Lucie auf dem Weg ins Glück - Teil 17
Die Hand auf dem wild pochenden Herz saß Lucie einige Minuten aufrecht im Finstern im Bett und versuchte, den üblen Nachhall des scheußlichen Albtraums abzuschütteln. Dann knipste sie das Nachttischlämpchen an und holte sich ein Glas kaltes Wasser und den Laptop ans Bett. Sie musste das Ganze abblasen!
Der Schäfchenwecker zeigte drei Uhr morgens. Egal! Sie konnte nicht wieder einschlafen, bevor sie die Dinge nicht in die Gerade gerückt hatte.
Klar - es war schon unangenehm und reichlich peinlich, einen solchen Rückzieher zu machen und üblicherweise etwas, das ihr Stolz ihr verbot, aber der Traum hatte ihr bewusst gemacht, welche Gefahren da lauern mochten, die sie noch gar nicht bedacht hatte. Wie naiv sie gewesen war, zu meinen, sie könnte ganz unbekümmert und eben mal schnell ihr Sexleben aufmotzen, indem sie wildfremden Kerlen erlaubte, sie zu verschnüren und zu verhauen! Da war wohl der Wunsch des Vaters der Gedanke gewesen, wie sie zugeben musste (eine Redewendung, die sie nie so ganz verstanden hatte, wenn sie so darüber nachdachte).
Mit noch zittrigen Fingern loggte sie sich im SM-Forum ein. Noch hatte 2R_bonding nicht auf ihre PN reagiert, ihre Nachricht aber laut Anzeige der Forensoftware gelesen. Ob sie mit ihrem doch reichlich galoppierenden Schreibstil einen schlechten Eindruck gemacht hatte? Schließlich wusste sie nur zu gut, dass vor allem der erste Eindruck zählte! Lucie kaute grübelnd an ihrer Unterlippe. Dann fiel ihr ein, dass es in diesem Fall vielleicht ja sogar Glück im Unglück wäre, wenn er sich entschlossen hatte, sich doch nicht mit ihr treffen zu wollen. Trotzdem tippte sie entschlossen eine neue Nachricht an ihn in die Tastatur.
"Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Angebot nicht länger für uns von Interesse ist und wir uns daher gezwungen sehen, von einer möglichen Vereinbarung Abstand zu nehmen.
Mit freundlichen Grüßen,
Lucie H.
Geschäftsassistenz"
Sie wollte eben auf "Absenden" klicken, als ihr ihr Fehler auffiel. Du meine Güte! Da hatte sie in ihrer Aufregung doch glatt die geschäftliche Floskel für Absagen an Müsliriegel-, Proteinshakehersteller und Co. verwendet, die Mario ihr beigebracht hatte, damit sie ihn bei dem lästigen Bürokram ein wenig unterstützen konnte. Die hatte sie letztens auch privat erfolgreich verwendet, als sie den morgendlichen Brötchenlieferdienst gekündigt hatte.
Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was der Ingenieur davon wohl gehalten hätte. Das klang viel zu formell und unpersönlich! Aber wie sollte sie ihm erklären, dass sie nun so plötzlich abspringen wollte. Sie konnte ihm ja schlecht von dem Albtraum erzählen. Sie grübelte lange, tippte, löschte, tippte, löschte wieder. So wurde das nix! Vielleicht war es ja besser, erst mal über die Sache zu schlafen (diesmal hoffentlich ohne Albtraum!). Dass man die Finger nicht übers Knie brechen sollte, hatte ihre Omi schon immer gesagt und das war wohl eine kluge Sache, sagte Lucie sich.
Seufzend legte sie den Laptop beiseite. Das Schäfchen zeigte inzwischen vier Uhr dreißig und lächelte sie besänftigend an. Lucie musste herzlich gähnen. Sie war hundemüde! Nur wenige Minuten nachdem sie das Licht ausgeknipst hatte, war sie auch schon wieder eingeschlafen.
***
Am nächsten Morgen checkte sie bei einem Stehfrühstück noch rasch ihre Nachrichten-Inbox im Forum. Der Bondagetyp hatte sich noch nicht gemeldet, dafür aber wartete eine neue PN mit dem Betreff
"Blaue Titten"
auf sie. Die kam von einem
"FolterknechtRuprecht". Was für ein Nick! Lucie musste kichern. Doch dann meldete sich eine Resterinnerung an den schrecklichen Traum der letzen Nacht und sie beschloss, den "Folterknecht" ernster zu nehmen. Wenn schon der Name mittelalterlich klang, waren vielleicht auch wirklich mittelalterliche Foltermethoden mit im Spiel. Kurz zögerte sie, ob sie die PN überhaupt lesen sollte oder nicht doch lieber direkt löschen.
Sie gab sich einen Ruck und klickte die PN an.
"Tolles Gedicht!" stand da.
"Bin schon lang auf der Suche nach einer echten Extrem-Maso-Sub. Möchtegernsubs gibts ja wie Sand am Meer, aber leider kaum welche, die wirklich maso sind und Schmerzen richtig geil finden. Wenn du blaue Titten und noch andere Körperteile haben willst, bist du bei mir richtig! Bei mir kannst du fluchen und heulen, so viel du willst.
Ich hab, wie du, ein Adlertattoo und mein Schlagmuskel funktioniert einwandfrei, denn er wird wie alle meine Muskeln sorgfältig trainiert. Wenn du zusätzlich noch auf Blut stehst, wäre das echt perfekt.
Was sagst du dazu?
Finstere Grüße!
der fiese Folterknecht
"
Und wieder einmal war Lucie schlicht sprachlos. Das hatte sie mit ihrem Gedicht definitiv nicht bezweckt! Und wenn sie das richtig gelesen hatte, betrieb der hier einen (sicher illegalen) Handel mit Körperteilen und Blutkonserven. Ganz ungeniert mitten im Forum. Wie dreist und zugleich gruselig! Dachte der ernsthaft, es würde sich jemand darauf melden? Ob jemand auf die doch reichlich plumpe Täuschung durch das Smilie am Ende der PN tatsächlich hereinfiel? Lucies Fingernägel befanden sich schon wieder zwischen ihren Zähnen.
Oder war es am Ende noch abartiger und er war einer von denen, die Blut tranken und sich für Vampire hielten? Sie hatte erst unlängst darüber eine hochseriöse Doku auf einem Privatsender gesehen. Die schliefen in Särgen und schminkten sich so grottenschlecht, dass man beinahe Mitleid mit ihnen haben konnte. Lucies Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
Aber vielleicht war das Ganze ja noch perfieber und es handelte sich hier um einen verdeckten Ermittler, den man als Lockvogel ins Forum eingeschleust hatte, damit er einen versteckten Folter- und Organhandelring aufdeckte? Solche Methoden waren ja heutzutage fang und gebe, wie man in den nachmittäglichen Fernsehformaten sah!
Sie sah sich sein Profil genauer an. Die Angaben klangen auffällig normal: ledig, Inhaber eines Piercing-Studios, Mitte Vierzig, Partnerschaft: erwünscht, ein Profilbild, das eine lange, geflochtene, schwarze Peitsche à la Indiana Jones zeigte, Hobbies: Krafttraining, Laufen, Lesen, Kino, Bogensport; Neigung: Sadist; Vorlieben: wechselnd; No-Goes: No-Goes.
Klar, dass der hier möglichst unauffällig auftrat und erst per PN seine schweren Geschütze auffuhr! Wie er allerdings auf die Idee kam, sie wäre eine mögliche Verdächtige, war Lucie schleierhaft. Es gab sicher eine andere Erklärung dafür! Nicht auszuschließen, dass er während seiner Tätigkeit als Maulwurf auf die schiefe Bahn geraten war und nun tatsächlich Gefallen an solch perversem Zeug zu finden begonnen hatte. Was für ein tragisches Schicksal! Sie seufzte bedauernd und beschloss, nichts zu unternehmen vorerst. Sie klappte den Laptop zu und machte sich auf den Weg ins Studio.