(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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Selbsterhaltung als Gegensatz zum Sorge tragen.
Moderne: Niemand vollbringt Fürsorge und niemand bedarf ihrer.
Gottesbezug: Gott als fürsorgliche Instanz, die sich des Menschen annimmt, die aufs Miteinander abfärbt.
Spaltung zwischen Selbstbestimmung und Bedarf nach Versorgung.
Frei ist, wer sich von der Familie befreien kann. In der Moderne: der Besitzer (von Kapital). Hat ein Recht auf Privatsphäre; Frauen, Kindern und Sklaven vorenthalten.
Privatsphäre: nicht nur verrichten der "Lebensnotdurft", sondern Raum der Freiheit von Produktionszwängen. Enklave/Schonraum im inneren der Gesellschaft.
Ort der Romantik in der Moderne? Gegenläufig / reaktionär oder fortschrittlich/utopisch?
Tertiarisierung der Gesellschaft.
Fortschreitende Entwicklung der Kommunikationstechnologien zeitgleich zum Aufschwung der Mikrobiologie. Nicht zufällig.
Siegeszug der Dienstleistungen.
Universalsingular "der Mensch" vs. Individuum.
Mensch als Individuum, das von allen äusseren Determinanten befreit ist. Definitorische Eigenschaft: Vernunftbegabung.
Individualisierung der Einzelheit (jedes Atom ist individuell und zugleich ähnlich strukturiert wie alle anderen)
Aufklärerisches Ideal: bei gleichen Entwicklungsbedingungen entwickeln sich alle Individuen in dieselbe Richtung, wenn deren Vernunft sich frei entfalten darf; Freiheit führt zu Gleichheit. Der Einzelne als Wiederholung des Universellen. Individualismus der Universalität.
Dagegen Romantik: Individualismus der Einzigkeit/Singularität; Zulassung der Differenz; Besonderheit des Einzelnen und Pluralität der Individuen. Demokratisierung im 20. Jh.
Kapitalismus als Vehikel zur Einzigkeit.
Rolle des Protestantismus?
Rolle der Blitzmetapher / des Eregnisbegriffs?
Bezug zwischen Protestantismus und Romantik?
Verlebendigung der Ware. Sentimentalität -> Teewerbung: Tee löscht nicht nur Durst, sondern "wärmt die Seele", "belebt den Geist".
Customer Care = Vermenschlichung des Kapitalismus.
Novum: Entstehung einer Care-Industrie bzw. eines Care-Marktes. Betreuung früher, ohne dass Geld involviert war. Care-Arbeit par excellence vom Produktionszwang befreit. Jetzt: Geschäft; Markt übernimmt familiäre Aufgaben. Profitorientierung statt unentgeltlicher Übernahme lebensnotwendiger Aufgaben.
Ver-Care-ung der Privatwirtschaft
Ich-AG als conditio sine qua non für die Wettbewerbsfähigkeit
Kundschaft als Erhöhung des eigenen Marktwertes durch Care-Konsum
 

zeitistsein

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Wir spielten eigentlich nur Fangen.
Ich grölte und du lachtest schallend,
während ich dir
hinterherlief.
Du ranntest durch die
Wiese und blicktest
mit strahlenden Augen
zurück,
um dich zu retten.
Dein Rock verfing sich
gelegentlich
in den Gräsern.
Und ich stolperte
über
meine eigenen Füsse.
Unsere Wangen waren
gerötet;
wir beide,
ausser Atem,
den Regeln
des Spiels
folgend.

Dann deine Zunge.
Wie ein Keil in meinen
Eingeweiden.
Der Blutfluss
stockte,
ich lief
aber weiter;
zu schön
war das Spiel
unter freiem Himmel,
in der Abendsonne,
kurz vor
Abendbrot.

Du strecktest sie mir raus.

Unmöglich,
skandalös,
Beleidigung.
Die Männer urteilten.
Sie verlangten Rache,
machten mein
liebendes Herz
zum Getriebenen,
im Nachhinein,
das dich
bestrafen sollte.

Aus dem Spiel wurde Ernst.
Später Kultur.
Unkultur.
Viele Tote.
Alles Frauen.

Wegen einer Zunge.
Inmitten eines
Kinderspiels.
 

zeitistsein

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Geistesgeschichte als Einbruch der Wirklichkeit - Psychose, Paranoia
Freud: Überwindung einer Negativitätserfahrung durch Einsetzung eines Symbols
Symbol als Verdopplung der Welt
Erkenntnistheorie des Negativen?
Hegel: keine a priorische Denkbestimmung möglich; Denken als evolutionärer Anpassungsprozess; historisch geprägt
Falsche Fragestellung: Gäbe es ohne Bewusstsein eine objektive Welt?
Kant: zielgerichtete Entwicklung des Denkens
 

zeitistsein

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Ich bin ungern gemein. Wenn ich mich irgendwo durchsetze, habe ich anschliessend Schuldgefühle und spüre so eine Art Übelkeit, die recht lange andauert.
Dass das so ist, hat wohl mit meiner Erziehung zu tun.
Als Frau muss man immer nett sein. Lächeln und aushalten.
Als Ausländer darf man sowieso nicht aufmucken, sonst gibt's schwere Konsequenzen.
Irgendwann lernt man, einfach alles über sich ergehen zu lassen. Zu schweigen und alles in sich hineinzufressen. Die anderen sind im Recht, man selber nie.
Inzwischen reicht es mir allmählich. Nett sein ist o.k. Aber wenn andere auf einem herumtrampeln, ist jetzt schneller Schluss mit lustig bei mir. Gut fühle ich mich beim Reklamieren nicht. Das anschliessende Schuldgefühl nagt an mir.
Aber es muss halt sein.
Mir wäre auch eine Welt lieber, in der alle nett zueinander sind. Aber so ist das nunmal nicht. Es gibt den Hinterhalt und die Bosheit. Und denen muss man auch mal einen Schuss vor den Bug setzen.
 

zeitistsein

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Etwas ist anders dieser Tage. Das Denken an bestimmte Leute und das Anschauen deren Fotos lassen mich kalt. Ungläubig denke ich an die Zeit zurück, als ich verzweifelt war und nicht mehr leben wollte. Es kommt mir unwirklich vor. So, als wäre es gar nicht ich gewesen, die so viele Tränen vergossen und am Sinn ihrer Existenz gezweifelt hat. Da ist eine Wende passiert. Unmerklich, in dem Sinne, dass ich sie nicht auf den Tag und die Minute genau datieren könnte, aber dennoch spürbar in ihren Folgen.
Selbst in den Stunden tiefster Verzweiflung gab es einen Hauch von Wärme und Liebe, der jetzt freilich auch verflogen ist. Diese Ausgeglichenheit hat etwas Steriles. Manchmal wünsche ich mir die Wärme zurück und damit auch die Verzweiflung, aus Angst, gar nichts mehr spüren zu können.
 

zeitistsein

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hallo zeitistsein, in aller Kürze -



Selbsterhaltung ist zu sich Sorge tragen / für sich zu sorgen (gib d'r sorg= mundart)

der Gegensatz dazu ist m.E. die Sorgen der anderen tragen

LG wirena

Vielen Dank, wirena.
Das war nur eine Notiz aus einem Vortrag von Cornelia Klinger, wo sie diesem Gegensatz auf den Grund geht.
Viele Grüsse
ZiS
 

zeitistsein

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Gestern Abend haben wir's geschafft. Wir sind endlich wieder mal zum Meer hinunterspaziert. Ganz langsam. Für den Rückweg haben wir den Bus genommen, obwohl Mutter bereit war, die steile Strasse zu Fuss zu besteigen. Zu viel des Guten für ihr geschwächtes Herz.
Aber das Hinunterlaufen zum Strand war gut und auch heilsam von der Länge her.
Einmal unten angelangt, sind die Strassen eben und breit. Man kann die Promenade entlang spazieren und sich auf einen Felsvorsprung setzen. Dort wurden Bänke gerichtet, sodass man sich vom Wellenschlag einlullen und in den weiten Horizont hinausschauen kann.
Wir haben uns eine Weile hingesetzt und dem Meeresrauschen gelauscht.
Mutter war so voller Tatendrang, dass sie gleich wieder los wollte. Sie bekam Angst, dass da gleich ein Tsunami entstehen und wir von den hohen Wellen mitgerissen werden würden.
Ich versuchte, sie zu beruhigen und verwies auf die tobenden Teenager, die sich im Sand versammelt hatten. In weiter Ferne waren zwei Segelboote am Horizont zu sehen. Die Abendsonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und tauchte die Statt in ein silbernes Licht. Es war wunderschön.
Aber Mutter schien davon nichts mitzukriegen. Sie war ganz in ihren Ängsten gefangen. Auch den vorbei schlendernden Passanten traute sie nicht ganz. Was, wenn die uns ausraubten? Hier an der Küste wären wir denen doch ganz ausgeliefert! Und da vorne war eine alte Frau mit dem Rollator. Wie die sich nur traute, ganz allein an diesen Ort zu kommen?
Ich griff Mutter also sanft unter die Arme und sagte: "Komm, Mutter. Es ist spät geworden. Am besten wir gehen nach Hause. O.k.?" Sie stand blitzschnell auf, so als wollte sie mir davonrennen.
Wir überquerten die Strasse und gingen zur Bushaltestelle, nahmen den Bus und fuhren die steile Strasse hoch zu unserem Quartier.
Bei der Kirche stiegen wir aus. Ich fragte Mutter, ob sie sich hineinsetzen wolle. Wir könnten eine Kerze anzünden und dem Rosenkranzgebet lauschen.
Sie winkte ab. Der Klerus nimmt die Armen schon genug aus; denen muss man das Geld nicht auch noch hinterherwerfen.
Als wir heimkamen, war es fast acht Uhr abends, noch bei Tageslicht und ausgeschaltener Strassenbeleuchtung.
In der Wohnung schenkte ich uns Wasser ein. Mutter wollte nicht trinken. Ich hielt ihr das Glas sanft an die Lippen. Sie trank das grosse Glas fast in einem Zug aus, da sie fast zweieinhalb Stunden nichts getrunken hatte.
Ob sie noch mehr wolle? - Nein, meinte sie. Jetzt ist gut.
Ich öffnete den Küchenschrank und bemerkte, dass wir nicht genügend Mehl hatten. Morgen musste das Brot gebacken werden.
Ich fragte Mutter, ob sie noch kurz in den Supermarkt mitkommen wolle, Mehl holen.
Klar, meinte sie.
Und so machten wir uns wieder auf, holten das Mehl und kauften noch etwas Obst und Gemüse.
Alles noch bei hellem Tageslicht.
Beim Hinausgehen aus dem Supermarkt war es stockdunkel geworden.
Nur die Ampellichter leuchteten grün und rot.
Autoscheinwerfer blendeten uns beim Überqueren.
 

zeitistsein

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momentaufnahme

sich an den Problemen festhalten
Schmerz und Leid aufrechterhalten
gegenwärtig,
die Illusion von Zeit

den Irrglauben an die Zeit
benutzen,
um zu funktionieren

Laberschäden
überstehen

ein Gedicht
als Vernissage
des Alphabets
am Rande des Verstummens,
das benennt
die Welt,
während sie
noch
da
ist

lesend
die verderbliche Ware
Leben
weise vergeuden
im schmalen Grat
des Jetzt

wissend,
dass es ins Auge geht
 

zeitistsein

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Wenn ich Gedichte schreibe, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schriebe nicht ich, sondern die Sprache selber. Ich tue so, als wäre es möglich, als Person ein wenig zurückzutreten und die Sprache sozusagen von außen zu überwachen, so als hätte ich sie selber nie benutzt. Ich tue also so, als hätten die Sprache und die Welt ihre eigenen Verbindungen. Als hätten die Wörter, um mich herum, direkte Berührung mit den Phänomenen, auf die sie verweisen. So daß es der Welt möglich wird, Sinn in sich selbst zu finden. Einen Sinn, der vorher schon da ist. Dabei tue ich nur so, als ob. Ich spüre aber auch, daß ich das tun muß. Ich muß in der Welt Sinn finden, nicht, weil ich das beschließe, vielleicht nicht einmal, weil ich das wünsche, sondern weil ich als ein Eingeborener - auf dieselbe Weise, wie ein Baum eingeboren ist -, ja wirklich als ein eingewachsener Teil der Welt nicht umhinkann, Sinn zu schaffen, den Sinn, der vorher schon da ist und der unaufhaltsam seine eigene Verwandlung verwaltet, als das, was wir unter Überleben verstehen. Ich kann es auch anders sagen. Was ich hier erzähle, unterscheidet sich im Prinzip nicht von der Art der Bäume, Blätter zu treiben. Die sich selbst produzierenden, sich selbst regulierenden Systeme der Biologie sind im Grunde von derselben Art, ob sie nun Bäume genannt werden oder Menschen.

[…]

Aus: Christensen, Inger (1999): Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod
 

zeitistsein

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Während Hilde sich den steilen Pfad hochschleppt, die Hände haben je einen Holzstock als Stütze fest im Griff, neigt sich der Tag dem Ende zu. Die Abendsonne taucht die Landschaft in ein warmes, goldenes Licht, das die Schatten der Bäume verlängert. Hildes Beine schmerzen bei jedem Schritt, und sie läuft vornüber gebeugt, um sich besser abstützen zu können.

Dieser Tag, der wieder alles umspannt hatte, von der frühesten Erfahrung des allerersten Ahnen bis hin zum rosa Hoodie, den die verhasste Sandra auf dem verrosteten Eingangstor vergessen hatte, endet warm und friedlich.

Hilde überlegt, was es bedeutet hätte, wenn sie, als sie in Sandras Alter war, ein Kleidungsstück irgendwo auf dem Feld vergessen hätte. Das wäre gar nicht infrage gekommen. Denn sie hatte nur dieses eine Kleidungsstück. Es musste sorgfältig behandelt werden, so sorgfältig wie es eben ging inmitten des Gestrüpps und der unwirtlichen Wetterverhältnisse.

Aber heutzutage, denkt sich Hilde, lassen sich die jungen Leute ihre Kleider aus China bis hierhin, wo Fuchs und Hase einander gute Nacht sagen, anliefern. Zwei bis dreimal pro Woche kam ein Lieferwagen den engen, holprigen Pfad hinaufgebrummt, um eine rechteckige Schachtel abzugeben. Für Sandra natürlich. Vielleicht ein paar Turnschuhe. Oder Unterwäsche. Dinge, die man ganz einfach im angrenzenden Dorf einkaufen konnte, wenn's denn nötig war. Die Landfrauen trugen früher sowieso keine Unterwäsche. Man spreizte mitten im Feld einfach irgendwo die Beine und gut war's.

Hilde überlegt, wo China genau liegt. Den Fernsehnachrichten hatte sie entnommen, dass das ganz weit weg sein müsse. Weil die Leute dort so anders aussehen und auch ganz anders sprechen als hier. Ausserdem schien die rote Linie, die der Nachrichtensprecher auf der Weltkarte von hier bis dort mit dem Zeigefinger auf dem Bildschirm nachzog, ziemlich lang.
Und sie stellt sich vor, wie die teuer erworbene und kaum getragene Kleidung wieder dorthin verfrachtet wird, irgendwohin auf einem leerstehenden Gelände. Wie im Mittelalter, als man den Hausmüll einfach auf die Strassen herunterwarf. Das hatte ihr die Enkelin erzählt, als sie vom Geschichtsunterricht kam. Nur, dass die Strassen, auf die unser Müll jetzt fiel, ausser Sichtweite waren. Es ist nicht mehr unser Problem, obwohl Leute wie diese Sandra es mit ihrem Kaufverhalten verursachen.

Wegen Sandras Bestellsucht hatte es daheim am Küchentisch schon Streit gegeben. David, Hildes Enkel und Sandras Freund, hatte Unverständnis für diese viele Bestellerei geäussert. "Sollen wir uns etwa einen zweiten Kleiderschrank anschaffen, nur damit du deine Siebensachen unterkriegen kannst?" hatte er mit seiner leisen Stimme gefragt? Daraufhin war Sandra schmollend vom Tisch aufgestanden und hatte sich im Schlafzimmer eingeschlossen.

Hilde kämpft nicht nur gegen die Hüftschmerzen, während sie aufstieg, sondern auch gegen das Gefühl der Hilflosigkeit, während sie den vernachlässigten Hoodie betrachtete und sich Sandras Schmollgesicht vor Augen führte. Sie konnte den Enkel nicht davon abhalten, mit dieser hysterischen, ungezogenen Grossstadtgöre in das heruntergekommene Haus zu ziehen. Er war ein so guter Junge. Fleissig, zuverlässig, wohlerzogen. Ein Prachtjunge, der dabei war, sein junges Leben gegen die Wand zu fahren.
 
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zeitistsein

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Gewissheit

Habe ich deine Liebe verloren,
weil ich sie
zurückwies?

Sie trat verkleidet
in Erscheinung,
als Missgunst
und
hämisches Lachen
dort,
wo Güte
und Freude
von
deinem
Angesicht
erstrahlten.

Ich wies sie zurück,
weil sie mich
verbrannte,
so ganz
ohne Sonnenschutz
badete ich
in deinem
Lichtmeer
und wollte
schwimmen.

Doch ich ging unter,
schmerzenden
Rückens,
ob meiner
Brandblasen.

Noch heute liegt
ein dünner Film
deiner Liebe
auf mir,
sickert
langsam
ein -
die Haut
trinkt deine Liebe
schlückenweise,
um nicht
zu ersticken.

Längst bist du
über alle Berge.
Deine Liebe bleibt,
verloren gleichwohl,
doch
bei mir.
 

zeitistsein

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Zu Allerseelen

Während ich sitze,
schiele ich
in Sekundenschnelle
zur Seite,
die Hände
am Lenkrad.

Jovialer Stimme,
augenzwinkernd,
als würdest
du
dir
eines gelungenen
Händewerks
gewahr,
murmelst du
„Sehr gut“.

Deine Mundwinkel
zeigen nach oben.

Dein Küchenstuhl
ist leer
und doch
spüre ich
deine
Umrisse
und dein
Innenleben.

In diese
leer-
übervolle
Gestalt
stellt Mutter
nichtsahnend
Einkauf
und Ramsch
gleichermassen.

Abgestützt,
das Kinn,
auf die linke
Hand.
Deine Wärme
nimmt mich ein.

Nicht für Mutter.
Sie hantiert
mit dem leeren
Küchenstuhl,
ein
leblos
Stück Holz
offenbar.

Derweil du,
von der Sitzfläche
zu mir herüber,
augenzwinkernd:
„Abbremsen nach der Ausfahrt.
Da gibt’s Radare.“

Du liebtest mich immer.
Du bist mein Vater.
 
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zeitistsein

Mitglied
In dir erblicke ich
das All,
den Erdball
mitsamt
Planeten
und die Sonne
in deren Mitte.

Sonnenstrahlen
sind
deine Augenfalten
und
Grübchen.
Oder Wellenspuren,
im Sand,
bei Ebbe.

Die Gezeiten
passieren
auf deiner Haut;
dein Augenlicht:
eine Flaschenpost,
angeschwemmt
von anderswo.
 

zeitistsein

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An den alten Nussbaum

Vom Sturm entwurzelt,
warfst du
deine Krone ab,
wie ein Papst,
der
das Zepter
übergibt.

Päpstin bist du,
in deiner Sprache,
die Wirbelsäule schief.
Als wollest du Platz machen,
krümmtest du dich
zur Seite
und nach unten,
wie in dem blauen Gemälde
mit dem Suppenmahl -
ausgestreckte Kinderarme
wollen es
empfangen.

Die Krone liegt jetzt brach.
Gleich starrgewordener
Bodenflammen
ragen
die Äste
vom
Gras
in die Luft.

Nebelschwaden, dichte,
in der Früh'
dünken einen
deine
Seele.

Um den entwurzelten Stamm
sammeln sich
Brennnesseln
und
stacheliges
Gestrüpp,
Dornenkrone
und Lorbeerkranz
zugleich.
 
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zeitistsein

Mitglied
An einen König

Einst gefeiert,
adrett
in deinem
Anzug,

macht dieser
jetzt
einen Bogen
um dich,

wie ein Spielreif
um den Körper
eines Kindes.

Längst bist du
nackt
für dein Volk
ohnehin.

Und schmal geworden,
ohne Hinweis
auf den Fluss
von
Milch und Honig.

Zu schmal für deine Paläste,
während
die Leute
ertrinken.
Keinen hast du aufgenommen.
 

zeitistsein

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'
Der Winter ist mit voller Wucht eingebrochen. Nicht Hut für die Straßenarbeiten, die vor unserem Haus im Gange and die Straßenarbeiter the mit leid. Bei wind und Regen schuften sie ewig, um die Straße in vier Monaten fertig zu kriegen. 147 000 Euro hat die Staat für den Straßenbau locker gemacht. Eine bescheidene Summe. Seit vierzig Jahren warten die Anwohner auf die Maßnahme. Jetzt traut sich keiner aufzumucken.

Derweil geht es mit der Dämmung unseres Gebäudes schleppend voran.

Zu viele alte Reibereien kommen noch; man einigt sich einfach nicht auf das, was jetzt passieren soll.

Mutter ist keine grosse Hilfe in dieser zeit. Sie heizt die Konflikte an und meint, man würde wegen meiner Schlichtungsbemühungen nur über mich lachen. Ich denke, ich kann aus dieser Situation Standhaftigkeit lernen. Weder auf Mutter noch auf sonst jemanden hören, sondern einfach für das einstehen, was richtig ist.
 

zeitistsein

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Der Winter ist mit voller Wucht eingebrochen. Nicht gut für die Straßenarbeiten, die vor unserem Haus im Gange und die Straßenarbeiter tun mir leid. Bei Wind und Regen schuften sie ewig, um die Straße in vier Monaten fertig zu kriegen. 147 000 Euro hat die Staat für den Straßenbau locker gemacht. Eine bescheidene Summe. Seit vierzig Jahren warten die Anwohner auf die Maßnahme. Jetzt traut sich keiner aufzumucken.

Derweil geht es mit der Dämmung unseres Gebäudes schleppend voran.

Zu viele alte Reibereien kommen noch; man einigt sich einfach nicht auf das, was jetzt passieren soll.

Mutter ist keine grosse Hilfe in dieser Zeit. Sie heizt die Konflikte an und meint, man würde wegen meiner Schlichtungsbemühungen nur über mich lachen. Ich denke, ich kann aus dieser Situation Standhaftigkeit lernen. Weder auf Mutter noch auf sonst jemanden hören, sondern einfach für das einstehen, was richtig ist. Ich glaube, das wäre Intelligenz.

Gemeinhin setzt man Intelligenz mit Faktenwissen gleich. Wer viel weiss und auch studiert hat, den bewundert man für seine Intelligenz. Aber eigentlich hat Dietrich Bonhoeffer die beste Begriffsdefinition geliefert, indem er Intelligenz als soziales statt als psychologisches Phänomen beschrieben hat. Die erlauchtesten Koryphäen sind zu Dummheiten fähig, wenn sie sich nur in der dafür richtigen Gesellschaft befinden. Der Gruppendruck, die Angst vor der Blamage, vor dem aus-dem-Rahmen-Fallen, das mithalten und um keinen Preis anders sein Wollen machen das Individuum das vergessen, was es soll und nicht soll, ungeachtet jeglichen Faktenwissens.

Man ist immer gut beraten, sich Bonhoeffer in Erinnerung zu rufen.

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