xavia
Mitglied
[ 5]»Was möchtest du denn heute lernen?« fragt Roberta ihren Schüler Ludger.
[ 5]»Ich möchte eine Novelle schreiben. Was ist eine Novelle?« kommt es wie aus der Pistole geschossen.
[ 5]»Eine Novelle ist eine Erzählung über eine unerhörte Begebenheit,« beginnt sie die Unterweisung »Es gibt meist wenige Charaktere, die sich während der Erzählung nicht wesentlich verändern und genau beschrieben werden«. Er will sofort einen Versuch wagen und erzählt:
[ 5]In einer großen Stadt an einer Hauptstraße steht Anita Kusik allein und wartet auf den Bus. Direkt hinter ihr erhebt sich ein dreistöckiges Mehrfamilienhaus. Im Fenster liegt eine schwarze Katze auf der Fensterbank und beobachtet sie aufmerksam. Jedes Mal, wenn Anita sich zu ihr umdreht, guckt diese sie aus gelben Augen an. Rechts von ihr, wo die Straße ziemlich steil bergauf geht und einen Bogen nach links macht, grenzt das Arbeitsamt, wo Anita angestellt ist, an das andere Gebäude. Die Konzeption dieses Bauwerks musste für die Architektin eine echte Herausforderung gewesen sein, denn es macht sowohl den Anstieg als auch den Bogen der Straße mit. Drinnen merkt man nur den Bogen der Vorderfront, der Anstieg ist durch einen Keller ausgeglichen worden. Zehn Meter links von ihr geht eine Nebenstraße ab, aus der gerade jemand um die Ecke kommt. Anita sieht einen Mann mittleren Alters von gedrungenem Wuchs. Sein ockerfarbener Cordanzug scheint aus einer anderen Zeit zu stammen, erst recht die rote Fliege, die er zu einem weißen Hemd trägt. Wegen seines eigentümlichen Aussehens zwingt Anita sich, ihn nicht anzustarren. Sie guckt auf die Straße, dann auf die andere Seite des Gehwegs und ist sich doch ganz gewiss, wo er sich gerade befindet. Sie zweifelt nicht daran, dass er sehen kann, dass sie absichtlich wegsieht und hört ihn kraftvoll ausschreiten und schnell näherkommen. Am liebsten würde sie weglaufen. Als er sie erreicht, hört sie, dass er stehenbleibt.
[ 5]Sie versucht, sich damit zu beruhigen, dass er wahrscheinlich wie sie mit dem Bus fahren will, dass es ganz normal ist, wenn Leute hier an der Haltestelle stehenbleiben. Aber der Aufruhr in ihrem Inneren bleibt. Vorsichtig wendet sie den Kopf zu ihm hin. Er steht gut Armeslänge von ihr entfernt und blickt zu ihr hoch. Anita ist klein, sie hat sich schon oft über ihre geringe Körpergröße geärgert. Dass ein Mann zu ihr aufblicken muss, ist sie nicht gewohnt. Instiktiv weicht sie ein paar Schritte zurück. Er folgt ihr vorsichtig, lächelt freundlich und sie versucht, zurückzulächeln, hat aber das Gefühl, dass es ihr nicht recht gelingen will.
[ 5]›Der Bus wird sicherlich bald kommen‹, sagt sie, um die Situation zu entschärfen. – Wenn er doch einfach käme, dann könnte sie schnell einsteigen und sich auf einen Platz sitzen, der keinen freien daneben hat! Oder wenn wenigstens die Erde sich auftäte und sie verschlingen würde!
[ 5]»So weit, so gut« sagt Roberta. Du beschreibst eine ganz alltägliche Begebenheit. Zugegeben, dieser Mann ist ein wenig gruselig. Daraus ließe sich etwas machen. Es muss außergewöhnlich sein für eine Novelle.« – Ludger weiß sich zu helfen:
[ 5]Der Mann sagt zu Anita: ›Ich gewähre dir drei Wünsche. Du kannst dir alles wüschen, aber nicht mehr Wünsche, nur die drei.‹
[ 5]»Nein, nein, so nicht!« unterbricht ihn Roberta. »Zum einen sind Drei-Wünsche-Geschichten nun wirklich ein alter Hut und zum anderen muss die unerhörte Begebenheit zwar ungeheuerlich, aber glaubhaft, nachvollziehbar, natürlich sein. Du sollst hier kein Märchen erzählen!«
[ 5]»Nun warte doch erst einmal ab, was passiert« beschwichtigt Ludger sie. Noch ist das doch alles ganz nachvollziehbar und natürlich. Es gibt schon manchmal komische Käuze, die einem auf der Straße begegnen.«
[ 5]»Na gut«, lenkt Roberta ein, »ich lass' mich überraschen. Erzähl' weiter.«
[ 5]Anita, der die ganze Sache ohnehin schon unheimlich ist, sieht sich nun in beide Richtungen um und muss zu ihrem Entsetzen feststellen, dass weit und breit kein Mensch in Sicht ist. Selbst die Katze hat ihren Platz auf der Fensterbank verlassen.
[ 5]›Wieso tun Sie das?‹ fragt sie beklommen, um Zeit zu gewinnen.
[ 5]›Weil ich es kann‹ ist seine lapidare Antwort. Anita sieht ihre einzige Chance in der so genannten ›Flucht nach vorn‹ und sagt beherzt zu dem Mann:
[ 5]›Dann wünsche ich mir einen Apfelsaft.‹
[ 5]Er läuft ohne zu zögern über die Straße. Es kommt ihr so vor, als machten die Autos ihm Platz. Auf jeden Fall ist er sehr geschickt darin, die Lücken zu nutzen. Gegenüber sieht sie ihn auf Zehenspitzen am Kiosk stehen, beide Hände auf der Theke. Die Verkäuferin lächelt freundlich, wie zu einem Kind. Sie händigt ihm ein Fläschchen aus und nimmt das Geld entgegen. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie ihm den Kopf getätschelt hätte. Anita denkt daran, dass sie es als Frau weit weniger schwer hat mit ihrem kleinen Wuchs als dieser Mann. Er jedoch scheint davon unbeeindruckt, kommt ebenso geschickt zurück auf Anitas Straßenseite und überreicht ihr den Apfelsaft.
[ 5]Sie dankt ihm verblüfft, öffnet die Flasche und trinkt. In ihrem Hirn beginnt es zu arbeiten: Was wäre, wenn er mir tatsächlich jeden Wunsch erfüllen könnte? Dann hätte ich bereits einen vergeudet an eine Flasche Apfelsaft, die zwar lecker ist, die ich mir aber ebenso gut hätte selbst kaufen können. – Nein, sowas gibt es nur in Märchen, ermahnt sie sich zur Vernunft. Aber einen Versuch macht sie trotzdem noch, dieses Mal kühner:
[ 5]›Ich wünsche mir eine Million.‹
[ 5]›Kein Problem.‹ Er greift in seine Tasche und holt mit triumphierendem Blick einen Beutel Sand heraus:
›Zähl' ruhig nach: Es sind etwas mehr als eine Million.‹
[ 5]Roberta lacht: »Ja, du bist auf einem guten Weg. In einer Novelle gibt es übrigens oft auch eine Rahmenhandlung.«
[ 5]»So wie uns beide, die wir uns über die Literaturgattung der Novelle unterhalten?« freut sich Ludger.
[ 5]»Genau so«, muss Roberta zugeben, »aber jetzt bin ich neugierig, was der dritte Wunsch sein wird. – Es wird doch einen dritten Wunsch geben?« drängt Roberta ihn. Ludger lächelt vielsagend und fährt fort:
[ 5]Anita ist ein wenig ärgerlich, dass der seltsame Mann sie so hereingelegt hat. Andererseits ist sie beeindruckt: Er konnte doch nicht wissen, was sie sich wünschen würde, wieso hat er einen Beutel Sand in der Tasche? Oder hatte er den gar nicht dabei und hat ihn herbei gezaubert? Sie muss unbedingt mit dem dritten Wunsch herausfinden, was es mit diesem Mann auf sich hat! Der Wunsch soll, wenn er erfüllt wird, etwas ganz Schönes für sie und vielleicht auch für die Menschheit sein und gleichzeitig beweisen, dass dieser Mann tatsächlich zaubern kann. Es darf keine Ausflüchte geben wie bei dem zweiten Wunsch, sie wird sich ganz genau überlegen, wie sie es formuliert. Der Mann steht neben ihr und sieht erwartungsvoll in selbstzufriedener Pose zu ihr hoch. Fast könnte man meinen, er erwarte Applaus.
[ 5]Auf der Straße gibt es keinen Verkehr mehr bergauf und Anita sieht, dass von links ein roter Traktor heran tuckert, hinter dem sich wohl ein Stau gebildet hat. Der Traktor zieht mehrere Wagen und dahinter kommen weitere Zugmaschinen mit weiteren Wagen. – Ein Zirkus! Anita überlegt, ob das vielleicht die seltsame Kleidung dieses Mannes erklärt. Sie liest: ›Zirkus Antonelli‹ in großen roten Lettern auf dem gelben Anhänger. Kein Bus in Sicht. Immer noch keine Idee, was sie sich wünschen soll. Weitere Wagen fahren an der Haltestelle vorbei. Es gibt Wohnwagen und Anhänger mit Gitterfenstern, in denen wohl Tiere transportiert werden. Schwer schleppen sie sich den Berg hinauf. Ein kleiner blauer Laster mit zwei großen Anhängern scheint Anlauf nehmen zu wollen, denn er lässt eine große Lücke zu dem Wagen davor, der bereits fast oben auf dem Hügel ist.
[ 5]Anita grübelt, während sie den Wagen zusieht: Saubere Flüsse? – Ende der globalen Erwärmung? – Weltfrieden? – Keine Zigaretten, Autos und Flugzeuge mehr, die mir die Atemluft verpesten? – Sie kann sich nicht entscheiden. Der Mann sieht sie gespannt an, beachtet den Verkehr hinter sich überhaupt nicht.
[ 5]Der Motor des blauen Lasters heult auf, als er sich wieder in Bewegung setzt und seine zwei Anhänger mit größtmöglicher Beschleunigung zu dem Hügel zieht, wo der an der Steigung bald wieder merklich langsamer wird. Oben, wo er den nächsten Wagen erreicht, bremst er abrupt ab.
[ 5]Plötzlich hat sie eine Idee: Ja, so könnte sie etwas für sich tun, für die Menschheit und auch noch sofort Gewissheit bekommen über diesen Mann!
[ 5]Der blaue Laster steht und seine beiden Anhänger rollen zurück, den Hügel hinab. Anita ist wie gelähmt. Ihre Augen weiten sich, als die beiden Anhänger auf sie zu rollen. Sie bringt kein Wort hervor und kann sich nicht bewegen. Die schweren Wagen sausen gegen die Hauswand und bersten, genau an der Stelle, wo die Katze im Fenster gesessen und Anita gestanden hat. An der Stelle, wo jetzt der Mann steht, der ihr noch einen Wunsch schuldig ist. Der Mann, der ihr diesen Wunsch wohl schuldig bleiben muss.
[ 5]Nach einer langen Pause, die dazu dienen soll, das soeben Erlebte wirken zu lassen, fragt Ludger seine Lehrerin: »Braucht es auch eine Moral in einer Novelle?«
[ 5]Fast mechanisch, mit zitternder Stimme, doziert Roberta: »Die Novelle endet meist mit einem Ergebnis oder auch Resultat, das muss keine Moral beinhalten, verleiht der gesamten Erzählung aber rückwirkend eine Bedeutung.«
[ 5]»Okay, an der rückwirkenden Bedeutung sollte ich noch arbeiten« meint Ludger.
[ 5]»Ich möchte eine Novelle schreiben. Was ist eine Novelle?« kommt es wie aus der Pistole geschossen.
[ 5]»Eine Novelle ist eine Erzählung über eine unerhörte Begebenheit,« beginnt sie die Unterweisung »Es gibt meist wenige Charaktere, die sich während der Erzählung nicht wesentlich verändern und genau beschrieben werden«. Er will sofort einen Versuch wagen und erzählt:
[ 5]In einer großen Stadt an einer Hauptstraße steht Anita Kusik allein und wartet auf den Bus. Direkt hinter ihr erhebt sich ein dreistöckiges Mehrfamilienhaus. Im Fenster liegt eine schwarze Katze auf der Fensterbank und beobachtet sie aufmerksam. Jedes Mal, wenn Anita sich zu ihr umdreht, guckt diese sie aus gelben Augen an. Rechts von ihr, wo die Straße ziemlich steil bergauf geht und einen Bogen nach links macht, grenzt das Arbeitsamt, wo Anita angestellt ist, an das andere Gebäude. Die Konzeption dieses Bauwerks musste für die Architektin eine echte Herausforderung gewesen sein, denn es macht sowohl den Anstieg als auch den Bogen der Straße mit. Drinnen merkt man nur den Bogen der Vorderfront, der Anstieg ist durch einen Keller ausgeglichen worden. Zehn Meter links von ihr geht eine Nebenstraße ab, aus der gerade jemand um die Ecke kommt. Anita sieht einen Mann mittleren Alters von gedrungenem Wuchs. Sein ockerfarbener Cordanzug scheint aus einer anderen Zeit zu stammen, erst recht die rote Fliege, die er zu einem weißen Hemd trägt. Wegen seines eigentümlichen Aussehens zwingt Anita sich, ihn nicht anzustarren. Sie guckt auf die Straße, dann auf die andere Seite des Gehwegs und ist sich doch ganz gewiss, wo er sich gerade befindet. Sie zweifelt nicht daran, dass er sehen kann, dass sie absichtlich wegsieht und hört ihn kraftvoll ausschreiten und schnell näherkommen. Am liebsten würde sie weglaufen. Als er sie erreicht, hört sie, dass er stehenbleibt.
[ 5]Sie versucht, sich damit zu beruhigen, dass er wahrscheinlich wie sie mit dem Bus fahren will, dass es ganz normal ist, wenn Leute hier an der Haltestelle stehenbleiben. Aber der Aufruhr in ihrem Inneren bleibt. Vorsichtig wendet sie den Kopf zu ihm hin. Er steht gut Armeslänge von ihr entfernt und blickt zu ihr hoch. Anita ist klein, sie hat sich schon oft über ihre geringe Körpergröße geärgert. Dass ein Mann zu ihr aufblicken muss, ist sie nicht gewohnt. Instiktiv weicht sie ein paar Schritte zurück. Er folgt ihr vorsichtig, lächelt freundlich und sie versucht, zurückzulächeln, hat aber das Gefühl, dass es ihr nicht recht gelingen will.
[ 5]›Der Bus wird sicherlich bald kommen‹, sagt sie, um die Situation zu entschärfen. – Wenn er doch einfach käme, dann könnte sie schnell einsteigen und sich auf einen Platz sitzen, der keinen freien daneben hat! Oder wenn wenigstens die Erde sich auftäte und sie verschlingen würde!
[ 5]»So weit, so gut« sagt Roberta. Du beschreibst eine ganz alltägliche Begebenheit. Zugegeben, dieser Mann ist ein wenig gruselig. Daraus ließe sich etwas machen. Es muss außergewöhnlich sein für eine Novelle.« – Ludger weiß sich zu helfen:
[ 5]Der Mann sagt zu Anita: ›Ich gewähre dir drei Wünsche. Du kannst dir alles wüschen, aber nicht mehr Wünsche, nur die drei.‹
[ 5]»Nein, nein, so nicht!« unterbricht ihn Roberta. »Zum einen sind Drei-Wünsche-Geschichten nun wirklich ein alter Hut und zum anderen muss die unerhörte Begebenheit zwar ungeheuerlich, aber glaubhaft, nachvollziehbar, natürlich sein. Du sollst hier kein Märchen erzählen!«
[ 5]»Nun warte doch erst einmal ab, was passiert« beschwichtigt Ludger sie. Noch ist das doch alles ganz nachvollziehbar und natürlich. Es gibt schon manchmal komische Käuze, die einem auf der Straße begegnen.«
[ 5]»Na gut«, lenkt Roberta ein, »ich lass' mich überraschen. Erzähl' weiter.«
[ 5]Anita, der die ganze Sache ohnehin schon unheimlich ist, sieht sich nun in beide Richtungen um und muss zu ihrem Entsetzen feststellen, dass weit und breit kein Mensch in Sicht ist. Selbst die Katze hat ihren Platz auf der Fensterbank verlassen.
[ 5]›Wieso tun Sie das?‹ fragt sie beklommen, um Zeit zu gewinnen.
[ 5]›Weil ich es kann‹ ist seine lapidare Antwort. Anita sieht ihre einzige Chance in der so genannten ›Flucht nach vorn‹ und sagt beherzt zu dem Mann:
[ 5]›Dann wünsche ich mir einen Apfelsaft.‹
[ 5]Er läuft ohne zu zögern über die Straße. Es kommt ihr so vor, als machten die Autos ihm Platz. Auf jeden Fall ist er sehr geschickt darin, die Lücken zu nutzen. Gegenüber sieht sie ihn auf Zehenspitzen am Kiosk stehen, beide Hände auf der Theke. Die Verkäuferin lächelt freundlich, wie zu einem Kind. Sie händigt ihm ein Fläschchen aus und nimmt das Geld entgegen. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie ihm den Kopf getätschelt hätte. Anita denkt daran, dass sie es als Frau weit weniger schwer hat mit ihrem kleinen Wuchs als dieser Mann. Er jedoch scheint davon unbeeindruckt, kommt ebenso geschickt zurück auf Anitas Straßenseite und überreicht ihr den Apfelsaft.
[ 5]Sie dankt ihm verblüfft, öffnet die Flasche und trinkt. In ihrem Hirn beginnt es zu arbeiten: Was wäre, wenn er mir tatsächlich jeden Wunsch erfüllen könnte? Dann hätte ich bereits einen vergeudet an eine Flasche Apfelsaft, die zwar lecker ist, die ich mir aber ebenso gut hätte selbst kaufen können. – Nein, sowas gibt es nur in Märchen, ermahnt sie sich zur Vernunft. Aber einen Versuch macht sie trotzdem noch, dieses Mal kühner:
[ 5]›Ich wünsche mir eine Million.‹
[ 5]›Kein Problem.‹ Er greift in seine Tasche und holt mit triumphierendem Blick einen Beutel Sand heraus:
›Zähl' ruhig nach: Es sind etwas mehr als eine Million.‹
[ 5]Roberta lacht: »Ja, du bist auf einem guten Weg. In einer Novelle gibt es übrigens oft auch eine Rahmenhandlung.«
[ 5]»So wie uns beide, die wir uns über die Literaturgattung der Novelle unterhalten?« freut sich Ludger.
[ 5]»Genau so«, muss Roberta zugeben, »aber jetzt bin ich neugierig, was der dritte Wunsch sein wird. – Es wird doch einen dritten Wunsch geben?« drängt Roberta ihn. Ludger lächelt vielsagend und fährt fort:
[ 5]Anita ist ein wenig ärgerlich, dass der seltsame Mann sie so hereingelegt hat. Andererseits ist sie beeindruckt: Er konnte doch nicht wissen, was sie sich wünschen würde, wieso hat er einen Beutel Sand in der Tasche? Oder hatte er den gar nicht dabei und hat ihn herbei gezaubert? Sie muss unbedingt mit dem dritten Wunsch herausfinden, was es mit diesem Mann auf sich hat! Der Wunsch soll, wenn er erfüllt wird, etwas ganz Schönes für sie und vielleicht auch für die Menschheit sein und gleichzeitig beweisen, dass dieser Mann tatsächlich zaubern kann. Es darf keine Ausflüchte geben wie bei dem zweiten Wunsch, sie wird sich ganz genau überlegen, wie sie es formuliert. Der Mann steht neben ihr und sieht erwartungsvoll in selbstzufriedener Pose zu ihr hoch. Fast könnte man meinen, er erwarte Applaus.
[ 5]Auf der Straße gibt es keinen Verkehr mehr bergauf und Anita sieht, dass von links ein roter Traktor heran tuckert, hinter dem sich wohl ein Stau gebildet hat. Der Traktor zieht mehrere Wagen und dahinter kommen weitere Zugmaschinen mit weiteren Wagen. – Ein Zirkus! Anita überlegt, ob das vielleicht die seltsame Kleidung dieses Mannes erklärt. Sie liest: ›Zirkus Antonelli‹ in großen roten Lettern auf dem gelben Anhänger. Kein Bus in Sicht. Immer noch keine Idee, was sie sich wünschen soll. Weitere Wagen fahren an der Haltestelle vorbei. Es gibt Wohnwagen und Anhänger mit Gitterfenstern, in denen wohl Tiere transportiert werden. Schwer schleppen sie sich den Berg hinauf. Ein kleiner blauer Laster mit zwei großen Anhängern scheint Anlauf nehmen zu wollen, denn er lässt eine große Lücke zu dem Wagen davor, der bereits fast oben auf dem Hügel ist.
[ 5]Anita grübelt, während sie den Wagen zusieht: Saubere Flüsse? – Ende der globalen Erwärmung? – Weltfrieden? – Keine Zigaretten, Autos und Flugzeuge mehr, die mir die Atemluft verpesten? – Sie kann sich nicht entscheiden. Der Mann sieht sie gespannt an, beachtet den Verkehr hinter sich überhaupt nicht.
[ 5]Der Motor des blauen Lasters heult auf, als er sich wieder in Bewegung setzt und seine zwei Anhänger mit größtmöglicher Beschleunigung zu dem Hügel zieht, wo der an der Steigung bald wieder merklich langsamer wird. Oben, wo er den nächsten Wagen erreicht, bremst er abrupt ab.
[ 5]Plötzlich hat sie eine Idee: Ja, so könnte sie etwas für sich tun, für die Menschheit und auch noch sofort Gewissheit bekommen über diesen Mann!
[ 5]Der blaue Laster steht und seine beiden Anhänger rollen zurück, den Hügel hinab. Anita ist wie gelähmt. Ihre Augen weiten sich, als die beiden Anhänger auf sie zu rollen. Sie bringt kein Wort hervor und kann sich nicht bewegen. Die schweren Wagen sausen gegen die Hauswand und bersten, genau an der Stelle, wo die Katze im Fenster gesessen und Anita gestanden hat. An der Stelle, wo jetzt der Mann steht, der ihr noch einen Wunsch schuldig ist. Der Mann, der ihr diesen Wunsch wohl schuldig bleiben muss.
[ 5]Nach einer langen Pause, die dazu dienen soll, das soeben Erlebte wirken zu lassen, fragt Ludger seine Lehrerin: »Braucht es auch eine Moral in einer Novelle?«
[ 5]Fast mechanisch, mit zitternder Stimme, doziert Roberta: »Die Novelle endet meist mit einem Ergebnis oder auch Resultat, das muss keine Moral beinhalten, verleiht der gesamten Erzählung aber rückwirkend eine Bedeutung.«
[ 5]»Okay, an der rückwirkenden Bedeutung sollte ich noch arbeiten« meint Ludger.