“, flüsterte sie, als ihr die Situation bewusst wurde.
Erschrocken ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.
„Entschuldige bitte, das wollte ich nicht. Habe ich dir wehgetan?“
Sie zog sich den nach oben gerutschten Pullover zurecht.
„Nein, so schlimm war es auch wieder nicht“, sagte sie verlegen lächelnd.
Als sie bemerkte, wie sie Ralf anstarrte, errötete sie und sagte ohne vorher darüber nachzudenken: „Die Frauen werden dir zu Füßen liegen. Nur jetzt wäre es besser, wenn du dir etwas überziehst …, ehe ich mir hier die Augen verblitze“, fügte sie leiser hinzu. Sie deutete Richtung Flur. „Da in dem braunen Koffer dürftest du hoffentlich was Passendes finden.“
Ralf hatte sehr wohl Romanas geflüsterte Anspielung gehört und grinste sie breit an, als er sich bemüht, so wenig wie möglich humpelnd, den Koffer aus dem Flur zu holen.
Beide standen sich schon immer sehr nah und so manches Mal hatte sich Ralf mehr als Freundschaft mit dieser schönen und intelligenten Frau gewünscht. Doch, bereits als er 18 und sie gerade 16 geworden war, waren sie sich darüber einig gewesen, dass Liebe. gar Sex eine so tiefe Freundschaft zerstören könnte. Also hatten sie sich geschworen, sich daran zu halten. Eine Zeit lang verloren sie sich aus den Augen, als er bei der Armee in einer Eliteeinheit diente, sie ihr Medizinstudium absolvierte, danach an einer Polarexpedition teilgenommen und es sie gleich darauf in das heiße Namibia gezogen hatte. Jedoch auch zu dieser Zeit waren sie immer in Verbindung geblieben. Jeder wusste stets, wo der andere war, aber nicht so genau, was er tat. Wiedergetroffen hatten sie sich erst auf dem internationalen Meeresforschungsschiff Blue Sea. Aus Romana war in der Zwischenzeit eine wunderschöne Frau geworden und er verfluchte oft den Schwur, den sie sich einst gaben. So schwer es ihm auch fiel, er hatte sich stets daran gehalten.
Sie verbrachten gern ihre Freizeit miteinander, gingen, wann immer es möglich war, zusammen tauchen. Ein Sport, den sie gemeinsam nachgingen und sich dabei immer aufeinander verlassen konnten. Sie verstanden sich seit jeher ohne viele Worte.
All das ging Ralf durch den Kopf, während er den Koffer öffnete und sich die Sachen besah, die seine Freundin ihm besorgt hatte.
Er tauschte das Badetuch gegen Boxershorts. Sie passten wie angegossen. Ebenso der Rollkragenpullover, die Socken, die Jeans und nicht zuletzt die Schuhe waren wie für ihn gemacht und trugen sich bequem.
„Romy, du bist eine Perle. Woher kanntest du meine Konfektionsgröße, ich habe dir doch nur die Schuhgröße verraten?“, fragte er und küsste die Freundin auf die Stirn.
„Nenne es weibliche Intuition“, meinte sie beiläufig und lächelte ihn an. „Schön, wenn dir die Sachen passen und hoffentlich auch etwas gefallen. Kümmere du dich um den Rechner. Ich gehe erst einmal in die Küche und mache uns etwas zu essen.“ Sie bückte sich nach dem Rucksack. Schnell sprang er ihr zur Seite, um ihr zu helfen. Als sie zur gleichen Zeit nach dem Rucksack griffen, trafen sich wieder ihre verlegenen Blicke.
Dieses Mal reagierte er als Erster. „Sag mal, was hast du da alles angeschleppt? Das Teil ist ja schwer ohne Ende.“
Er trug er den Rucksack in die Küche und Romana folgte ihm.
„Danke, ab hier komme ich auch alleine zurecht. Mache dich derweil mit dem Rechner vertraut.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie fragend hinzu: „Wieso und wofür brauchst du das Teil denn überhaupt so dringend?“
„Wozu hast du ihn denn mitgebracht?“, konterte Ralf mit einer Gegenfrage.
„Es war das Einzige, was die netten Besucher in meiner Wohnung nicht entdeckt und herumgeschmissen haben. Außerdem hatten sie sich, wie mir schien, besonders viel Mühe gegeben meinen Rechner unbrauchbar zu machen. Also dachte ich mir, dass es für sie besonders wichtig sein musste, dass ich ihn nicht mehr nutzen kann. Warum auch immer“, rief Romana aus der Küche, während sie die Lebensmittel in den Kühlschrank und die Schränke verteilte.
„Kommst du erst einmal essen?“, sagte sie dann, als sie mit einem beladenen Tablett ins Wohnzimmer zurück kam.
„Ja, gleich Romy. Ich richte uns gerade neue Mail-Adressen ein.“
Sie sah ihn fragend an. „Warum das denn? Du hast doch eine.“
„Stimmt, aber die würde mir für das was ich vorhabe, nichts nützen“, antwortete er und quälte sich aus dem Sessel. Die Schmerzen in seiner Schulter, an der Seite und am Fußgelenk machten sich wieder stärker bemerkbar. Als er an den gedeckten Tisch trat, lächelte er sie verlegen bittend an. „Sag mal, hast du dann noch was von deiner Zaubermedizin für mich? Ich meine ja nur, weil die Wirkung so langsam nachlässt.“
Aber natürlich, die Injektion. Die hatte Romana ganz vergessen. Sie wollte sofort vom Stuhl aufspringen, um die bereits vorbereitete Spritze aus dem Arztkoffer vom Couchtisch zu holen. Doch Ralf hielt sie zurück. „Halt, warte. Das hat bis nach dem Essen Zeit. Ich habe vielleicht einen Hunger“, sagte er, setzte sich an den Esstisch und nahm das erstbeste belegte Brot vom Teller.
Es war kurz vor Mitternacht, als sie mit dem Essen fertig waren. Romana räumte das Geschirr in die Küche. Als sie zurückkam, saß Ralf bereits wieder vor dem Laptop.
„Wir haben noch sieben Ampullen und nur noch wenig Verbandsmaterial für dich“, sprach sie leise, als sie ihrem Freund die Injektion gab. „Du musst dich erholen. Also ist es besser, wenn du jetzt nach oben schlafen gehst. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Fordernd legte Romana ihre Hand auf seine Schulter.
„Du hast Recht. Und wo schläfst du?“
„Hier unten auf dem Sofa.“
„Nein, das kommt nicht in Frage. Entweder ich schlafe hier unten oder wir beide oben. Das Bett ist breit genug für uns, ohne, dass wir uns ins Gehege kommen. Deine Manu hat ja ein richtig großes Doppelbett da oben zu stehen“, meinte Ralf.
„Okay, auch gut. Da habe ich dich wenigstens unter Kontrolle. Und Morgen erzählst du mir dann endlich, was Sache ist und was du zu unternehmen gedenkst“, antwortete sie nach einer kurzen Pause.
Mit diesen Worten verließ sie ihn und schloss die Badezimmertür hinter sich.
Ralf stellte den Weckruf seiner Armbanduhr auf acht Uhr morgens. Er löschte das Licht in Küche und Wohnzimmer und wollte gerade die Stufen nach oben gehen, als er sie rufen hörte. Er ging zurück und öffnete die Tür zum Bad einen Spalt weit.
„Ja, was ist“, fragte er.
Romana stand in der Wanne, den Duschvorhang vor ihren Körper gehalten, welcher sich an ihrer nassen Haut anschmiegte und dabei ihre Reize nicht verbarg.
„Kannst du mir bitte mein Badehandtuch aus dem Koffer holen? Ich habe es vergessen.“
Ralf lächelte verwegen und betrachtete sich das Bild, das er da sah, genauer.
„Eh, was soll das? Du oller Spanner“, fuhr sie in sofort verlegen an.
„Ach, ich tue nur das, was du vorhin auch getan hast, als ich aus dem Bad kam. Ich taxier dich und ich finde gut, was ich sehe.“
„Blöder Kerl“, rief sie ihm zu und warf mit einem nassen Schwamm nach ihm, der ihn knapp verfehlte.
„Ist ja schon gut“, sagte er, lachte, „ich gehe ja schon.“
Als er zurück kam, hatte sie sich abgewandt und er legte sanft das Badetuch über ihre Schultern. Mit einem vielsagenden Pfiff verließ er das Bad wieder und ein: „„Idiot!“, von Romana begleitete ihn.
Als sie nach einer Weile, bekleidet mit einem weiten, langen T-Shirt, hinauf ins Schlafzimmer kam, schlief ihr Freund bereits auf der linken Seite des Bettes. Sie knipste das Licht aus und schlüpfte auf der anderen Seite unter die Decke. Nach wenigen Minuten schlief auch sie tief und fest.
12
Zur selben Zeit trafen sich Ralfs und Romanas Mütter mit ihren gepackten Koffern vor dem Blumengeschäft und gingen zur Haltestelle der Straßenbahn.
„Elfriede, ich weiß nicht. Meinst du wirklich, dass es eine so gute Idee ist, jetzt zu verreisen?“, fragte Ralfs Mutter, sich nicht sicher.
„Ja Irmchen, das ist es. Meine Schwester freut sich schon sehr, dich endlich mal kennen zu lernen. Ich habe ihr doch schon so viel von dir erzählt. Was willst du allein die Feiertage dasitzen und Trübsal blasen. Du hast doch eine gute Vertretung fürs Geschäft. Also brauchst du dir keine Sorgen machen. Außerdem hattest du das ganze Jahr noch nicht einen Tag Urlaub“, erklärte Romanas Mutter.
„Und was ist, wenn sich mein Ralf meldet?“
„Dann wird er sich sehr darüber freuen, dass du endlich mal Urlaub machst. Du hast doch aber hoffentlich Ina, deiner Urlaubsvertretung, nicht gesagt, wo wir hinfahren?“
„Nein, natürlich nicht. Aber die Beamten hatten doch gesagt, dass ich mich für sie weiter zur Verfügung halten soll, um sie zu informieren, wenn ich etwas von Ralf höre oder er bei mir auftaucht. Und jetzt verschwinde ich einfach ohne ihnen zu sagen, wo sie mich erreichen können. Das gefällt mir ganz und gar nicht“, meinte Ralfs Mutter besorgt.
„Irmchen, hat es dir nicht schon gereicht, dass sie deine Wohnung und den Blumenladen auf den Kopf gestellt und alles durchsucht haben, als hättest du was verbrochen? Außerdem haben sie dir nicht einmal einen Durchsuchungsbefehl, geschweige denn ihre Dienstausweise gezeigt. Du hättest sie gar nicht in die Wohnung lassen sollen. Da stimmt doch etwas nicht. Glaube mir, Romy hat schon Recht damit, wenn sie sagt, dass es das Beste ist, wenn wir jetzt zu meiner Schwester fahren. Ich kenne meine Tochter. Sie hat ihre Gründe dafür. Sie hat sich bestimmt etwas dabei gedacht. Du wirst sehen, dir wird es bei meiner Schwester gefallen. Und wenn es dich beruhigt, so kannst du dann von meiner Schwester aus ja auch ab und zu bei Ina im Laden anrufen, um dich nach Neuigkeiten zu erkundigen. Außerdem habe ich ihr doch auch meine Handynummer gegeben, damit sie dich erreichen kann, wenn etwas sein sollte.“
Romanas Mutter beruhigte ihre Freundin und brachte all ihre Geduld auf, die sie hatte. Dabei war sie bemüht ihre eigenen Sorgen, so gut es ging, zu verbergen.
In diesem Moment kam die Straßenbahn. Lumpie zog Elfriede, aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd, zur aufgleitenden Tür. Sie half Irmgard beim Einsteigen. Nach fünf Haltestellen erreichten sie den Hauptbahnhof, von dem eine halbe Stunde später ihr Zug Richtung Rostock abfuhr.
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