Nydaussus Hoffnung

Nydaussus Hoffnung (Kinder des Velt)

Die Imperatra war mal wieder in Eile, aber in diesen Tagen war dies nichts Außergewöhnliches. Sie befand sich nun seit vier Jahren in einem Zustand, in dem sie nicht in der Lage war, zur Ruhe zu kommen. Immer hatte sie das Gefühl, ihr liefe die Zeit davon und sie müsse eigentlich viel mehr von ihren Aufgaben erledigen. Aber egal, wie sehr sie sich auch anstrengte, nie schien es genug zu sein. Seit dem Tod ihrer kleinen Tochter, seit die Hereda, die Erbin des Throns, ihre von allen geliebte und stets fröhliche Jyntossu gestorben war, ging es ihr nun schon so. Seit dem Tag war Nydaussu davon überzeugt, ihr liefe die Zeit davon, denn ihr und damit auch dem Imperium fehlte eine Erbin für den Thron. Schließlich wurde sie nicht jünger.

Vor zehn Jahren war sie überglücklich gewesen, als sie endlich – nachdem sie bereits fünf Söhnen das Leben geschenkt hatte – eine Tochter zur Welt brachte, ein kräftiges und gesundes Kind. Umso heftiger traf sie sechs Jahre später der Verlust und der Schmerz, als das kleine Mädchen bei einem unglücklichen Unfall starb. Und als Folge daraus, verlor sie auch noch den ältesten ihre Ssumilei, den achtzehnjährigen Ssutjepa. Er hatte die Aufgabe übertragen bekommen, über seine kleine Schwester zu wachen. Von Gram überwältigt und in der festen Überzeugung, nicht anders handeln zu können, hatte sie ihn zum Tode verurteilt, weil er es zugelassen hatte, dass die Hereda den Tod fand. Nun war ihr von ihren Kindern nichts weiter geblieben, als deren Gräber und diese besuchte sie an jedem Tag, an dem sie sich im Palast befand. Dort betrauerte sie die beiden, die sie viel zu früh verloren hatte. Sie vermisste nicht nur ihre Tochter, sondern auch ihren Sohn. Aber egal, wie oft sie auch deren Tod beweinte, änderte dies doch nichts an der Tatsache, dass dem Imperium eine Erbin fehlte.

Schwangerschaften und Geburten hatte sie nie als Bürde empfunden und sie hatten sie auch zu keiner Zeit von ihren sonstigen Aufgaben abgehalten. Erst vor zwei Jahren, hatte sie erneut zwei Kindern das Leben geschenkt, weiteren Söhnen aus Ssusydas Samen. Ihr zweiter Imserviri war auch der einzige, der ab und zu noch ihr Bett teilte, aber meistens blieb sie allein. Oder sie arbeitete die Nacht durch. Seit Jyntossus Tod und dem, was sie damals als Ssutjepas Verrat bezeichnet hatte, mied sie Ssunuapo. Auch wenn sie ihre Handlungsweise inzwischen bedauerte, wollte sie nichts mehr mit Ssutjepas Erzeuger zu tun haben. In keiner Hinsicht und dies schloss ihr Bett mit ein. Dies trug allerdings nicht gerade zur Lösung ihres Problems bei. Und nun hastete die Imperatra, an diesem heißen Sommertag, durch die Stadt, als ob allein die Geschwindigkeit, die sie an den Tag legte, sie einer Lösung näherbringen würde.

Allerdings entsprang ihr Gefühl, nicht über ausreichend Zeit zu verfügen, heute einmal nicht ihrer Unzulänglichkeit, über die ihre Berater ihr immer wieder erklärten, sie bilde sie sich nur ein. Heute war sie tatsächlich zu spät dran und aus diesem Grund, hatte sie sich dafür entschieden, eine Abkürzung zu nehmen. Nur deshalb befanden sie und ihre Begleiter sich nun auf dieser Straße und versuchten, im Galopp den Zeitplan doch noch einzuhalten. Sie wusste, dieser Weg würde sie direkt zu ihrem Ziel führen und sie könnte sogar noch mehr Zeit dadurch einsparen, dass außer ihr und ihrer Eskorte niemand sonst ihn benutzte. Natürlich gab es einen Grund dafür, warum die anderen Menschen ihn mieden, aber die Imperatra interessierte jetzt gerade eigentlich, dass es ihr von Nutzen war, niemand anderem hier zu begegnen. Natürlich wusste die Frau, die über das gesamte Imperium herrschte, dass die Straße gemieden wurde, weil sie direkt am einzigen Friedhof vorbeiführte, der sich innerhalb der Stadtmauern befand. Niemand außer denjenigen, die den Friedhof besuchen mussten, würde sie normalerweise freiwillig benutzen. Es sei denn, man war die Imperatra und derart in Eile, dass man keine Zeit hatte, über solche Dinge nachzudenken.

Die Imperatra mied normalerweise, genau wie der Rest der Stadtbewohner, diesen Ort, der in den Augen der Menschen einen schlechten Ruf hatte. Natürlich benötigten sie einen Friedhof, denn die Toten der Stadt mussten ja irgendwo beerdigt werden. Aber wenn sie niemanden ins Grab zu legen hatten, wollten die Menschen nichts mit ihm oder den Personen, die dort arbeiteten, zu tun haben. Und Nydaussu hätte erst recht keinen Grund gehabt, ihn aufzusuchen, denn der imperialen Familie stand ein eigener Friedhof zur Verfügung und dieser befand sich im Palast.

Aber über all dies, wollte sie heute nicht nachdenken. Sie war nur daran interessiert, so schnell wie möglich an ihr Ziel zu kommen. Und das hatte sie auch ihrer Eskorte in reichlich knappen Worten mitgeteilt und war dann in die von allen gemiedene Straße eingebogen. Ihren Begleitern war nichts anderes übriggeblieben, als ihr zu folgen, wobei sie hofften, ohne Zwischenfälle an diesem schlecht beleumdeten Ort vorbeizukommen.

Ihre Worte noch im Ohr, staunten die anderen daher nicht schlecht, als die Imperatra plötzlich ihr Pferd zügelte, so, dass es stehen blieb. Und sie setzte sich auch weder erneut in Bewegung, noch reagierte sie auf Fragen.

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Vor mehreren Stunden war Apeam bereits in die Grube am Rand des Friedhofs gestiegen und seitdem war er damit beschäftigt, ein Loch in die Felswand zu schlagen. Er war den, in den Stein geschlagenen, Stufen in die Tiefe gefolgt, um ein weiteres Grab für einen Toten der hochgestellten Familie zu schaffen, denen diese Begräbnisgrube gehörte. Alle Gruben auf diesem Friedhof, der sich als einziger innerhalb der Stadtmauern befand, gehörten adeligen und reichen Familien, denn sie waren die einzigen, die sie sich leisten konnten. Selbstverständlich bedeutete das nicht, dass die Eigentümer der Grube sich persönlich um die Gräber ihrer Lieben kümmern wollten. Wie alle anderen Stadtbewohner mieden auch die Angehörigen dieser Familien den Friedhof, wenn sie niemanden zu Grabe tragen mussten. Wozu gehörten sie schließlich zu den wichtigsten Familien von Ssuyial, wenn sie sich nicht nur eine teure Begräbnisgrube leisten, sondern auch andere für sich arbeiten lassen konnten. Wer wollte schon selbst die schmutzigen und anstrengenden Arbeiten erledigen, wenn sie jemanden dafür bezahlen konnte.

Die Eigentümer dieser Grube hatten den Verantwortlichen des Friedhofs am gestrigen Tag mitgeteilt, sie benötigten dort ein neues Grab. Und diejenigen, die für den Friedhof zuständig waren, hatten nun dafür zu sorgen, dass der Auftrag umgehend ausgeführt wurde. Und dies bedeutete – wie bei jeder anderen Familie in Ssuyial oder dem Rest des Imperiums – dass die Vassu den Virei eine Weisung erteilten, in diesem Fall, ein weiteres Grab aus dem Felsen zu schlagen. Sie selbst waren für die Verwaltung des Friedhofs zuständig und behielten den Überblick über alles. Sie kümmerten sich um das Vermögen der Familie und den Kontakt mit den Kunden. Wenn dann eine Tote oder auch mal ein Toter zu ihnen gebracht wurde, kümmerten sich wiederum die Virei darum, dass für den Leichnam ein Platz an der richtigen Stelle vorhanden war. Und sie waren auch für das eigentliche Begräbnis zuständig.

Und deshalb arbeitete Apeam jetzt bereits seit mehreren Stunden an dieser Grabstelle. Das Gestein der Grube war zwar nicht besonders schwer zu bearbeiten, da es nicht sehr hart war, allerdings führte das immer wieder zu anderen Problemen. Heute wären beinahe zwei der älteren und erfahrenen Virei verschüttet worden, als ein Teil des weicheren Gesteins vom oberen Teil der Grube über ihnen niederging. Ihr Familienoberhaupt hatte die beiden sofort aus der Grube abgezogen und an ihrer Stelle Apeam bestimmt, um die Arbeit zu Ende zu führen. Für einen Außenstehenden mochte das vielleicht so aussehen, als unternähme sie den Versuch, ihre älteren und erfahrenen Virei zu schützen, um stattdessen einen der entbehrlicheren Jüngeren in die Grube zu entsenden.

Aber wer von dieser Annahme ausging, lag völlig falsch. Apeam war zwar tatsächlich noch sehr jung, aber seine Mutter, die diese Familie führte, kannte seine Fähigkeiten genau. Er war nicht nur hochgewachsen und muskulös und verfügte damit über genügend Kraft für die überaus anstrengende Arbeit, er kannte sich auch mit dem Gestein der verschiedenen Gruben hervorragend aus. Und er hatte ein gutes Auge dafür, an welcher Stelle er ein weiteres Loch in die Wände hauen konnte und welches Gestein er auf jeden Fall stehen lassen musste.

Obwohl er sich sehr tief unten in der Grube befand und damit ebenfalls in der Gefahr schwebte, von dem weichen und teilweise sehr instabilen und an einigen Stellen sogar bereits losen Gestein verschüttet zu werden, falls er einen Fehler machte, verspürte er keine Angst. Schweißüberströmt, wegen der kräftezehrenden Arbeit und der sommerlichen Temperaturen, war er von Kopf bis Fuß mit weißem Gesteinsstaub bedeckt, aber er arbeitete dennoch unermüdlich weiter. Mochte er dabei fast im Schatten der Grube verschwinden, sorgte doch sein rotes Haar dafür, dass er nicht übersehen werden konnte. Dieses leuchtete wie eine Fackel am Grunde des tiefen Loches, wo er mit einer derartigen Konzentration seine Aufgabe erledigte, dass er nicht mitbekam, wie er beobachtet wurde.

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Nydaussu kam sich so vor, als ob sie gerade aus einem tiefen Traum erwacht war. Ganz langsam regte sie sich wieder, aber sie merkte sofort, dass jegliche Unruhe und jegliches Drängen wegen der ungenutzt verstreichenden Zeit und selbst das Gefühl ihrer Unzulänglichkeit, das sie in den letzten Jahren so geplagt hatte, plötzlich verschwunden waren. Stattdessen verspürte sie eine immense Erleichterung darüber, seit langer Zeit nicht mehr das Gefühl zu haben, unter Druck zu stehen. Im ersten Augenblick verstand sie allerdings nicht, was gerade geschehen war. Aber bereits wenige Augenblicke später, in denen sie weiterhin reglos am Rand der Straße verharrte, wurde ihr auf einmal etwas bewusst und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Diese Reaktion überraschte ihre Begleiter genauso, wie sie zuvor nicht darauf vorbereitet gewesen waren, dass sie einfach stehenblieb. Aber sie konnten ohne Probleme erkennen, wie glücklich und entspannt sie auf einmal wirkte.

In diesem Moment fiel der Imperatra auch auf, dass keine der Vassu, die ihre Begleitung stellten, ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Keine von ihnen stellte ihr eine Frage. Sie hätte ihnen allerdings auch keine Antwort geben können, denn sie konnte nicht in Worte fassen, warum sie ihr Pferd gezügelt hatte. Sie hatte im ersten Augenblick selbst nicht begriffen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Aber all das war nun überhaupt nicht mehr wichtig für sie. Jetzt interessierte sie nur noch, dass sie diese Gelegenheit nicht hatte verstreichen lassen. Obwohl sie es so eilig gehabt hatte, war sie nicht an dem vorbeigeritten, was Va ihr offensichtlich hatte zeigen wollen. Weil sie diese Möglichkeit nicht hatte verstreichen lassen, hatte sie auch das Gefühl zurückgewonnen, ihr Leben hätte noch einen Sinn. Auf einmal war sie sich sicher, dass es noch nicht zu spät für sie war. Auch wenn sie jetzt noch nicht verstand, wie wichtig dieser Tag für sie war und ihr das erst im Rückblick bewusst wurde, spürte sie trotzdem bereits die Veränderung. Als sie später auf diesen Tag in ihrem Leben zurückblickte, verstand sie, dass Va ihr tatsächlich eine weitere Chance gewährt hatte und sie hatte diese ergriffen. Aber in diesem Moment, war sie an dem Grund für ihr Handeln überhaupt nicht interessiert.

Sie blickte über ihre Schulter zurück zu ihrer Eskorte und erneut umspielte ein feines Lächeln ihre Lippen. „Kommt weiter!“, forderte sie ihre Begleiterinnen auf, als wenn nicht sie es gewesen wäre, die alle aufgehalten hatte. „Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen.“ Sie spornte ihr Reittier an und folgte der Straße weiter. Gerade als die anderen dachten, es ginge jetzt wieder in Richtung ihres ursprünglichen Ziels, bog sie in die Abzweigung ein, die zum Friedhof führte. Damit überraschte sie nicht nur ihre Begleitung, sondern verwirrte auch die dort arbeitenden Vassu. Dass ihre Herrscherin so unerwartet vor dem Tor erschien, bestürzte diese ganz offensichtlich, denn mit einem derart hochgestellten Besuch hatte dort niemand gerechnet und sie waren überhaupt nicht darauf vorbereitet. Aber die Imperatra hatte ja selbst bis eben nicht gewusst, dass sie heute hierherkommen wollte.

Nichtsdestotrotz kümmerte man sich umgehend um sie und führte sie zu einem ruhiggelegenen Gebäude, das normalerweise wahrscheinlich dafür genutzt wurde, trauernden Familien eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Die Imperatra und ihre Begleitung übergaben ihre Pferde einigen Virei und betraten dann einen geschmackvoll eingerichteten Raum, um dort auf eine Vassu zu warten, die innerhalb der Familie eine entsprechend hohe Position innehatte, um die unerwartete Besucherin angemessen empfangen zu können.

Nydaussu hatte überhaupt kein Problem damit, an diesem Ort zu warten. Der Druck, unter dem sie in den letzten Jahren agiert hatte, war völlig von ihr gewichen. Sie fühlte sich erleichtert und so unbeschwert, wie schon lange nicht mehr. Mal abgesehen davon, würde es niemandem schwerfallen, in diesem Raum einige Zeit zu verbringen. Die Familie, die für den Friedhof die Verantwortung trug, hatte dafür gesorgt, dass ihre Besucher sich auf bequemen Kissen niederlassen konnten, die wiederum auf einem dicken Teppich lagen. Kaum hatten sie sich niedergelassen, wurden ihnen auch schon kühle Getränke angeboten und es wurde auch sonst alles Erdenkliche getan, es ihnen bequem zu machen. Ihre Gastgeber versuchten sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich den Kopf darüber zerbrachen, was die Imperatra hierhergebracht haben könnte, aber Nydaussu war es trotzdem nicht entgangen.

Es dauerte nicht lange und die Tür wurde wieder geöffnet, und eine hochgewachsene, durchtrainiert wirkende Vassu mit kurzem dunkelblondem Haar und durchdringenden grauen Augen betrat den Raum. Sie ließ ihren Blick kurz über die gesamte Gruppe der Besucher wandern, aber wandte sich dann ohne zu zögern der Imperatra zu. Und die Worte, die sie zur Begrüßung wählte, ließen jeden erkennen, dass ihr bereits bekannt war, wer sie heute hier besuchte.

„Sei willkommen in unserem Zuhause, Imperatra. Wir fühlen uns durch deinen Besuch geehrt.“ Sie verbeugte sich kurz, respektvoll, aber nicht unterwürfig. Auch wenn sie wegen ihrer Verbindung zu dem Friedhof hier fast ganz unten auf der sozialen Leiter stand, wie die Kürze ihrer Hosenbeine dies auch anzeigte, war sie doch nicht ohne Würde. Sie würde sich auf keinen Fall vor einer Besucherin erniedrigen, selbst wenn diese ihre Herrscherin war.

„Ich bin Nihafa, das Oberhaupt dieser Familie. Wir sind für diesen Friedhof verantwortlich und werden alles daransetzen, deine Wünsche zu erfüllen. Immer vorausgesetzt, es liegt in unserer Macht.“ Erneut machte sie eine Pause, als wartete sie darauf, ob die Imperatra oder eine ihrer Begleiterinnen sich äußern wollte. Aber Nydaussu nickte ihr nur freundlich lächelnd zu und ihre Eskorte konnte nichts sagen, weil keine von ihnen wusste, aus welchem Grund sie sich hier befanden.

„Ich bitte um Entschuldigung“, fuhr Nihafa fort, nachdem sie verstanden hatte, dass niemand etwas sagen wollte, „aber ich wundere mich über den Grund für deinen Besuch. Soweit mir bekannt ist, verfügt deine Familie über einen eigenen Friedhof innerhalb des Palastes. Was könntest du also von mir und meiner Familie wünschen, Herrin?“ Auf ihrem Gesicht zeigte sich Verwunderung, aber auch ein Anflug von Angst, weil sie selbstverständlich auch daran gedacht hatte, ihre Imperatra sei vielleicht zum Friedhof gekommen, weil sie unzufrieden war. Oder vielleicht sogar deswegen, weil sie jemanden bestrafen wollte.

Nydaussu konnte Nihafas Angst problemlos erkennen, auch wenn diese ziemlich gut darin war, sie zu verbergen. Sie hatte allerdings nicht vorgehabt, jemanden zu verängstigen. „Ich danke dir für dein Willkommen, Nihafa. Du hast nichts zu befürchten, denn deine Familie hat nichts falsch gemacht. Ich bin nicht unzufrieden mit euch.“

Die Imperatra erhob sich von dem Kissen, auf dem sie sich niedergelassen hatte, weil es ihr in diesem Moment wie eine gute Idee vorkam, der anderen Vassu direkt in die Augen sehen zu können. Aber als sie ihr dann gegenüberstand und dabei feststellen musste, um wie viel größer die andere war, musste sie sich tatsächlich anstrengen, sich ihr Unbehagen deswegen nicht anmerken zu lassen. Auch die Herrscherin über das Imperium war nur ein Mensch und für die gleichen Ängste und Unzulänglichkeiten anfällig, wie ihre Untertanen. Ihre Mutter hatte ihr allerdings schon als junges Mädchen beigebracht, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen, wenn sie das nicht wollte. Aus diesem Grund sah sie sich jetzt in aller Ruhe im Raum um, als wäre das der einzige Grund gewesen, warum sie sich erhoben hatte. Erst dann wandte sie sich erneut Nihafa zu.

„Ich komme mit einem ungewöhnlichen Wunsch zu dir und ich hoffe, du wirst ihn mir erfüllen können.“

„Ich werde tun, was in meiner Macht steht, Herrin“, antwortete ihr Nihafa vorsichtig.

„Als ich eben die Straße entlang ritt, die direkt an diesem Friedhof entlangführt, erblickte ich auf einmal etwas, das meine Aufmerksamkeit erregte. In einer der Gruben, direkt zu meinen Füßen, arbeitete ein Viri. Er ist groß und kräftig und hat rotes Haar. Diesen Viri würde ich gerne sehen. Würdest du ihn bitte herbringen lassen!“ Trotz ihrer freundlich formulierten Worte hatte keiner der Anwesenden Zweifel daran, dass sie Nihafa soeben einen Befehl erteilt hatte.

Diese wagte es auch nicht, bei der Ausführung des Befehls zu zögern, obwohl man ihr deutlich ansah, dass ihr nicht wohl dabei war. Sie wandte sich aber trotz ihrer offensichtlichen Bedenken einer Vassu zu, die einige Schritte hinter ihr wartete. „Lass bitte Apeam unverzüglich hierherbringen.“ Dann schien ihr jedoch noch etwas einzufallen und sie hieß die Jüngere mit einer Handbewegung einen Augenblick zu warten, um sich noch einmal an die Imperatra zu wenden.

„Dürfen wir dem Viri Gelegenheit geben, sich den Schmutz und den Schweiß der Arbeit abzuwaschen, bevor er hierhergebracht wird, Herrin?“

Nydaussu schüttelte den Kopf, denn sie hatte nicht vor, länger als unbedingt notwendig zu warten. „Lass ihn einfach aus der Grube holen und unverzüglich hierherbringen. Alles andere ist Zeitverschwendung.“

Nihafa senkte den Kopf und winkte ihre Begleiterin hinaus. Sie hielt ihren Blick auch weiterhin auf den Boden gerichtet, während sie auf das Eintreffen des jungen Viri wartete, vielleicht, weil sie sich von der Forderung der Imperatra beschämt fühlte. Es war aber auch möglich, dass sie sich nicht ansehen lassen wollte, wie beunruhigt sie tatsächlich war. Die Imperatra hatte ihr zwar versichert, sie und ihre Familie hätten nichts zu befürchten, aber die Art und Weise, wie Apeam vor sie gebracht werden sollte, könnte Angst in ihr ausgelöst haben.

Nydaussu lächelte. Natürlich war sie sich bewusst, die ganze Situation zu dramatisch zu gestalten. Sie wusste aber auch, dass sie es genoss, alle im Unklaren darüber zu lassen, was ihr eigentliches Anliegen war.

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Apeam war mit seiner Arbeit in der Grube so gut wie fertig. Er hatte das neue Grab in den Felsen gehauen und wollte nun nur noch einmal überprüfen, ob er nicht irgendetwas übersehen hatte, bevor er sein Werkzeug einsammeln und nach oben steigen würde, als er Ydonov von oben seinen Namen rufen hörte. Dessen Stimme hatte einen äußerst eindringlichen Klang.

„Apeam, komm rauf!“ Er hörte sich ungeduldig an. Aber Ydonov hörte sich immer ungeduldig an. Apeam ließ sich davon nie aus der Ruhe bringen.

„Warte“, rief er hinauf. „Ich komme gleich, ich muss nur noch das Werkzeug einsammeln.“

„Lass das Werkzeug liegen. Darum wird sich später jemand anderes kümmern. Nihafa will dich sehen. Und zwar sofort.“

Apeam runzelte die Stirn. Es war sehr ungewöhnlich, dass seine Mutter seine Anwesenheit so dringend wünschte. Er dachte sofort darüber nach, ob er irgendeine der ihm übertragenen Aufgaben nicht ordnungsgemäß ausgeführt hatte. Aber so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm fiel nichts ein. Natürlich war es trotzdem möglich, dass sie unzufrieden mit ihm war, aber normalerweise kümmerte sie sich nicht persönlich um solche Dinge. Sie war für die gesamte Familie und den ganzen Friedhof verantwortlich und überließ die Bestrafung eines Viri, selbst wenn dieser ihr eigener Sohn war, anderen Vassu. Aus welchem Grund wollte sie ihn also jetzt sehen und das auch noch ohne jeden Aufschub. Er begann sich ernsthaft Sorgen zu machen.

Aber egal was es war, es wäre nicht gut, sie warten zu lassen, deshalb erklomm er zügig die Stufen, die aus der Grube herausführten. Oben wartete Ydonov voller Ungeduld auf ihn.

„Ich bin mit dem neuen Grab fertig geworden. Ihr müsst keine Angst haben, dass jemand verschüttet wird, wenn ihr den Toten hineinlegt. Ich habe aufgepasst.“

Er wollte sicher sein, dass der andere wusste, die Aufgabe wäre erledigt, aber zu seiner großen Verwunderung winkte dieser ab. „Dies ist jetzt nicht wichtig.“

Apeam spürte, wie sich in seinem Bauch ein kalter Knoten bildete, der aus seiner Angst gespeist wurde. Wenn seine Mutter es als unwichtig ansah, dass er die Arbeit an dem Grab in dieser Grube beendet hatte – und es waren eindeutig Nihafas Worte, die Ydonov aussprach – dann hatte er allen Grund für die Panik, die jetzt in ihm hochstieg.

„Ich muss mich waschen“, bat er den anderen. Er war sich nur zu bewusst, wie er aussah. Weißer Gesteinsstaub bedeckte seinen ganzen Körper, zusammen mit dem Schweiß, den er wegen der harten Arbeit und der Hitze vergossen hatte. Außerdem trug er auch nur einen Rock. „Und ich brauche eine Tunika.“

„Keine Zeit“, war Ydonovs knappe Antwort.

Apeam schnappte nach Luft. Plötzlich wurde ihm schlecht. „Ich kann unmöglich in diesem Zustand vor Nihafa erscheinen, Ydonov. Hab Erbarmen mit mir.“ Er konnte auf einmal nur noch flüstern, denn die Angst schnürte ihm die Kehle zu.

Der andere schüttelte den Kopf. Apeam konnte ihm ansehen, dass er seine Ängste verstand, aber er hatte wohl keine Wahl. „Du musst. Ich soll dich ohne jede Verzögerung zu ihr bringen. Es tut mir leid.“

Der junge Viri ließ den Kopf hängen. Jetzt war er sich ganz sicher, seine Mutter immens verärgert zu haben, wenn sie ihm nicht einmal die Möglichkeit gab, sich präsentabel zu machen. Als der andere sich in Bewegung setzte, folgte er ihm, ohne jedoch darauf zu achten, wohin es ging. Deshalb fiel ihm auch nicht auf, dass ihr Ziel das Besuchergebäude in der Nähe des Eingangs war. Dies bekam er erst mit, als er bereits die Tür durchschritten hatte. Und dann erkannte er, wer sich mit seiner Mutter im dahinterliegenden Raum aufhielt.

In dem Moment, als er die Frau erkannte, die ihm gegenüberstand, erstarrte er. Nur mit Mühe und Not, schaffte er es weiter zu atmen und nicht umzufallen. Er hielt sich zwar nicht oft auf den Straßen der Stadt auf - allerdings nicht etwa, weil er sich nicht gerne unter anderen Menschen aufhielt, sondern weil diese es nicht gerne sahen, wenn er sich unter sie mischte – trotzdem erkannte er die Imperatra sofort, als er ihrer ansichtig wurde. Aber so nahe wie jetzt war er ihr nie zuvor gekommen. Sie stand nur wenige Meter von ihm entfernt, auf der anderen Seite des Raums und musterte ihn ziemlich intensiv. Schon bei dem Gedanken, er müsste seiner Mutter in seinem jetzigen Zustand unter die Augen treten, hatte er sich äußerst unwohl gefühlt. Und als er sie beim Hereinkommen anblickte, hatte er Nihafa sofort angesehen, wie unzufrieden sie mit ihm war und trotzdem war das jetzt völlig unwichtig. Denn die Erkenntnis, dass die Herrscherin über das gesamte Imperium ihn in diesem Zustand sah, ließ ihn vor Scham erstarren. Nicht nur, dass er sich der Tatsache bewusst war, wie er mit seinem schweiß- und staubbedeckten Körper auf sie wirken musste, er trug auch nur einen Rock und war sich zusätzlich der Kürze dieses Kleidungsstücks schmerzlich bewusst, denn dieses endete gerade mal eine Handbreit unter seinem Knie. Er kam sich völlig entblößt vor, als er feststellte, wie ihr Blick über seine Beine und Füße glitt. Was hatte er nur getan, dass seine Mutter ihn derart vor Fremden zur Schau stellte.

„Dies ist mein Sohn Apeam“, stellte Nihafa ihn vor und er hörte ihrer Stimme an, wie unwohl sie sich selbst fühlte. „Wie es dein Wunsch war, habe ich ihn ohne jegliche Verzögerung hierherbringen lassen.“

Ihre Worte verwirrten Apeam vollends und er war nun schon fast jenseits jeglicher Panik. Aber er verstand auf einmal, dass es nicht seine Mutter war, die ihn hatte sehen wollen, sondern die Imperatra persönlich. In diesem Moment konnte er nicht mehr tun, als zu versuchen, nicht in Ohnmacht zu fallen.

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Nydaussu musste sich zusammenreißen, um den jungen Viri, der gerade durch die Tür getreten war, nicht unverhohlen anzustarren, aber es fiel ihr schwer. Sehr schwer.

Er war hochgewachsen und noch größer als seine Mutter. Da er nur einen Rock trug, konnte sie seinen muskulösen Oberkörper bewundern. Sie musterte die Muskeln, die er durch seine harte Arbeit hier auf dem Friedhof erworben hatte und erkannte, dass der Schweiß und der weiße Gesteinsstaub, die ihn über und über bedeckten, noch unterstrichen, wie wohlgeformt sein Körper war. Und das bezog sich nicht nur auf den Teil oberhalb seines Rockbundes. Sie ließ ihren Blick nach unten wandern. Unter seinem kurzen Rock – dessen fehlende Länge legte schonungslos seinen niedrigen sozialen Status offen – konnte sie ebenso wohlgeformte Waden entdecken. Als sie ihm danach erneut ins Gesicht blickte, entging ihr seine Scham nicht. Ihm missfiel es, dass sie seine entblößten Beine sehen konnte. Natürlich wusste sie, dass kein Viri es mochte, wenn eine fremde Vassu seine nackten Beine betrachtete, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Und dieser junge Mann erweckte auf sie gerade den Eindruck, gleich in Ohnmacht zu fallen.

Sie verkniff sich ein Lächeln, denn sie war sich sicher, er würde dies nicht als Beruhigung auffassen. Bestimmt zerbrach er sich gerade den Kopf darüber, wodurch er die Aufmerksamkeit seiner Imperatra erregt haben könnte. Die Panik, die in ihm aufstieg, hatte ihn erstarren lassen. Seitdem er den Raum betreten hatte, war er stumm geblieben. Er war offensichtlich nicht in der Lage, ein Wort hervorzubringen, er hatte sogar vergessen, seinen Blick zu senken und starrte sie unverwandt an. Selbst das Zwinkern hatte er eingestellt.

„Ich danke dir, Nihafa“, antwortete sie auf die Worte seiner Mutter und dabei fiel ihr auf, dass er die gleichen grauen Augen, wie sie besaß. Aber seine Haarfarbe, dieses intensive Feuerrot, das noch nicht einmal durch den weißen Staub gedämpft werden konnte, musste er von seinem Vater geerbt haben. Es war dieses leuchtende Rot, das ihr ins Auge gefallen war, obwohl er sich tief unten in der Grube aufgehalten hatte. Dieses leuchtende Rot hatte sie so unvermittelt anhalten lassen, obwohl sie eigentlich nur so schnell wie möglich an ihr Ziel hatte gelangen wollen. Dieses leuchtende Rot hatte alles andere unwichtig werden lassen.

„Wie hoch wäre die Entschädigung, wenn du mir diesen Viri überlassen würdest? Ich meine, für immer.“ Sie hatte ihren Blick nur mit Mühe von dem jungen Viri lösen können, um sich wieder an Nihafa zu wenden. Allerdings konnte sie das abrupte Einatmen aus seiner Richtung nicht überhören. Wenn sie jetzt als nächstes hören würde, wie sein Körper auf den Teppich aufprallte, würde sie das nicht wundern. Zumindest war dieser so dick, dass er sich nicht ernsthaft verletzen könnte. Zu ihrer Erleichterung, hörte sie aber nichts dergleichen. So stark wollte sie ihn ja doch nicht verängstigen.

Seine Mutter wurde bleich. Dies waren eindeutig nicht die Worte, die sie aus dem Mund ihrer Herrscherin zu hören erwartet hatte. Nur mit Mühe gelang es ihr, eine Antwort zu formulieren. „Da müsste ich erst rechnen, Herrin. Apeam ist ein hervorragender Arbeiter und obwohl er noch jung ist, kennt er sich auf dem Friedhof bereits gut aus. Er ist gesund und kräftig und würde mir, wenn Va ihm das gewährt, noch lange zur Verfügung stehen. Ich sage das zwar nur ungern in seiner Gegenwart, aber er ist nicht so einfach zu ersetzen.“

Nydaussu wurde sich bewusst, dass sie in diesem Moment nicht nur mit einem Familienoberhaupt darüber sprach, ihr einen ihrer besseren Arbeiter abzunehmen, sondern in erster Linie mit einer Mutter, der sie ihren Ssumili wegnehmen wollte. Diese Frau wollte ihren Sohn nicht auf eine Geldsumme reduzieren und dies war etwas, was sie ihr nicht übelnehmen durfte. Sie nahm ihre Verantwortung Apeam gegenüber offenbar sehr ernst und ganz offensichtlich liebte sie ihn. Sie wollte ihn nicht gehen lassen.

Aber Nydaussu wollte diesen jungen Viri unbedingt haben, daher bot sie seiner Mutter eine Summe an, mit der sie fünf Virei für den Palast bekommen könnte. Aber sobald ihre Worte ihren Mund verlassen hatten, wurde ihr bewusst, dass ihr Angebot nicht ausreichen würde. Bevor Nihafa darauf reagieren konnte, gab sie ihr ein Zeichen, mit ihr vor die Tür zu treten.

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Apeam hatte sich schließlich doch wieder in Bewegung setzen müssen. Immer noch konnte er nicht glauben, was geschehen war. Die Imperatra hatte seiner Mutter eine enorm hohe Summe für ihn geboten, trotzdem hatte sie dieses Angebot ablehnen wollen, das hatte er ihr ohne Probleme ansehen können. Daher war er der festen Überzeugung, sie werde ihn nicht gehen lassen. Aber dann verließ sie den Raum zusammen mit der Herrscherin. Durch die geschlossene Tür bekam er nichts von dem mit, was die beiden dort draußen besprachen, aber als sie wieder zurückkehrten, war nicht nur ihm klar, dass eine Entscheidung gefallen war.

Und jeder im Raum konnte dem Gesicht seiner Mutter entnehmen, welche der beiden Vassu sich schlussendlich durchgesetzt hatte. Noch bevor Nihafa die entsprechenden Worte aussprach, kannte er ihre Entscheidung, aber er wusste auch, dass er sich nicht dagegen zur Wehr setzen konnte. Trotzdem versetzten ihre Worte ihm einen Schock. „Apeam“, wies sie ihn an, „ich übergebe dich der Aufsicht der Imperatra.“

Er wollte nicht glauben, dass seine Mutter ihn an den Palast übergeben hatte, musste es aber dennoch akzeptieren. Aber er würde niemals glauben, dass für ihre Entscheidung nur das Geld ausschlaggebend war. Die Imperatra musste sie anderweitig dazu gebracht haben, ihn aufzugeben. Vielleicht hatte sie sie unter Druck gesetzt, denn er hatte Nihafa nie Anlass gegeben, an ihm zu zweifeln und deshalb wollte er nicht davon ausgehen, sie hätte ihn tatsächlich loswerden wollen. Dann war sie vor ihn getreten und hatte ihn angeblickt, und in diesem Moment hatte er entdeckt, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Lebe wohl, Apeam, und mach uns keine Schande, mein Sohn.“ Und sie umarmte ihn, was sie in der Öffentlichkeit nicht mehr getan hatte, seitdem er fünf Jahre alt war, um sich danach schnell von ihm abzuwenden.

Und nun war er gezwungen, inmitten der berittenen Eskorte der Herrscherin, durch die Straßen von Ssuyial zu marschieren, direkt hinter dem Pferd der Imperatra. Man hatte ihm nicht erlaubt, sich zu waschen oder eine Tunika überzustreifen. So wie er aus der Grube gestiegen war, so präsentierte er sich jetzt den Augen der Stadtbewohner. Die Vassu hatten ihn zwar nicht in Ketten gelegt, trotzdem fühlte er sich wie ein Verbrecher auf dem Weg zur Urteilsverkündung, ohne sich allerdings seiner Verfehlung bewusst zu sein. Aber er wusste genau, wie er auf die Menschen wirken musste, die ihnen auf den Straßen begegneten und sich bestimmt fragten, wer er sei. Sie sahen seinen kurzen Rock, seinen nackten Oberkörper und den Schmutz, der ihn bedeckte. Er selbst wäre bei so einem Anblick ebenfalls zu der Schlussfolgerung gekommen, hier würde ein Übeltäter dem Gericht zugeführt.

Niemand außer seiner Mutter hatte mit ihm gesprochen, aber sie hatte ihm auch nichts weiter als ihre Abschiedsworte übermittelt. Von einem Viri wurde eben erwartet, dass er sich den Anweisungen der Vassu beugte, ohne sie zu hinterfragen. Aber wie konnten sie ernsthaft von ihm erwarten, sich nicht den Kopf zu zerbrechen? Wie konnten sie glauben, er würde keine Angst empfinden? Dachten die Vassu tatsächlich, die Virei kümmerte es nicht, wenn sie wie Tiere oder Dinge einfach weitergegeben wurden. Gingen die Vassu davon aus, einem Viri wäre es egal, wenn man ihn aus seiner Familie entfernte oder wenn sie mit ihm so umgingen, als habe er keine eigenen Wünsche. Er wusste, dass niemand ihn jemals danach fragen würde, aber das änderte nichts daran, dass er tatsächlich eigene Wünsche hatte. Und dazu gehörte nicht, seine Familie verlassen zu müssen. Aber außer den anderen Männern im Domuvirei hatte ihm nie jemand zugehört und niemanden hatte interessiert, was in seinem Kopf vor sich ging.

An jedem anderen Tag, hätte er es als sehr interessant empfunden, die Möglichkeit zu erhalten, den Palast nicht nur zu sehen, sondern sogar betreten zu dürfen. Seine Mutter hatte ihn immer ermahnt, seine Neugier im Zaum zu halten, aber er hatte sich trotzdem darüber gefreut, wenn er neue Dinge lernen konnte. Diese Eigenschaft hatte es ihm ermöglicht, den Friedhof so gut kennenzulernen. Das einzig Positive an seiner jetzigen misslichen Lage war, das überraschende Lob aus dem Mund seiner Mutter, bevor sie der Imperatra nachgeben musste. Ihm war nicht bewusst, wie sehr sie seine Arbeit schätzte. Aber genutzt hatte es ihm trotzdem nichts.

Aber jetzt hatte ihn jegliche Neugier verlassen. Nur am Rande bekam er mit, dass die Imperatra und ihre Eskorte die Pferde Virei überließen, bevor sie den Palast durch einen unscheinbaren Eingang betraten. Nun bewegten sie sich durch schlichte Gänge und er schleppte sich mitten unter ihnen vorwärts. Nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, überstieg schon fast seine Möglichkeiten. Für eine Betrachtung seiner Umgebung war da keine Kraft mehr übriggeblieben. Er ging einfach dorthin, wohin die anderen gingen, blieb stehen, wenn sie stehenblieben und bekam ansonsten nichts mit.

Schließlich blieben sie vor einer unscheinbaren Tür stehen und die Imperatra klopfte an. Dass die Vassu, die über das Geschick des ganzen Imperiums bestimmte, vor einer schlichten Tür wartete, bis man ihr öffnete, erregte dann doch Apeams Aufmerksamkeit. Er kannte nur einen Ort, den Vassu nicht betraten, sofern sie nicht eingeladen wurden. Einen Domuvirei.

Als die Tür sich öffnete, konnte er einen schlanken und nicht besonders großen Viri mit braunen Haaren erkennen, der sich kurz vor der Imperatra verbeugte. „Custa“, begrüßte er sie respektvoll.

„Ich würde gerne eintreten, Ssusyda“, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. Er nickte und machte ihr Platz, um die Tür direkt hinter ihr wieder zu schließen. Apeam und die Vassu, die ihn umringten, blieben draußen stehen.

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Nydaussu hatte sich auf ihrem Thron niedergelassen und wartete. Notgedrungen musste sie sich gedulden, obwohl ihr das nicht gefiel. Aber sie gab sich Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen, schließlich befand sie sich nicht alleine im Thronsaal. An den Wänden aufgereiht standen die Bellae, die Kriegerinnen, die ihre Leibwache bildeten. Auch ihre Beraterinnen - allesamt Vassu, die in der Lage waren, der Imperatra in den verschiedensten Angelegenheiten ihr Wissen zu Verfügung zu stellen, damit diese dann die richtigen Entscheidungen für das Imperium treffen konnte - waren anwesend. Allerdings wusste außer der Herrscherin niemand, aus welchem Grund sie sich hier versammelt hatten. Niemand außer ihr hatte auch nur die geringste Ahnung, auf wen oder was sie warteten. Und sie schaffte es auch nur deswegen, in scheinbarer Unbekümmertheit auf ihrem Thron zu sitzen und der Dinge zu harren, die da kommen würden, weil sie alles in Ssusydas fähige Hände gelegt hatte. Auf ihn konnte sie sich immer verlassen.

Endlich öffnete sich einer der Flügel der prunkvollen Tür, die den Haupteingang des Thronsaals darstellte und eine Bella steckte den Kopf hindurch. Sie flüsterte einer der Kriegerinnen, die im Saal Wache standen, etwas zu, bevor sie die Tür wieder von außen schloss. Die Angesprochene durchquerte daraufhin schnellen Schrittes den Saal, bis sie so nahe an Nydaussu herangekommen war, dass sie mit leiser Stimme mit ihr sprechen konnte. Die Imperatra nickte ihr ihre Zustimmung zu und während die Bella zur Tür zurückeilte, erhob sich Nydaussu. Nervös strich sie den Stoff ihrer Weste glatt, denn sie wollte für das, was gleich geschehen würde, gut aussehen. Heute hatte sie mit Absicht Kleidung angelegt, von der sie wusste, wie hübsch sie darin aussah. Dafür hatte sie aber nicht ihre prunkvollste herausgesucht, da sie eine ganz andere Art von Eindruck vermitteln wollte.

Endlich wurden beide Flügel der Tür geöffnet und jeder Anwesende konnte nun sehen, wer vor dem Saal gestanden hatte. Eine Gruppe Virei trat ein, angeführt von Nydaussus Imserviri Ssusyda und ihren gemeinsamen Söhnen, dem fünfzehnjährigen Ssulason, dem der zwei Jahre jüngere Ssulymaz folgte, der an jeder Hand einen der zweijährigen Zwillinge hielt. Sowohl Ssuttam, als auch Ssukiam, blickten sich mit aufgerissenen Augen um. Sie waren noch nie in diesem Raum gewesen. Alle vier Jungen hatten den schlanken Körperbau und die braunen Haare ihres Vaters geerbt, aber nur die beiden älteren auch seine dunkelbraunen Augen. Aus den Gesichtern der Zweijährigen blickten der Herrscherin ihre eigenen dunkelblauen Augen entgegen. Ganz am Ende der Gruppe konnte sie auch den hochgewachsenen, dunkelblonden Ssunuapo, mit seinen beiden überlebenden Söhnen, erkennen, den zwanzigjährigen Zwillingen Ssugemmu und Ssujintu, die beide ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Als sie dieser drei ansichtig wurde, verspürte Nydaussu sofort wieder den Schmerz ihres Verlustes, aber an einem Tag wie heute, wollte sie die drei nicht ausschließen. Schließlich sollte dies ein Tag der Freude für alle werden. Selbst ihr gebrechlicher Vater Ssulomenal hatte das Domuvirei für dieses Ereignis verlassen.

Die ganze Gruppe trug identische Röcke aus ungebleichtem Stoff, deren Saum über den Boden schleifte, darüber lange Tuniken aus dem gleichen Stoff und Ledergürtel mit einer großen weißen Schnalle in Form eines Wolfskopfs. Die grünen Vinculae schmückten die Handgelenke ihrer beiden Imservirei, aber auch die ihres Vaters. Ssusyda hielt etwas in Händen, das er mit einem Tuch abgedeckt hatte, aber alle wussten inzwischen, was sich darunter befinden musste. Sie hatten nur einen Blick auf den hochgewachsenen Viri neben Ssusyda werfen müssen. Die anderen Virei hatten ihn für die Gelegenheit passend ausgestattet, mit grüner Kleidung und einem Gürtel mit einer Wolfsschnalle.

Nydaussu hatte allerdings nur noch Augen für den jungen Viri, der aufrecht und mit einem Ausdruck kindlichen Staunens auf dem Gesicht näherkam. Ihr Herz ging auf, als sie seiner endlich ansichtig wurde und sah, dass er keine Angst mehr hatte. Sie liebte seinen verwunderten Gesichtsausdruck. Selbstverständlich war ihr nicht entgangen, wie er sich zum Palast geschleppt hatte, mühsam Fuß vor Fuß setzend, mit hängenden Schultern und gesenktem Blick. Ihr war bewusst, dass es grausam von ihr war, ihn im Unklaren über sein Schicksal zu lassen. Sie konnte nur hoffen, er werde ihr das verzeihen. Auch wenn er nur ein Viri war, sie wollte ihn trotzdem nicht verletzen.

Ungeduldig wartete sie, bis die ganze Gruppe vor ihr zum Stehen kam und Ssusyda das abgedeckte Tablett auf einem kleinen Tisch abstellte, den man extra für diesen Zweck neben dem Thron platziert hatte. Als er endlich das Tuch entfernte, war ihre Geduld jedoch aufgebraucht.

Sie sah Apeam tief in die Augen. Dies war nicht einfach für sie, weil er mehr als einen Kopf größer war. Aber es half, dass er seinen Blick demütig gesenkt hielt.

Die Imperatra wollte nun endlich mit der Zeremonie beginnen. „Hiermit binde und heirate ich dich.“ Ssusyda reichte ihr die Vinculae und sie fesselte die Handgelenke ihres jungen Imserviri damit. Er zeigte keinerlei Anzeichen für Unbehagen, als die Armbänder sich schlossen. Dann nahm sie den Clava entgegen und hängte den kleinen Schlüssel neben die anderen beiden an ihren Gürtel.

„Ich verspreche, dich vor allem ungerechtfertigtem Harm und Schmerz zu schützen.“ Jedes Mal, wenn sie diese Worte ausgesprochen hatte, meinte sie dieses Versprechen völlig ernst und ihrer Meinung nach hatte sie es auch an den meisten Tagen eingehalten. Zum Schluss nahm sie noch das Cultra entgegen und hängte auch das kleine Messer an ihren Gürtel.

Aber noch war sie nicht ganz fertig. „Ich benenne dich Ssupeam.“ Mit der Heiratszeremonie war der junge Viri ein Mitglied der imperialen Familie geworden und daher benötigte er einen neuen Namen, an dem jeder seinen Stand erkennen konnte.

Sie schaute sich im Saal um, sah die freudigen Blicke der Anwesenden, aber auch die Erwartungen auf den Gesichtern. „Ich weiß, es gehört sich eigentlich, ein solches Ereignis gebührend zu feiern und ich gebe euch mein Wort, dies sobald wie möglich nachzuholen. Aber nicht heute. Jetzt müsst ihr mich und Ssupeam entschuldigen.“ Mit diesen Worten ergriff sie die Handfesseln ihres neuen Gemahls und zog ihn zur Tür hinaus. Sie hatte nun Wichtigeres zu tun.

Eine Frage lag ihr aber noch am Herzen. Etwas musste sie noch in Erfahrung bringen, weil sie es in der ganzen Aufregung vergessen hatte. Während sie ihn durch die Gänge zu ihren Räumen führte, versuchte sie ihre Frage so zu formulieren, dass sie ganz beiläufig klang.

„Ssupeam, wie alt bist du eigentlich?“

Er war wohl mit seinen Gedanken ganz woanders, denn er antwortete ihr wie nebenbei. „Ich bin fünfzehn Jahre alt, Custa.“

Er sah sie bei seinen Worten nicht an und deshalb entging ihm, dass sie einen Schrecken bekam. Aber dann dachte sie daran, wie glücklich sie sich schätzen konnte, weil sie ihn nicht früher gefragt hatte. Hätte sie gewusst, wie jung er in Wirklichkeit war, dann hätte sich selbst eine inzwischen siebenunddreißig Jahre alte Herrscherin nicht mehr getraut, ihr Vorhaben durchzuführen, weil sie bestimmt Angst gehabt hätte, so töricht zu erscheinen wie Mahasa.

Ende
 
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Basti50

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Hi @Isabeau de Navarre,

bitte in Zukunft solche Verlinkung auf neuere Texte wie oben nur auf Threads beschränken, die sich mit denselben Mehrteiler befassen, nicht dem Setting.
Im Zweifelsfall, kannst du gerne in aktuellen Threads auch auf die alten Geschichten verweisen als Referenz. Sehe da keinen sinnvollen Zweck, die älteren Threads dafür immer erneut nach oben zu pushen.
 
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OK, ich werde mich in Zukunft daran halten.
 



 
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