Stichworte zu: Weller, Francis (2015): The Wild Edge of Sorrow.
"Warum sind Sie so glücklich?", fragt der Westler eine Afrikanerin, "weil ich so viel weine", antwortet diese. Eine zutiefst unamerikanische Antwort, wie der Frager feststellt, die jeden von uns zum Nachdenken bringen sollte.
Der Frager, das ist Francis Weller, US-amerikanischer Psychotherapeut und Autor einiger Bücher über Trauer, dabei stark von C.G. Jung beeinflusst.
Tatsächlich scheint das Thema Trauer noch nicht ganz in der leistungsorientierten Gesellschaft angekommen zu sein, es sei denn als Problem, das dem Höher-Weiter-Schneller hinderlich ist und daher schleunigst aus dem Weg geräumt werden muss, im Zweifel mit Chemie.
Treten wir etwas langsamer und lassen wir uns auf das ein, was Seele, Herz oder Erinnerung mitzuteilen haben, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als im Hier und Jetzt zu sein. Zuhören braucht Anwesenheit und Stille. Wer flieht, hat per definitionem beides nicht.
Ein Buchkapitel ist daher der Stille und dem Alleinsein gewidmet als zweier Gegebenheiten, die die Selbstbegegnung ermöglichen. Beim Lesen kommt die Frage auf, ob die grassierende Einsamkeit unserer Tage, unter der so viele Menschen leiden, nicht von der Tatsache herrühren könnte, dass wir als Kinder dieser Leistungsgesellschaft noch in unseren vier Wänden vor uns selbst fliehen wollen und dabei keinen Ausweg finden.
In der Stille kommt alles hoch: die Verletzungen, das Versagen, die Wut, die Schuld, die Anklage derer, die a) nicht anwesend sind, b) meine Trauer gar nicht interessiert und c) unter Umständen gar nichts für meine Gefühle können. Was also soll ich mit meiner Verzweiflung? Wo deponiere ich sie, wenn sie mit voller Wucht zuschlägt und der Sprung vom Balkon der einzige Fluchtweg erscheint, um sie endlich zum Schweigen zu bringen? Ferner: Was, wenn ich auf der Suche nach Hilfe meinen Zustand verschlimmbessere? Gut gemeinte Ratschläge bewirken oft das Gegenteil.
Weller zeigt in seinem Buch Wege der Selbstverdoppelung auf, ganz nach Jungschem Vorbild. Das verletzte Kind in uns will gesehen werden. Jeder von uns kann das Alleinsein dazu nutzen, um bewusst in die Stille zu gehen. Darin kann der leidende Seelenanteil zu Wort kommen, in Form von Tränen zum Beispiel, die ich, wenn der "Sturm" vorbei ist, zur Kenntnis nehme und weder verurteile noch überhöhe. Ich lasse alles so stehen, wie es nunmal war.
Unser verletztes Ich, so Weller, hat sich Überlebensstrategien zurechtgelegt, die zu Stolpersteinen werden können. Dazu gehört die Kontrolle und die damit einhergehende Verdrängung. Jung verglich diesen Mechanismus seinerzeit mit dem Eisernen Vorhang. Da sind Dinge, die wir nicht haben wollen, aber die dennoch zu uns gehören. Die Freiheit, die man sich von der Verdrängung verspreche, bleibe daher aus. Freiheit bedarf zunächst der Versöhnung mit dem, was der Fall ist.
Wellers Buch nimmt, wie auch Jung das schon getan hatte, jeden Einzelnen in die Pflicht. Versöhnungsarbeit muss jeder selbst leisten. Delegieren unmöglich.