Leben - welche Freude

Dies ist die Geschichte zum "Abschiedsbrief" in der Rubrik Herzschmerz die bisher erst zwei Menschen kennen.
Ich lege sie behutsam und sehr unsicher in eure Hände.
Es ist kein Märchen - die Geschichte ist leider wahr.


Leben - welche Freude

Seit Stundentenzeiten waren ein Kopfmann und eine Bauchfrau ein Paar, das sich wundervoll ergänzte. So beschlossen sie, für immer zusammen zu bleiben. Und wie in rosaroten Romanen heirateten sie mit allem Drum und Dran und bekamen zwei wundervolle Kinder.

Kopfmann und Bauchfrau liebten sich und stritten auch schon mal ein bisschen, aber das soll ja gut für den Kreislauf sein. Der Kopfmann unterstützte seine Bauchfrau nach bestem Wissen, ihre Bauchgefühle auszuleben, und die Bauchfrau war stolz auf ihren Kopfmann und seinen brillanten messerscharfen Geist.

Da wollte das große Schicksal über allen Menschen den Kopfmenschen prüfen und ihn zwingen, auf seinen Geist zu verzichten. Es pflanzte einen pampelmusgroßen Tumor mitten in seinen Kopf.

Die Ärzte schüttelten bedenklich den Kopf. "Wenn Sie noch ein Jahr leben möchten, müssen wir sofort operieren. Sonst haben Sie nur noch ein paar Wochen..." "Was ist der Preis?", fragte der Kopfmann. "Wir schneiden die Sprache, die Bewegung der rechten Körperseite und das Denkzentrum heraus. Keine Sorge, Sie werden nichts davon merken. Ach ja, und unterschreiben Sie hier vielleicht Ihr Einverständnis zu Forschungszwecken? Sehr seltener Fall. Höchst interessant. Wirklich." Großzügig gaben die Ärzte zwei Tage Bedenkzeit. Viel, wenn man beginnt, das Leben in Wochen zu zählen.

Der Kopfmann und seine Bauchfrau schauten einander in die Augen. Die Bauchfrau wollte im ersten Augenblick spontan einfach das längere Leben. In den Augen ihres Kopfmannes stand ein trotziges Blitzen. Da wusste die Bauchfrau: seine Entscheidung stand, und sie unterdrückte ihren Wunsch. Dieser Kampfgeist im Blick machte ihr Mut. Sie umarmte ihren Kopfmann und sagte: "Du zeigst ihnen allen, dass du dieses Jahr auch ohne OP schaffst." Der Kopfmann legte seinen Kopf auf den Bauch seiner Bauchfrau, und während sie über seine Haare strich, spürte sie, wie er die Hände zu Fäusten ballte und sagte: "Ich werde leben. Wenn vielleicht auch nur noch eine Woche. Aber diese Woche zu Hause bei dir."

Beide hielten sich umarmt und dachten an den Spruch mit den guten und schlechten Zeiten vor so langer Zeit, als sie ihm noch keine Bedeutung schenkten. Dann straffte sich der Körper des Kopfmannes. Er ging zu den Ärzten und erklärte: "Ich werde leben. Was ich unter Leben verstehe. Und wenn es nur eine Woche ist. Ich lasse niemanden an meine CPU. Fangen Sie sich für die Forschung einen neuen. Ich habe nur dieses eine Leben."

Die Bauchfrau war noch nie so stolz auf ihren Kopfmann gewesen wie in diesem Augenblick. Und auch noch nie so traurig.

Dann begann für Kopfmann, Bauchfrau und ihre Kinder eine Zeit, die der Kopfmann als "mein einziges Leben" bezeichnet hatte. Zu Beginn waren alle damit beschäftigt, sich auf die neue Situation einzustellen. Der Kopfmann telefonierte mit der Verwandtschaft, mit Freunden und Kollegen und erzählte ihnen, dass er gerade sein neues einziges Leben beginnen wolle. Er lud sie ein daran teilzunehmen solange es noch ging. Der Kopfmann wünschte sich Festgelage mit frohen Gesichtern. Die den Mut hatten zu kommen haben es nie bereut. Er machte es ihnen leicht, schien wie immer und schien die Abschiede zu genießen. Kopfmann und Bauchfrau hatten nun auf einmal so viel Zeit füreinander wie zu Beginn ihrer Partnerschaft in Studententagen. Sie nutzten die Zeit mit Gesprächen, mit Kuscheln im Bett, mit ausgiebigen Frühstücken und langen Spaziergängen. Denn der Kopfmann wusste, dass seine Beine vom Druck des wachsenden Tumors bald nicht mehr laufen würden.

Er fing an zu malen wie früher, besessen, zum Erstaunen seiner Bauchfrau mit der linken Hand. "Wenn die rechte gelähmt ist, kann ich das dann länger", erklärte er kurz und sortierte seine Bilder.

Dann drängte er, alles zu regeln für die Zeit nach seinem Leben. Die Bauchfrau fuhr ihn eine Zeitlang morgens ins Büro - nun ohne seine dichten dunklen Haare, kahlköpfig durch die Strahlen. Er wollte auch dort alles regeln, und viele Kollegen, die ihn mit Tränen in den Augen begrüßten, lud er ein, uns zu besuchen und wies sie an, auf dieses und jenes zu achten bei der Umstrukturierung.

Die Bauchfrau spürte instinktiv wie gut ihm das so normal wie möglich Leben tat und vermied die üblichen Ratschläge, sich zu schonen, viel zu ruhen. "Ruhen werde ich bald noch genug", antwortete er dann sarkastisch. Die Bauchfrau fuhr überall hin mit ihm, wo er sich an alten Stätten von Bäumen und Plätzen und Häusern und Wäldern tief einatmend verabschiedete.

Die Bauchfrau hatte zu diesem Zeitpunkt bereits wieder begonnen zeitweise zu arbeiten weil sie seine Unruhe über das Weiterkommen sah. So lächelte sie morgens ihre neuen Kollegen an und nachmittags und abends die Kinder und den Mann.

Dann begann sehr schnell die Zeit in der der Tumor wie versprochen die rechte Seite lähmte und ihm auch Stück für Stück die Sprache nahm. Aber seinen Geist, den hat er nie verloren, der war unverändert klar. Der Kopfmann reagierte sehr unwillig auf die Veränderungen, und da er ein Kopfmann war, zeigte er seine Tränen in Form von Wut und Agressivität gegen seine Bauchfrau. Die weinte alle seine Tränen und auch ihre nachts am Fenster stehend aus - drehte sich um und sah die Verzweiflung in seinem Gesicht.

Die starken Medikamente zeigten ihre Nebenwirkungen. Ursprünglich berechnet für ein paar Wochen schluckte er sie nun schon über ein Jahr. Unförmig aufgedunsen, tiefe Geschwüre an Po und Bein. Dann die Erniedrigung, Katheter und Windel zu tragen weil die Lähmung wuchs und kurze Zeit später den Schlauch in den Magen. Die Sprache aufrecht erhalten solange es geht. Das hatte ich ihm versprochen. Als die Muttersprache schwand, holten wir die Wörter über Englisch und Französisch her. Und bei jedem mühsamen Formen ging ein Leuchten über sein Gesicht. Die letzten Worte, die fast bis zum Schluss blieben: "Es ist eine Freude." Und: "Lecker, gut!" Und immer, immer blieb sein Geist nur er.

Durch den starken Druck im Kopf fingen die epileptischen Anfälle an. Grausamer Anblick für die Kinder und mich. Habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Die ersten Male ging es mit tatütata ins Krankenhaus wo er widerwillig ein paar Tage blieb.

In dieser Zeit hielten viele den Anblick schon nicht mehr aus. Beschworen mich wie die Ärzte: "Lass ihn im Krankenhaus. Das ist nicht zu schaffen." Die Ärzte versprachen hohe Dosen Morphium, so würde er das Krankenhaus gar nicht merken. Ich schaute in seine angstvollen Augen und nahm ihn auf eigene Verantwortung, wie das so schön heißt, wieder mit nach Haus.

Musste versprechen, ihn bei jedem neuen Anfall sofort wieder einliefern zu lassen. Und davor hatte er genau so große Angst wie ich.

Zwischen Weihnachten und Neujahr, nun 1 1/2 Jahre nach der Diagnose, kündigte sich nachts der nächste Anfall an. Bevor das Beben seinen Körper durchschüttelte, beschwor ich ihn: "Du bleibst da". Er hatte seinen Blick fest auf meinen gerichtet. Ich steckte schnell die Schmalseite des Taschenbuches, aus dem ich ihm gerade vorgelesen hatte, zwischen seine Zähne. Dann nahm ich seinen nun unkontrolliert bebenden Kopf zwischen meine Hände. Meinen Blick fest auf seinen gerichtet, floss völlig angstfrei aus mir heraus: "Ich kann dir das Sterben nicht abnehmen. Aber ich werde dir die Schmerzen wegnehmen. Mach genau, was ich sage." In seinen Augen stand etwas wie "JA". Ich habe den Blick nicht von seinen Augen genommen und forderte ihn auf: "Schiebe jetzt den Druck aus deinen Augen in meine." Das Ganze mag drei oder vier Minuten gedauert haben. Irgendwann löste sich etwas in ihm, und er gab es ab. Dann flachte der Anfall ab, und er war sogar in der Lage zu lächeln als ich das zerbissene Buch aus seinem Mund nahm. Mühsam formulierte er: "Gut. Lecker." Ich habe ihn vor Erleichterung umarmt.

Seit dieser Nacht hat er keinen Anfall mehr bekommen. Ich habe die Schmerzmittel nach und nach reduziert, so dass er wieder klar, wenn auch schwach, an allem Anteil nahm. Die Sylvesternacht zu 1995 wuchtete ich sein Bett ans Fenster. Er schaute das Feuerwerk an und sagte ein letztes Mal verständlich "Welche Freude!".

Der Arzt konnte nicht erklären, wieso der Druck nicht mehr da war, weil der Tumor mittlerweile deutlich unter der Kopfhaut hervortrat. Es gibt eben Dinge, die können auch Ärzte nicht verstehen.

Am 8. Februar 1995 hat der Kopfmann gewartet, bis seine Bauchfrau mittags von der Arbeit kam. Sie schauten sich an, und wir wussten beide - der Augenblick war da. Ich nahm wieder sein Gesicht in meine Hände und flüsterte sanft: "Wenn du gehen möchtest, dann geh. Es ist gut." Er konnte nicht mehr antworten. Aber in seinen Augen stand: "Welche Freude!" Und als das Licht sich in ihnen brach, durfte ich sie ihm schließen und dachte an seinen Satz: "Ich werde leben......"
 

Feder

Mitglied
Hallo Eufemia,
nach einer Weile des Innehaltens – es musste sein, denn deine/euere „Geschichte“ geht stark unter die Haut und damit ans Herz – bin ich in der Lage, zu schreiben.
Danke an dieser Stelle für dein Vertrauen in uns alle, die wir uns hier in der Leselupe bewegen. Danke für dein Vertrauen und danke dafür, dass du uns teilhaben lässt an dem, was wohl das Eingreifendste in deinem/eueren Leben ist/war.
Der Schlussakkord "Ich werde leben......" ist bezeichnend für dich, für euch und damit für zwei Menschen, die sich geradezu „sinnbildhaft“ lieben. Damit meine ich das Symbol des Ringes – kein Anfang und kein Ende, schlicht und tiefergreifend LIEBE in ihrer vollendeten Form – eine vollkommene Sache, eine „runde“ Sache.

Wenn ich es hier gewagt habe, das Wort „vollkommen“ in den Mund bzw. vor die Feder zu nehmen, dann sei dir sicher, dass ich weiß, was ich dabei denke, wenn ich es schreibe.
„Vollkommenheit“ ist nach meinem Empfinden erst dann gegeben, wenn sich das Gemeinte vom „Heile-Welt-Denken“ gelöst hat. In der „heilen Welt“, was auch immer man darunter verstehen mag, ist es keine Kunst, etwas Vollkommenes zu schaffen. Das Leben hält uns immer in einem ständigen Kampf; mal mit uns selbst, mal mit Anderen. Kompromissbereitschaft ist gefragt, Auseinandersetzen mit Situationen ist gefragt, das Beste aus dem Gegebenen zu machen, ist gefordert.

Unter diesen Lasten entfernen sich Menschen oft voneinander, anstatt sich einander zu nähern. Dabei geht es nie darum, wie viel der Eine und wie viel der Andere an Last übernimmt. Wenn man „wirklich“ liebt, stellt man sich die Frage eh nicht, denn man übernimmt stets den Part, den man übernehmen kann und wenn man sieht, dass man für den Anderen mehr übernehmen muss, tut man auch dies.
Was ich hier über euch habe erfahren dürfen ist, dass jeder von euch beiden weit über seine Grenzen herausgegangen ist und Übermenschliches geleistet hat.

Das Fazit, was sich zum Schluss immer ergeben sollte, möchte ich mit einem Gleichnis formulieren – so, wie es sich von meinem Blickwinkel aus darstellt:
Jeder von uns ist etwas wie eine Insel – ein Individuum – zunächst.

Wenn man liebt, teilt sich das Eiland in Parzellen und jedes Gegenüber, dem man ein echtes Gefühl entgegenbringt, erwirbt im Gleichzug und ohne Erwartungshaltung einer Gegenleistung Grund auf diesem Fleckchen Erde.
Was ist aber, wenn man liebt, und zwar „über alle Grenzen“?
In diesem Zusammenhang denke ich an den Satz: „So soll es sein!“

Es ist der Moment, wo etwas in seiner Ursprungsform existent wird und vor Augen tritt – der Moment, wo Inseln zusammenwachsen und ein Kontinent entsteht. So etwas schreibt „Geschichte“ über die Zeit hinaus die man lebt, die man fassen kann oder überhaupt in der Lage ist, sie zu formulieren.

Du hast ein Land beschrieben, welches unter einem besonderen Schutz stand und steht. Ein Land, welches Heimat ist und bleiben wird, egal wo und wie du lebst, ob dich viele Menschen oder keiner umgibt, denn es ist DEIN Land und wird es bleiben!

Zu guter Letzt werden im Allgemeinen die Zeilen, die auf den Seiten der Leselupe stehen, bewertet. Dies vorzunehmen, entbehrt in diesem Fall jeder Grundlage. So lass mich zum Abschluss sagen: diese Zeilen leben, weil sie bewegen und weil sie Vergangenheit wie Zukunft gleichermaßen schreiben und beschreiben – eine Liebe im Musterbeispiel. Eine meisterhafte Umsetzung!

Ich denke, du hast mich verstanden, was ich damit sagen möchte!

Das hier wird auch mich lange begleiten – im positiven Sinn!

Deine Feder
 
Liebe Eufemia,
ich stehe immer noch unter dem Eindruck des Gelesenen. Erschütternd - und dennoch aufbauend und lebensfroh geschrieben (du verstehst, was ich sagen will)
Eine Bewertung ist fehl am Platz, die Schilderung spricht für sich.
Herzliche Grüße
Willi
 
Liebe Feder,

die Ganzheit in den Symbolen von Ring und Land hast du sehr einfühlsam beschrieben.

Den Ring als Symbol der vergangenen Liebe habe ich als Ganzes der Schöpfung zurückgegeben.

Aber mein Land, das bewohne ich. Es wächst üppig auf den alten Wurzeln, und seit der Schleier aus Kummer langsam zeriss und der Nebel sich lüftete, erkenne ich: es ist ein Land des Lächelns. Mein Lächeln im Spiegel eurer Augen.


Lieber Willi,

auch dir lieben Dank für deine Worte.
Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich diese Geschichte niederschreibe.
Es gelang mir nur, weil ich ihr ein wenig vom Rahmen eines Märchens gab. Auch die sprachlich "eklatanten Brüche" beim Wechsel der Erzählerebene von der dritten in die erste Person ließ ich bewusst (noch?) stehen. Es sind Stellen, in denen mir vielleicht die nötige Distanz fehlt - anderereits unterstreichen gerade sie die Eindrücklichkeit der Schilderung.
Lange Sätze, Wiederholungen von Konjunktionen, Präpositionen usw.- alles Highlights einer Negativliste für Schreiberlinge schon in Proseminaren: in diesem nahezu kindlichen Erzählstil brachte ich die Ohnmacht unter, die Erschöpfung, mein Hadern, Aufbäumen, mich klein fühlen. Aber auch die ersten kleinen hellen Lichter einer neuen Zukunft.

Ich danke euch

Femi
 
Liebe Femi,
ich bewundere die Art, wie du mit dem Schicksalsschlag fertig wirst und nie den Mut verlierst.
Am Erzählstil würde ich nichts ändern, du würdest damit nur die Wirkung schmälern.

Übrigens, wenn du Zeit und Lust hast, bist du herzlich eingeladen zu meiner Lesung am 27. Sept. von 16.30 bis 18.00 Uhr im Auerbachhaus (Vereinshaus) auf der Stadtparkinsel in Grevenbroich. Kostet allerdings 8,- DM Eintritt.
Es grüßt dich ganz lieb
Willi
 
Danke für die Einladung Willi,

ich habe mir den Termin schon vorgemerkt und komme gerne, zumal mein Vater bis zu seinem Tod auch "Vater" der Auerbachpartnerschaft war wie der zu Saint Chamond.

Vielleicht komme ich zusammen mit Dietmar.

das "Grevenbroicher Mädchen"

Femi

Vielleicht sollte ich am Text wirklich nichts mehr ändern. Bin gespannt, wie die Anderen LLer darüber denken.

Euch allen herzliche online Grüße und bei dem Sauwetter höchstens einen Infekt in Form von heftigem Schreibfieber*g* -)

Eufemia
 

Brigitte

Mitglied
Liebe Eufemia,

Deine Geschichte hat mich sehr berührt und ist mir unter die Haut gegangen. Musste erst ein paarmal Luft holen und meine Tränen unterdrücken.....

Ich finde, es bedeutet wohl sehr viel Stärke, einen geliebten Menschen Stück für Stück sterben zu sehen und zu wissen, medizinisch kann man nicht helfen, denn hier gibt es keine Hilfe mehr. Es war seine Entscheidung, auf eine OP zu verzichten und die Zeit, die hier so unendlich kostbare Zeit mit der Familie zu leben, solange es noch ging. Denn man weiss ja nicht, wie eine OP verlaufen wäre.

Es muss ihn und dich sehr viel Kraft gekostet haben, aber ich glaube, in einer solchen Situation wächst man über sich hinaus und entwickelt ungeahnte Kräfte.
In dieser Zeit will man noch einmal all die Dinge tun, die Freude machen, noch einmal "leben".

Ich kann dich jetzt gut verstehen, dass du dein Leben doppelt lebst, bewußter vielleicht, intensiver, denn du hast ja selbst erlebt, wie schnell es vergehen kann.
Wir kommen wohl schon zur Welt mit dem Stempel unsres Todes, und der Zeitpunkt ist immer der Falsche.
Ob es Glück ist, bis zuletzt dabeizusein, ich weiß es nicht. Aber dass du da warst bis zum Schluß, ihm noch eine schöne Zeit geschenkt hast, für ihn gesorgt hast - vielleicht hat ihm dies den "letzten Weg" leichter gemacht....

Alles Gute, wenn auch dies schon Jahre zurückliegt, so ist die Erinnerung doch immer allgegenwärtig.

Brigitte
 
Liebe Brigitte,

wieviel Stärke das Begleiten erfordert
und wie schwach und mutlos man sich gleichzeitig fühlt,
das hast du selber vor kurzem erfahren.

Daher danke ich dir besonders innig für deine Worte.

Ich habe Demut gelernt in dieser Zeit.
Demut vor dem Geschenk des Lebens und daraus Mut geschöpft für den weiteren Weg.

Ich begleite dich in Gedanken

Femi
 
R

reiselbeer

Gast
Liebe Femi,

ich habe einfach nur geweint...... habe Deine Geschichte mitgelebt und mitgelitten. Geblieben sind nicht Trauer und Hoffnungslosigkeit - Leben hat sich stark gemacht.
Danke
reiselbeer
 
Lieber Reiselbeer (irrer Nick!),

vielleicht habe ich mich "stark" verhalten und würde es bestimmt wieder tun - aber stark gefühlt habe ich mich in dieser Zeit nicht.
Das tue ich auch heute nicht. Meine "Stärke" lag oder liegt wohl darin, einfach das zu tun, vor dem Leben nihct fortzulaufen, sondern es zu leben - selbst wenn sich der Hals zuschnürt vor Kummer und Angst, selbst wenn mir die Tränen innen herunterlaufen müssen mit einem Außenlächeln oder sie frei laufen dürfen so wie jetzt.

Ich danke dir

Femi
 

Chaotin

Mitglied
Liebe Eufemia...

... ich glaube, dies war der erste Text in der LL, bei dem ich Satzbau, Ausdrucksweise und Co. nicht wahrgenommen habe. Ich habe auch eigentlich noch nie beim Lesen eines Buches oder einer Kurzgeschichte geweint. Dein Text bzw. dieser Teil Deines Lebens hat es sogar noch weiter geschafft. Man hat beim Lesen das Gefühl, dass diese Erzählung etwas ist, was einem ganz nahe steht...

Ganz liebe Grüße
Chaotin
 
Guten Morgen Chaotin,

deine Reaktion berührt mich tief, so wie ich mir wünsche, dass der Text euch Lesernm die Kraft gibt, nicht vorzeitig wegzuschauen, sondern ihr ihn bis zum Schluss begleitet, so aufwühlend er sein mag.
Er soll ein Abbild unser aller Leben dein und ich möchte denen unter euch, die noch frisch an einem Abschied hadern wie denen, die noch keinerlei persönliche Erfahrung mit dem Tod gemacht haben, nichts verniedlichen aber aber gleichzeitig ein Gefühl vermitteln, dass im Laufe der Zeit in mir gewachsen ist:

die Kraft eines einzigen Grashalms in sich zu spüren, der es schafft, dicke Betonmausoleen zu durchdringen.

Liebe und Leben sind wirklich stärker als der Tod.
Aber bei Gott - ich habe trotzdem Angst vor dem nächten Mal und wünsche mir wieder den Mut, nicht wegzuschauen.

Dir danke ich für den Mut, mir deine Gefühle gezeigt zu haben. Nicht die Trauerkartensprüche, sondern Betroffenheit und Wahrnehmen des Lebens wie ich es uns allen wünsche.

Femi
 

gladiator

Mitglied
Wieso steht diese Geschichte...

...in der Schreibwerkstatt? Soll an ihr gearbeitet werden? Ich möchte das hiermit tun. Brutal, den realen Hintergrund einfach vom Tisch zu schieben, aber wieso sonst steht sie hier, frage ich noch mal...

Mir hat der "Märchen"-Stil am Anfang ziemlich gut gefallen. Und deshalb fände ich es sinnvoll, ihn bis zum Ende durchzuhalten, denn er gibt dem ganzen eine beiläufige Leichtigkeit, die Du wohl auch erreichen wolltest. Wieso sonst der Titel "Leben - welche Freude"? In der hier eingestellten Version verläßt Du diese erzählerische Distanz (aus sicher guten, persönlichen Gründen), aber damit auch die Leichtigkeit der Schilderung. Ist das im Sinne des Kopfmannes...?

Mir ist es schon passiert, daß meine Anmerkungen mitunter länger waren als der eigentliche Text. Hier habe ich tatsächlich fast nichts anzumerken.

Zwei Kleinigkeiten:

Da wollte das große Schicksal über allen Menschen den Kopfmenschen prüfen und ihn zwingen, auf seinen Geist zu verzichten. - "über allen Menschen" würde ich streichen...

Die Bauchfrau hatte zu diesem Zeitpunkt bereits wieder begonnen zeitweise zu arbeiten weil sie seine Unruhe über das Weiterkommen sah. - "Unruhe über das Weiterkommen" verstehe ich nicht.

Die Szene mit dem Buch ist überirdisch gut geschildert.

Noch kurz meine Lieblingssätze:

Viel, wenn man beginnt, das Leben in Wochen zu zählen.

Beide hielten sich umarmt und dachten an den Spruch mit den guten und schlechten Zeiten vor so langer Zeit, als sie ihm noch keine Bedeutung schenkten.

Die den Mut hatten zu kommen, haben es nie bereut.

Die weinte alle seine Tränen und auch ihre nachts am Fenster stehend aus.

Jeder dieser Sätze ist ein Roman für sich. WAHNSINN!!!!

Gruß
Gladiator
 
Hallo Gladi,

lieben Dank für deine Rückmeldung.

Um die "Geschichte" überhaupt aufschreiben zu können, habe ich anfangs wirklich die Realität sprachlich in eine Märchenwelt geschoben. Mittlerweile gefällt mir dieser Gegensatz, weil er neben der Brutalität des Unabwendbaren den Zauber und die sehr stille Nähe malt, die diese Zeit ebenso bestimmt hat wie die Angst, Verzweiflung und Ohnmacht.

Ich habe den Text in die Schreibwerkstatt gestellt, weil mir eure Meinung wichtig ist, ob dies auch genau so herübergekommen ist.

Ich stimme dir zu, dass ich den Stil nicht sauber durchgehalten habe. An Stellen, wo mir auch nach 6 Jahren die Distanz fehlt, habe ich es nicht umgesetzt.

Ob ich IHM, meinem Kopfmenschen damit gerecht wurde?

Mein Lieblingssatz, weil in dieser Szene das ganze JA zu seinem JA und mein JA zu seiner Entscheidung lag:

Der Kopfmann legte seinen Kopf in den Bauch seiner Bauchfrau.....
Danke für die Anregungen zu den "unverständlichen Stellen":
1. Den Schöpfer über den Menschen beraube ich seiner Menschen und ersetze die Stelle mit "der Schöpfer über allem Sein".
2. "seine die Sorge über das Weiterkommen" bedeutet schlicht und ergreifend: wird Femi ohne sein fettes Gehalt (EU-Rente kannst du vergessen, wenn man so jung stirbt)die Kinder satt bekommen und ihnen das Dach über dem Kopf erhalten können? (Ja, hab ich irgendwie geschafft...)

Da fällt mir augenblicklich auch keine andere Formulierung ein. Ich werde mal darüber nachdenken.

Die Stellen, die dir gefallen haben, sind solche, die mir besonders wichtig sind. Ich bin froh, dass du sie auch so empfindest, denn dann kam es rüber, wie ich es mir gewünscht habe.

Hab Dank dafür, unser Gladiator

Eufemia
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
was

ne wahnsinnsgeschichte! meine tränen kullern immer noch. hier gibt es nischt zu meckern, das werk ist spitze! ganz lieb grüßt
 
K

Kadra

Gast
Liebe eufemia!

Ich hatte im Rahmen meines Berufes als Logopädin in der neurologischen Frühreha täglich mit Menschen zu tun, denen die Sprache durch Hirnschäden genommen wurde. Und ich bewundere immer wieder auf´s Neue ihre Stärke, ihren Mut, ihre Hoffnung, ihre Zuversicht. Ich sehe aber auch ihre Ohnmacht, ihre Angst, ihre Verzweiflung und ihre Trauer. Besonders die Jenigen die geliebt werden, trotz und mit ihrer Krankheit, die Familie und Freunde haben, die zu ihnen stehen, die sie begleiten, finden leichter den Weg in ein neues Leben. Ihr leistet als Begleitung da Unglaubliches. DU hast Unglaubliches geleistet. Ich weiß wie schwer es ist. Du hast meine tiefe Bewunderung.

Ich habe in einer ganz kurzen Geschichte hier vor einiger Zeit versucht, die Anfangsschwierigkeiten, die ich mit meinem Beruf hatte, aufzuschreiben, wenn es dich interessiert : Anfängerin

Außerdem kann ich allen in diesem Zusammenhang wärmstens ein Buch an Herz legen: Ruth Picardie "Es wird mir fehlen, das Leben". Eine krebskranke Journalistin schreibt sich ihre Angst per Kolumne und E-Mail von der Seele. Nach ihrem Tod hat ihr Mann diese Veröffentlichungen in dem Buch ergreifend zusammengefasst.

Lieben Gruß von
Kadra
 
Liebe Kadra,

ich kann deine Worte nur unterstreichen! Und den Hut zeihen vor Menschen, die Tag für Tag mit schwerkranken Menschen arbeiten!
Wir haben lange kämpfen müssen, dass "mein Kopfmann" überhaupt für 4 Wochen in eine Tagesklinik zur Sprachtherapie aufgenommen wurde.

O-Ton eines Oberarztes: "Ihr Mann nimmt dort schwerverletzten Unfallopfern den Platz weg. Er hat sein Todesurteil doch schon in der Tasche mit nur ein paar Wochen Lebenserwartung.."

Leider konnte ich nicht verhindern, dass mein Kopfmann diese Bemerkung mitbekam... Die Bauchfrau hat sich also selber darum gekümmert, mit der Logopädin, die diese 4 Wochen mit ihm gearbeitet hat, das Programm durchgesprochen und nachher selber erweitert. Mir kam zugute, dass ich als "Paukerin" mit Zusatzausbildung in Sprachheilpädagogik und einem Faible für Sprachen hinterher auch alleine gut zurecht kam. Ich habe noch lange Kontakt mit dieser Logopädin aufrecht erhalten und schätze aus tiefem Herzen deine und ihre Arbeit!!!

Deinen "Anfang" im Beruf habe ich gerade gelesen. Diese kurze Schilderung ist dir sehr eindrücklich gelungen. Solch kleine Szenen und Bilder bringen in ihrer Komprimiertheit eine große Tiefe hervor.

Ich freue mich, mehr von dir zu lesen

Lieber Gruß

Eufemia
 

Brigitte

Mitglied
Hallo Eufemia,
es ist wirklich traurig, wenn man so eine Antwort bekommt, bist du sowieso schon vom Tode gezeichnet, kannst du auch Platz machen für die, denen man noch helfen kann.
Wo bleibt da die Menschlichkeit? Sie verschwindet so langsam aber sicher von der Bildfläche.......

Ich kann deine Geschichte nicht so bald vergessen....

Schönes Wochenende
Brigitte
 
Auch dir ein schönes Wochenende Brigitte.
Ich hoffe, dir geht es inzwischen etwas besser.

Tumore, die Menschlichkeit fressen, in Herzen und auf Seelen sitzen - das ist für mich Tod, viel toter als der Tod in meiner Geschichte.

Inniger Gruß

Eufemia
 



 
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