(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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Die Wand anschreien - das soll Angela Merkel, die Besonnene, Ausgeglichene, der man das so nicht zugetraut hätte, im Kanzleramt hinter verschlossenen Türen gemacht haben. Besser die Wand, als die Bevölkerung, soll ihre Überlegung gewesen sein.

Ich hätte auch gern eine Wand, die mich wortlos versteht. Bei der das Verstehen gar nicht vorrangig ist. Sondern eher das stumme, teilnahmslose Dasein.

In der Wut gibt es kein intellektuelles Räsonieren. Eine Grenze wurde überschritten und man sagt stopp.
Die Wut ist selbsterklärend, sogar für eine Wand.
 

zeitistsein

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Die NZZ ist voll im Kriegstreibermodus. Der Ukrainekrieg spielt der EU-kritischen Schweiz natürlich in die Hände. Man schlägt journalistisch auf den Putz. Die ganzen diplomatischen Pannen sind ein gefundenes Fressen und eine willkommene Spielwiese für nach Polemik dürstende Redakteure.

So würdigte neulich ein Andreas irgendwas die Tatsache, dass der europäische Kohäsionsfonds, der ja eigentlich unter anderem zur Förderung von Umweltprojekten gedacht war, jetzt in den Dienst der Kriegsführung gestellt werde. Ein "brillanter Schachzug" sei das. Denn die EU, so heisst es weiter, sollte schleunigst eine eigene Armee errichten. Zwecks vermehrter Autonomie und Souveränität gegenüber den USA.

Diese hau ruck-Mentalität beim Draufhauen auf andere ist neu. Der erhobene Zeigefinger in Bezug auf die EU etwas weniger. Früher war diese ein ökonomischer Tollpatsch, jetzt gilt sie als verschupftes Kind auf dem internationalen Parkett. Das sind Töne, die man so aus Helvetien nicht kennt.

Als ob die Schweiz ihre Souveränität der Armee verdanke.

Die neutrale Schweiz. Wo ist sie geblieben?
 

zeitistsein

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Ich will am liebsten weglaufen. Für immer untertauchen. Unauffindbar sein. Was hält mich nur zurück? Der Blick zurück auf ein Scherbenhaufen von Leben. Der Sitz in der Falle. Mit voller Wucht schnappte sie zu. Wie konnte es so weit kommen?


Ein Herz voll Leben wandelte sich zu einer Ameise, die nichts als Eingänge findet.
 

zeitistsein

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Wem soll ich sagen...?

Der Baum trägt einen roten Schleier.
Er trauert um etwas, was er erfuhr.
Die Krone ist ganz voll davon.
Kann nicht Krone sein
Noch Blätter tragen.
Gent ganz auf und zugrunde
In der Dunkelheit,
Der inneren.

Verstehst du mich?
Wem soll ich die Not des Baumes anvertrauen?
Wer sieht die Dunkelheit,
Wer den Baum,
Wer die Blätter,
Wer den roten Schleier?
 

zeitistsein

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In den frühen Morgenstunden
steigt
ein Ast voller Blüten
und Lorbeerkränzen
mitten
in der Düsterkeit des Bettes
auf.
Breitet seine Arme aus.
Ein Vorschlag.
Das könnte sie sein,
zu Lorbeer werden,
die Rettung.
 

zeitistsein

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Dein Schweigen

ist nicht heilsam.
Es sticht
und schlägt.
Es peinigt
alles Unschuldige,
das bloss
fragte.
Und wissen wollte.

Nichts kam von dir.
Schmerzhafte Leere.
Das Nichts,
bedrohlich,
ein schwarzer
Schlund.
Weit,
gleich-gültig,
blind.
 

zeitistsein

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Abschied

Das Weinen der Schulter:
ein pochender Schmerz,
tief links,
manchmal gen
Rückenmitte.

Ade, sagt die Schulter.
Lakonisch,
lehnt locker an der Sessellehne:
"Die Mutter wird flügge."

Im Magenbereich,
ein Ziehen
und Stechen:
Das Aufbegehren der Eingeweide
gegen das
sich
ankündigende
Ende.

Nicht gehen!, rufen sie
durcheinander.
Du gingst leer aus
ohne Kind.
Trugst weder eins ein
noch
aus.

Der Vorhang fällt,
spricht
der Uterus,
die kapriziöse Diva
mit aufgespritztem
Mund.

Leuchtendes Beispiel
bin ich euch
für sich erfüllendes Dasein.

Wegweisend
in den Ruhestand
zwischen Sehnen
und Adern.

Still
bleibe ich
unter euch -
im Schaukelstuhl der Hitze
und der Todesangst.

Alles bejahend.
 
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zeitistsein

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Du bist immer da

grinst,
wechselst die Strassenseite,
wenn kein Bock darauf,
mich auszulachen,
geringzuschätzen oder
zu demütigen.

Morgens bis abends,
bist du immer da.

Bei Tisch und am Fusse meines Bettes.
Willst mich wach halten.
Hältst mir das Lampenlicht
direkt
ins Gesicht.
Pausenlos.
 

zeitistsein

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Ja sagen

zum Erahnen,
des runden Esstisches,
im noch
ungehobelten
Baumstamm.

zu seinem ahnungslosen
Ausharren
in der Ecke,
aus der ich ihn holte,
zu mir heim,
über die Strasse,
dann über die Grenze.

Ja zu allem.

Zur Einübung des Verlassens
im Verlassenwerden.
Erkunden aller Geschmacksnoten
des Gefühlsbouquets.

Ja sagen

als Pyramidenglas
über die Welt.
Es bricht das Licht zum Regenbogen.
Der Mensch bricht auf,
es zu zersplittern
mit seinem
Nein.
 

zeitistsein

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Heute Abend war es angenehm warm für eine Winternacht. 12 Grad und windstill. Vor dem Abendbrot konnte ich Mutter nochmal dazu bewegen, in die Winterjacke zu schlüpfen und mit mir noch eine Runde um den Block zu gehen. Das tut ihr gut.
Viele andere hatten offenbar denselben Gedanken, denn die Strassen waren voller Flaneure, manche in Schale geworfen, obwohl sie sich nur ins nächste Café setzen wollten. Aber es ist Samstagabend. Die Kleidung sollte das zum Ausdruck bringen.
Mutter und ich wundern uns, wie so viele Cafés auf engem Raum gleichzeitig überleben können. Alle sind voll, egal zu welcher Tageszeit. Die Leute verbringen ihr Leben draussen, statt in ihren vier Wänden.
Nach einer Stunde Abendspaziergang kehren wir heim, drinnen ist es feuchter und kälter als draussen. Und stiller.
Dann schlägt die Einsamkeit zu.
Mutter greift zum Handy und schreibt Leute an, die sie nicht anschreiben sollte, weil der Kontakt einfach toxisch ist. Da sind zu viele Altlasten. Aber Mutter besteht darauf, Altes aufzuwärmen. Entsprechend wird sie verletzt. Immer und immer wieder. Sie vergräbt sich im selbstgemachten Teufelskreis.
Es ist viel Zeit vergangen, meint sie, ohne zu merken, dass die Leute dieselben geblieben sind. Der Kontakt ist eingefahren. Ihn in neue Bahnen zu lenken - unmöglich. Aber Mutter versucht sich gerne am Unmöglichen. Die Naturgesetze herauszufordern war schon immer ihr Ding. Den Tod empfindet sie als Skandal und sie protestiert dagegen. Gäbe es eine Demo gegen den Tod - meine Mutter wäre die Anführerin. Sie kämpft noch heute für seine Abschaffung. Vergeblich.
Der erste Schlag ins Gesicht gleich zu Beginn. Die Frau, die sie angerufen hatte, wäre nur deshalb rangegangen, weil sie dachte, ich wäre dran. Mutter spricht jetzt von nichts anderem mehr. Ich glaube, ihr Schmerz ist in dem Moment so gross, dass sie sich den Tod wünscht. Auch das, ihr Handringen mit ihm. Du kannst mir nichts anhaben, Tod. Wie tief meine Verletzungen auch sein mögen, ich biete dir die Stirn. Warte nur, schweigt der Tod zurück, eines Tages werde ich zuschlagen. Wenn du es am wenigsten erwartest.
 

zeitistsein

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Seitdem ich weiss,
dass du sterben wirst,
laufen die Tränen,
jahrzehntelang,
suche ich nach Ersatz,
vergeblich,
klammere mich an jeden,
verzweifelt,
frage warum,
orientierungslos,
beschwöre Streit herauf,
um die Trennung zu erleichtern,
sterbe mit,
schon seit Jahren,
bis du dann gehst
und ich mit dir
vergehe.
 

zeitistsein

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Ein einfaches "Ich liebe dich" über die Lippen zu bringen, kann Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Währenddessen, wenn der Ausspruch dieser drei an sich harmlosen Worte unausweichlich ist, ereignen sich Kriege, Gewalt und allerlei Zwiste.
Bis der Satz geäussert ist. Dann glätten sich auf wundersame Weise die Wogen.
So hängen die Dinge zusammen.
Der Flügelschlag eines Schmetterlings vermag, einen Tornado auszulösen.
Das Abstauben eines Möbelstücks, ein Menschenleben zu retten, in einem fernen Kontinent.
 

zeitistsein

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Die vom sechsten Stock ziehen weg. Das erzählte mir gestern R., als ich sie zufällig beim Einkaufen traf. Überrascht fragte ich wieso. Schliesslich waren die erst gerade eingezogen und hatten die Wohnung totalrenoviert. R. schnaubte verächtlich. Der Frau hat es zu viele Einwanderer im Quartier, winkte sie ab. Wir sind ihr wohl nicht gut genug.
Ich lächelte. R. war mir sympathisch, weil sie sich nicht als grundlegend anders sah als ihre Mitmenschen. Ja, sie war auch mal ausgewandert und kennt das Gefühl, nackt und mittellos in fremder Umgebung bestehen zu müssen. Später eröffnete sie mit ihrem Mann eine kleine Bar in der alten Heimat. Die Einkünfte und das im Ausland Angesparte mussten reichen, um zwei Kinder grosszuziehen.
Ich musste hungern und schäme mich nicht dafür, erinnert sie sich mit fester Stimme. Sie, die einst Hungernde, hatte im Laufe der Jahre Hunderten, ja, vielleicht Tausenden zu essen gemacht. Die Arbeit hatte ihr ihre Herkunft vor Augen gehalten. Und den Sinn, anderen das gleiche Schicksal zu ersparen.
Die vom sechsten Stock aber wollten fliehen. Sie wollten was Besseres. Anscheinend.
In der Nähe entsteht demnächst ein Neubau. Eine elfstöckige Wohnanlage mit eigenem Schwimmbecken, umgeben von viel Grün. Elf Stockwerke und mehrere Wohnblocks. Pro Stockwerk vier Wohnungen. Autostellplatz und Estrich im Kaufpreis inbegriffen.
Ich frage Mutter, ob das was wäre. Etwas mehr Grün. Nicht ganz so im Getümmel des Alltagsverkehrs, wie jetzt.
Mutter schüttelt eindringlich den Kopf. Auf keinen Fall will sie an einem derart unübersichtlichen Ort wohnen, wo man die Nachbarn gar nicht alle kennen kann. Sie möchte wissen, mit wem sie es zu tun hat.
Spätestens als wir uns die Preisliste angucken, ist der Fall für uns beide erledigt. Auch die Grundrisspläne überzeugen uns nicht. Dann lieber bleiben, wo wir sind.
Wir alle, auch R., wollen hier raus. Aber wohin?
Vielleicht einen Camper kaufen, meint R. Dann sei man wenigstens mobil. Ganz ernst meint sie das nicht.
Auch ich habe schon mit dem Gedanken gespielt und ich bin sicher, Mutter auch.
 

zeitistsein

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Nach der fürchterlichen Tat in Magdeburg sprechen alle nur noch über politische Massnahmen und zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen an Weihnachtsmärkten.
Mich aber beschäftigt die Rache, die sich in den Betroffenen und Hinterbliebenen anstauen könnte. Man tut ja geradezu so, als wäre der Böse jetzt stillgelegt und alles wieder im Lot, von der Bewältigungsarbeit abgesehen. Aber das ist es natürlich nicht.
Ich frage mich, wie die Familien jetzt mit ihren Verlusten umgehen. Und diejenigen, die lebenslange Schäden davontragen. Was werden sie tun, wenn die Verzweiflung und die Wut über ihr unverschuldetes Schicksal sie heimsucht? Werden sie dann auch zur Waffe greifen und ein Massaker anrichten? Werden sie auch Unschuldige mit in den Tod reissen?
Die Katastrophe hat erst gerade ihren Lauf genommen und wird so schnell nicht gestoppt werden können.
 

zeitistsein

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Dem Wald wohnt ein besonderer Zauber inne. Die Baumkleider, die Luft, die zwitschernden Vögel, das raschelnde Laub und die kraftvolle Stille.
Entlang der Pfade kommt es einem vor, als ob die Bäume in einen hineinschauen würden. Man fühlt sich gesehen.
Und jetzt verstehe ich die Worte der Herta Müller besser: "Weil ich das Wort einsam nicht kannte, kannte das Wort mich auch nicht. Ich wurde nicht zu dem, was das Wort bedeutet. Es schaute mir nicht in den Kopf, wollte gar nicht wissen, was ich tu und wie ich dabei bin."
Der Wald aber schaut uns in den Kopf und will wissen, was wir tun und wir wir dabei sind.
 

zeitistsein

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Weil Jesus für unsere Schrecklichkeiten, für die vergangenen, die zukünftigen und die unverwirklicht gebliebenen bereits bezahlt hat, bräuchte es eigentlich keine Selbstgerechtigkeit mehr. Doch weil die Menschen das wissen, aber nicht daran glauben, haben wir immer denselben Salat. Lug und Trug, Rache und Gewalt. Der Kreislauf ist schwer zu durchbrechen, es sei denn mit einem Bezug auf das obere Leitende.
Thomas Mann hat es nicht näher definiert, Jaspers ebensowenig. Aber ich vermute, der Literat und der Philosoph meinten dasselbe.
 

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Nachdem ich die Liebeserklärung abgeschickt habe, ist Ruhe eingekehrt. Auch in meinem Inneren. Sie blieb unbeantwortet. Anders hatte ich es nicht erwartet. Deshalb hatte ich mich auch so lange dagegen gesträubt.
Doch das Leben prügelte sie aus mir heraus. Die Worte "Ich werde dich bis ans Ende meiner Tage lieben" mussten gesagt sein. Und so geht mir seitdem meine damalige Therapeutin nicht aus dem Kopf, deren Bemerkung "Eine Geschichte muss so lange erzählt werden, bis sie erzählt ist" rückblickend fast schon eine prophetische Bedeutung zukommt.
Das gesamte Dasein, so Spaemann damals, weist, dem Ei und dem Huhn gleich, auf eine einzutretende Vollendung voraus. Daher das Futur Perfekt: Du wirst deine Liebe erklärt haben. Es gibt kein Entkommen.
 

zeitistsein

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Sprache als Material

Immer wieder begegne ich dem Vorurteil, dass Schreibende vorwiegend der Therapie bedürfen und in Ermangelung eines dafür kompetenten Gegenübers das Unterfangen schreibend selbst in die Hand nehmen.

In meinem Fall ist das nicht so. Ich habe Worte in mir, die zueinander streben oder sich voneinander wegbewegen. Worte, die ihren Platz suchen, sich eventuell zu einer Geschichte fügen und auch mal abhanden kommen.

Neulich erfuhr ich von der Existenz eines Goldschmieds im Geburtsort meiner Oma. Davon hatte ich vorher noch nie gehört. Der Ort war mir immer nur als Stätte endloser Nachbarsstreitigkeiten beschrieben geworden, ich selbst hatte ja nie dort gelebt. Jetzt geistert das Bild eines goldenen Rings in meinem Bewusstsein herum. Ich stelle mir den Goldschmied auf eine bestimmte Weise vor und ringe nach Worten, um meine Vorstellung zu beschreiben.

Mir gegenüber steht ein Bücherregal, von dem aus ein knallblau eingebundener Buchrücken mich mit den Worten "Deutsche Dichtung" anspricht. Das und der nie gekannte Goldschmied stehen jetzt nebeneinander in meinem Inneren.

Vielleicht entsteht daraus eine Geschichte. Vielleicht auch nicht. Das entscheide nicht ich, das entscheiden die Worte.
 

zeitistsein

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Stichworte zu: Weller, Francis (2015): The Wild Edge of Sorrow.

"Warum sind Sie so glücklich?", fragt der Westler eine Afrikanerin, "weil ich so viel weine", antwortet diese. Eine zutiefst unamerikanische Antwort, wie der Frager feststellt, die jeden von uns zum Nachdenken bringen sollte.
Der Frager, das ist Francis Weller, US-amerikanischer Psychotherapeut und Autor einiger Bücher über Trauer, dabei stark von C.G. Jung beeinflusst.
Tatsächlich scheint das Thema Trauer noch nicht ganz in der leistungsorientierten Gesellschaft angekommen zu sein, es sei denn als Problem, das dem Höher-Weiter-Schneller hinderlich ist und daher schleunigst aus dem Weg geräumt werden muss, im Zweifel mit Chemie.
Treten wir etwas langsamer und lassen wir uns auf das ein, was Seele, Herz oder Erinnerung mitzuteilen haben, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als im Hier und Jetzt zu sein. Zuhören braucht Anwesenheit und Stille. Wer flieht, hat per definitionem beides nicht.
Ein Buchkapitel ist daher der Stille und dem Alleinsein gewidmet als zweier Gegebenheiten, die die Selbstbegegnung ermöglichen. Beim Lesen kommt die Frage auf, ob die grassierende Einsamkeit unserer Tage, unter der so viele Menschen leiden, nicht von der Tatsache herrühren könnte, dass wir als Kinder dieser Leistungsgesellschaft noch in unseren vier Wänden vor uns selbst fliehen wollen und dabei keinen Ausweg finden.
In der Stille kommt alles hoch: die Verletzungen, das Versagen, die Wut, die Schuld, die Anklage derer, die a) nicht anwesend sind, b) meine Trauer gar nicht interessiert und c) unter Umständen gar nichts für meine Gefühle können. Was also soll ich mit meiner Verzweiflung? Wo deponiere ich sie, wenn sie mit voller Wucht zuschlägt und der Sprung vom Balkon der einzige Fluchtweg erscheint, um sie endlich zum Schweigen zu bringen? Ferner: Was, wenn ich auf der Suche nach Hilfe meinen Zustand verschlimmbessere? Gut gemeinte Ratschläge bewirken oft das Gegenteil.
Weller zeigt in seinem Buch Wege der Selbstverdoppelung auf, ganz nach Jungschem Vorbild. Das verletzte Kind in uns will gesehen werden. Jeder von uns kann das Alleinsein dazu nutzen, um bewusst in die Stille zu gehen. Darin kann der leidende Seelenanteil zu Wort kommen, in Form von Tränen zum Beispiel, die ich, wenn der "Sturm" vorbei ist, zur Kenntnis nehme und weder verurteile noch überhöhe. Ich lasse alles so stehen, wie es nunmal war.
Unser verletztes Ich, so Weller, hat sich Überlebensstrategien zurechtgelegt, die zu Stolpersteinen werden können. Dazu gehört die Kontrolle und die damit einhergehende Verdrängung. Jung verglich diesen Mechanismus seinerzeit mit dem Eisernen Vorhang. Da sind Dinge, die wir nicht haben wollen, aber die dennoch zu uns gehören. Die Freiheit, die man sich von der Verdrängung verspreche, bleibe daher aus. Freiheit bedarf zunächst der Versöhnung mit dem, was der Fall ist.
Wellers Buch nimmt, wie auch Jung das schon getan hatte, jeden Einzelnen in die Pflicht. Versöhnungsarbeit muss jeder selbst leisten. Delegieren unmöglich.
 



 
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