Ochsenbacke – eine ostberliner Kindheit

rotkehlchen

Mitglied
Ochsenbackes Geburt

„Det Kleene wird ma´n juta Läufa!“
Tante Ernas übervolle Wangen glühten. Begeistert betrachtete sie den prallen Bauch meiner Mutter, der Beulen warf wie blubbernder Grießbrei.
Ich war anscheinend wieder mal unterwegs, trotz der Dunkelheit und der räumlichen Enge. Weiß der Himmel wohin, wie so oft in den letzten Stunden vor meiner Geburt. Konnte ich die Stunde Null nicht erwarten? Oder wehrte ich mich mit Händen und Füßen gegen den Rausschmiss aus dem warmen Wellnes-Bad? Oder ahnte ich, dass alles bald ganz anders werden sollte, unbequemer, unbehüteter, weniger kuschelig, zumindest nicht mehr so mollig warm? Und vor allem: Ahnte ich, dass ich es nicht mehr so vergleichsweise ruhig haben würde!
Nun ja, auch im Leib meiner Mutter war es nicht wirklich ruhig. Das brummte und knurrte, gluckerte und säuselte, lebte und webte auf verschlungenen Pfaden. Da war zunächst nur das Pochen in der Dunkelheit, unablässig, rastlos und drängend, mal leiser, wie in Gedanken versunken, mal lauter, wenn das Schiff Mutter stark bewegt war. Allmählich lernte ich die Geräusche der Finsterins zu deuten; im neunten Monat ist der Mensch kein Dummkopf mehr, und manches erklärte sich später von selbst. Zum Beispiel diese angenehm-rhythmischen Geräusche, die meinen Alabasterleib in Schwingungen versetzten: Meine Mutter trällerte ein Lied, möglicherweise die Ballade von Frauenzimmer Sabinchen aus Treuenbrietzen. Dann: Das Pfeifen, wenn sie einen fahren ließ. Oder die hohen, stechenden Töne, die mich aus meinem beschaulichen Halbschlaf weckten: Meine Mutter lachte schallend. Oder das bedrückende Zischen und Züngeln: Meine Gebärerin – auch das soll nicht verschwiegen werden – zankte sich wieder einmal mit mit ihrer Schwiegermutter oder, Himmel, mit dem Kohlenträger. Und ja, da waren noch andere Geräusche, die von außen kamen, etwa der scharfe Knall, der mich vor Schreck eine Rolle rückwärts machen ließ: Onkel Rudi entkorkte gerade eine Sektflasche. Oder ein heiteres Klingen, das mich tief bewegte: Meine Mutter spielte Gitarre. Dann war da zuweilen ein scharfes Knattern, das ich mich in helle Panik versetzte: Sie hackte Zwiebeln. Und so weiter, und so fort. Ein Mutterleib ist ein Universum für sich, ein Kosmos von unergründlicher Tiefe, erfüllt mit tausend Mysterien, für deren Ergründung neun Monate viel zu kurz sind. Vielleicht ist das ja der Grund, warum die Menschen immer auf der Suche nach Erklärungen sind für Dinge, die ihnen unheimlich vorkommen. Betrachten wir eine ziehende Elefantenherde: Welche Ruhe und Gelassenheit! Elefanten haben ja auch zweiundzwanzig Monate Zeit, sich mit den Geheimnissen der Nacht bekannt zu machen.
Meine Befürchtungen sollten sich in erschreckend kurzer Zeit bewahrheiten. Als ich in das so genannte Licht der Welt blinzelte – genauer in das unpersönlich-grelle Licht der Deckenlampen im Kreißsaal des Städtischen Krankenhauses –, war es nicht nur kalt, sondern ich erhielt auch schon die ersten Schläge. Sie vernichteten auf grausame Weise die Reinheit und Süße meines bisherigen Daseins. Tante Erna, eine Kusine meiner Großmutter väterlicherseits und von Beruf Heb-Amme, behauptete später, sie habe das tun müssen, weil ich nicht atmen wollte (Ich revanchierte mich Jahre später, indem ich ihr eine Nähnadel in den dicken Hintern rammte). Wie dem auch sei – schon damals offenbarte sich bei mir ein Charakterzug, der sich im späteren Leben als sehr nützlich erweisen sollte, nämlich: Auf Angriffe welcher Art auch immer sofort zu reagieren: Ich spuckte ihr eine Ladung Fruchtwasser ins Gesicht – hatte ich für alle Fälle mitgenommen –, und lachte sie anschließend aus. Erna, völlig überrumpelt, rief mit zornig zitterndem Doppelkinn: „Det machste nich nochmal, olle Ochsenbacke!“
So berichtete meine Mutter, aber auch, dass sie, obwohl total erschöpft, sofort streng gerufen habe: „Olle Erna, nenn det Kleene nich nich nochmal so!“ Dabei blieb es denn auch, „Ochsenbacke“, anders als „Hosenpuper“, „Lorbass“ oder Allerweltsklöterwatin“, wurde nicht familientauglich. Nur Onkel Rudi (von dem ich kaum etwas weiß, außer dass er ein starker Esser uns Witzbold war) meinte: „Watdenn, watdenn? Ick find det lustick! Gerade für so´n Hosenscheißer wie der da!“
Als ich Erna später fragte, warum sie gerade auf diesen Namen gekommen sei, meinte sie, ich habe damals erstaunlich runde Bäckchen gehabt. Na klar! Mein Mund war ja auch randvoll gewesen!
Das war also meine Stunde Null, mein erster ungewollter Kontakt mit dem so genannten Licht der Welt. Puh . . .
Fortsetzung folgt
 

rotkehlchen

Mitglied
2. Die gerettete Angst

Das Gesicht meiner Mutter, lieblich wie Engelsgesang, umrahmt von einem Kranz goldblonder Haare, schwebt über mir, darüber strahlend blauer Himmel, von keinem Wölkchen getrübt. Ich liege im Kinderwagen, und ein unendliches Wohlsein hüllt mich ein. Dann schieben sich dunkle Schatten heran: Das bunte Laub herbstlicher Bäume . . .
Einer der ersten frühkindlichen Eindrücke, an die ich mich erinnere.
Während ich dies überlese, kommen mir Zweifel, ob diese Vision echt ist oder auf späterer Einbildung beruht, ein Traumgebilde gar. Die goldblonden Haare sicherlich. Meine Mutter war, bis sie grau wurde, brünett. Für die Echtheit der Vision spricht: Das Gefühl wohliger Geborgenheit, das ich immer noch nach so vielen Jahren empfinde, wenn die Vision aus der dampfenden Schwüle einer Sommernacht aufsteigt, sowie die nicht nachlassende Intensität des Bildes. Die Verwandtschaft, die 'Muschpoke', allen voran Onkel Heribert, der ewige Zweifler (von dem noch ausführlich die Rede sein wird), hält dagegen: „Erzähl hier keene faulen Tomaten. Du warst damals noch keene zwee Jahre alt.“
„Ach, du meinst, in diesem Alter ist man so blind wie ein Maulwurf.“
„Nun übertreib mal nicht gleich. Die Weltsicht eines Zweijährigen –“
„Wer übertreibt denn hier? Gestern stand in der Zeitung, ein Dreijähriger sei von zuhause weggelaufen und habe sich in einen Zug gesetzt, um seine Oma zu besuchen. Und dann ist da die Cellistin, die mit zwei Jahren zu üben anfing und mit sechs ihr erstes Konzert gab. Genie kennt eben kein Alter.“
Also, ich bin mir sicher: Die Bäume standen auf dem Gelände des Friedrichshain – oder was davon noch übrig war – und da ging meine Mutter nach ihren Worten oft spazieren, mit mir im Kinderwagen.
Ein anderes Bild.
Die schmale Küche der Hinterhofwohnung ist erfüllt von nebelhafter, schattenreicher Dämmerung. In den Zimmerecken hausen Gespenster, im Kohlenkasten lauern schwarze Kobolde. Auch keine Einbildung: Wieder, während ich dies schreibe, sehe ich die Küche in graue Dämmernis gehüllt. War der Himmel gerade bedeckt, oder ließ der Hinterhof kaum Licht herein? Ich wollte es wissen und stattete ihm Jahre später einen Besuch ab. Ein Gewitter zog auf. Der Himmel war grau, aber der Hof geräumig, und das Küchenfenster keineswegs klein. Das war es also gewesen, ein Gewitter.
An einer Längswand schwieg sich ein unförmig grau-weißes Monstrum aus, mit schwarzen Ringen, die mich von schräg links unverwandt anstarrten: Der große Küchenherd, die „Kochmaschine“, wie ich bald lernte. Dem Ungetüm gegenüber stehe ich, auf dem Kohlenkasten mit den Kobolden, ohne Windel, denn ich erinnere mich genau: Untenherum ist mir kalt. Im Raum anwesend sind meine Mutter und deren Mutter, die bald den Namen die „schöne Oma“ erhalten wird, zur Unterscheidung der anderen, der „süßen“. Plötzlich ertönt vom Hof her ein Pfeifen, kurz darauf ein lauter Knall. Und jetzt geschieht etwas Eigenartiges: Meine Mutter stürzt auf mich zu und nimmt mich in die Arme. Während sie mich heiß und heftig an sich drückt, spüre ich deutlich ihr pochendes Herz und weiß, dass sie große Angst hat.
Onkel Heribert, der ewige Besserwisser, dreht sich im selbst gezimmerten Sarg um: Ha, Ochsenbacke, was erzählst du da?
– Nenn mich nicht Ochsenbacke, alter Onkel!
– Erzähl du keine Märchen!
– Ich erzähl keine Märchen! Hab´s doch selbst erlebt!
Was war denn überhaupt geschehen?
Die Menschheit schrieb Dezember 1946, gut ein Jahr nach meiner Geburt. Die Erinnerung an den verheerenden Bombenkrieg und besonders an den Kampf um Berlin, bei dem das, was noch halbwegs heil geblieben war, auch noch unter rasend-glühendem Stahl zu Asche und Staub zermahlen wurde, beherrschten die Gefühle der Menschen und das Alltagsleben. Doch damals fielen in Berlin weder Granaten noch Bomben, der Krieg war ja so gut wie vorbei. Als ich meine Mutter später nach diesem Heulton befragte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Heute vermute ich: Sie hatte, immer noch die Geräusche des Krieges im Ohr, geglaubt, eine Granate schlüge im nächsten Moment im Haus ein und war in panische Angst gefallen. Dabei kann es sich nur um eine vorzeitige oder verspätete Silvesterrakete gehandelt haben (nehme ich mal ungesichert an, denn dass in diesem so genannten Arbeiterviertel zu der Zeit jemand Geld für Pyrotechnik übrig hatte, scheint mir doch ziemlich zweifelhaft).
Die Angst meiner Mutter . . . Ich habe sie gerettet und halte sie, seit sie mich für immer verlassen hat, als kostbare Erinnerung zurück.


Forts. folgt
 

rotkehlchen

Mitglied
3. Erste Entdeckerlust


Ich betrachte ein altes kleines Foto, das mich mit treuem Dackelblick anlächelt: Ich, ein paar Jahre älter. Rundes Gesicht, über der glatten Stirn ein allerliebstes blondes Schmachtlöckchen. Und die Wangen . . . prall und rund wie bei einem Posaunenengel. Welch ein süßes Kerlchen! Tja, wären da nicht die abstehenden Ohren . . .
Die gute Hebe-Tante sollte übrigens Recht behalten. Es ist mir ein Rätsel, woher manche Leute ihre Weitsicht nehmen. Ich wurde nicht nur ein leidenschaftlicher Wanderer und Läufer, ich wurde ein maßloser, unersättlicher, sieghafter Wanderer und Läufer, ein rastloser Streuner vor dem Herrn. Manchmal kommt es mir in irrwitziger Selbstüberschätzung vor, die Erde drehe sich nur, weil ich sie unter meinen Füßen wegtrete. Auch jetzt noch, nach bald einem Dreiviertel Jahrhundert, laufe ich lange Strecken, am liebsten über breite Alleen großer Städte oder über schnurgerade Wege weiter Wälder, vorbei an Hunderten flackernder Lichter und dunkler Gestalten, vorbei an Dutzenden altölig riechender Dönerbuden, an Scharen traumhaft fremder Leute aus aller Herren Länder. Sogar verwinkelte Kleinstadtstraßen mit ihrer trostlosen Abgeschiedenheit schrecken mich nicht. Ich bin ein Straßenpflaster-Freak; weiß um die Qual der Straßen, wenn sie, eben erst frisch asphaltiert, aus irgendeiner Nachlässigkeit wieder aufgerissen werden. Ärgere mich über mit Öl- und Fettflecken verschmierte kostbare Terrakottaplatten, und eine kleine Abscheu gegen den gnadenlosen Kommerz der Stadt erfasst mich. Auch nach Stunden weit ausgreifenden Marschierens trotte ich nicht dahin wie ein müdes Pferd oder gedankenlos in nutzloser Anschauung gefangen; die frische Luft bringt mein Gehirn auf Touren. Gedankensplitter, klein und umtriebig wie Ameisen, lösen sich aus verborgenen Windungen; Wörter, blank wie Kieselsteine in einem Flussbett oder dunkel wie rätselhafte Weissagungen, fallen mir zu; ein vergessener Geruch weht mich an, ein liebes Gesicht taucht vor meinen inneren Augen auf – schon ist aus einzelnen Ameisen ein gewaltige Schar geworden, in der es nur so von Gedanken wimmelt, und ein Gedicht oder eine Erzählung, zum Beispiel diese, nimmt Gestalt an.

Als ich vier Jahre alt war, musste mich meine Mutter von der Volks-Polizei suchen lassen: Ich war nirgends zu finden. „Haben Se nich zufällig ´nen kleenen Stepke jesehen?“ Sie senkte die flache Hand auf Kniehöhe. „So´n kleenen mit ner Schmachtlocke und abstehenden Ohren?“ Niemand hatte. Auch bei ihrer Freundin Luzie Weißenborn, paar Häuser weiter unten, war ich nicht.
Vorübergehend wurde es Nacht im Herzen meiner Mutter. Hörte man nicht immer wieder von geraubten Kindern, besonders von kleinen, hübschen, sogar aus den Wohnungen heraus? Nun, was war geschehen? Ich hatte die beachtliche Strecke zur Oberbaumbrücke auf wackeligen Beinen abgetippelt, immerhin tausendfünfhundert Meter. Die Straße war heiß und staubig, der Geruch von blau-blühenden Benzinschwaden und kochendem Teer betäubte mich fast. Ließ mich von einem Sprengwagen der Berliner Stadtreinigung genussvoll nass spritzen. Trotz der Erfrischung fiel mir das Gehen immer schwerer. Endlich: Eine Eckkneipe. Ohne zu überlegen trat ich ein, durstig und hungrig aber glücklich. Der Dunst wechselte von blau auf grau. Dort saßen müde Männer und schweigsame Frauen oder umgekehrt, mit mürrischen Gesichtern und erschöpften Augen, allein oder zu zweit, zu dritt, den grässlichen Staub des Trümmer-Räumens auf Gesicht und Kleidern. „He, Kleena“, rief eine rostige Stimme, „suchste deine Mutta?“ Meine Antwort ist nicht überliefert, könnte aber gut und gerne ein „Nee“ gewesen sein, denn ich wusste ja, wo sie war: Zuhause. Es brauste sanft, und eine prickelnde Brause stand auf dem Tisch, ein Trink-Glas segelte hinterher. Ließ mich mit Bockwurst, Schrippe und Brause verwöhnen, die mir eine ältere Frau mit grauen Haaren spendierte und mir beim Essen mit traurigen Augen zusah.

4. Geruchswelten

Neulich ging ich mit dem Hund spazieren, an einem Stapel alter Bahnschwellen vorbei. Auf einmal wird mir warm ums Herz . . . vergessene Gerüche steigen auf . . . Für einen kurzen Moment werde ich wieder Kind . . .
Da war, ganz am Anfang, der herb-würzige Geruch der Holzgasautos, die in Ermangelung anderer Vehikel über die Straßen holperten; der trockene Staubgeruch einstürzender Hausfassaden; der milchig-weiche Duft frisch besprengter Straßen im August, der beißende Geruch gelöschten Kalkes . . . In der U-Bahn roch es anders als in der S-Bahn, und in dieser anders als in der Straßenbahn, und die roch wieder anders als der O-Bus . . . Dann der stockige Geruch des SED-Büros, in das mich die Großmutter – warum auch immer – mehrmals mitnahm.
Und in der Kirche, denn die Großmutter war sehr fromm, (und ich war damals auch noch fromm) roch es wieder anders! Das Geländer der harten Bank, auf der ich mir weniger fromme Schwielen erkniete, roch nach Schweißfingern, die Luft war gesättigt vom Duft nach Weihrauch, Naphthalin und Sonntagsbraten. Dem Streuner blieb aber auch nicht ungerochen der Gestank von Menschenkot und Hundepisse in eingeszürzten Kellerlöchern.
Und dann waren da natürlich der Geruch der Menschen, die mich umgaben, hauptsächlich Verwandtschaft, 'Muschpoke', wie sich Onkel Heribert auszudrücken beliebte – ein Sammelsurium ganz gewöhnlicher und ganz normal durchgeknallter Typen, die alle auch ihren spezifischen Eigengeruch hatten. Onkel Rudi zum Beispiel roch intensiv nach Rasierwasser, seine Frau Mirjam, die manchmal wie ein Brauereipferd furzte, nach Kuhstall. Meine Mutter roch gewöhnlich nach Lavendel und Rosmarin, deren Mutter, die „schöne“ Oma, nach Kölnisch Wasser, der Großvater nach billigem Qualster, die andere Großmutter, die „süße“, nach Kernseife und Mottenkugeln. Ha, und erst ihre Speisekammer! Um die machte ich einen großen Bogen, denn darin tobten die Gestank-Kobolde zerfließenden Harzer Käses in der Sommerhitze . . . Das Klo hinter dem Schlafzimmer roch nach –

Szenenwechsel.

Die festlich herausgeputzte Kaffeetafel neben dem knisternd-wärmenden Kachelofen. Es ist ein alter Berliner Kachelofen, mit braunen, von der Hitze gezeichneten Kacheln. Aus der Bratröhre strömt der verführerische Geruch brutzelnder Bratäpfel, denn es ist Sonntag. Die „süße“ Großmutter, in der einen Hand die große Kaffeekanne, in der anderen die Schale mit der Schlagsahne, tritt ein. Auf dem Tisch, unter der verplüschten Wohnzimmerlampe mit den Troddeln, stehen schon das alt-ehrwürdige Kaffeeservice und die Platten mit den Kuchenbergen. Die Großmutter gießt ein, der Duft köstlichen Kaffees (aus Westberlin) steigt auf und verbreitet sich, die Pfeife des Großvaters brutzelt herb-würzigen Qualster und raunt dazu eine uralte Geschichte. Ha! Diese Gerüche . . . Ein immerwährender, betörender nasaler Sinnestaumel, Herz und Seele erregend! Manchmal denke ich, der Weltgeist hat mich zunächst als Hund konzipiert, sich dann anders entschlossen und ein Menschlein aus mir gemacht, allerdings mit einer Hundenase. Groß genug ist sie ja!
Forts. folgt
 

rotkehlchen

Mitglied
5. Ochsenbacke verbrennt sich die Finger und andere Lappalien

Als ich fünf Jahre alt war, zogen wir ins Vorderhaus, zur Straße hin. Die Erinnerung an diese Wohnung ist mit mehr Helligkeit verbunden. Da die berliner Straßen meist doppelt so breit sind wie in anderen Städten der Republik und Straßenbäume fehlten, war an Licht kein Mangel. Also: Eine typische Ostberliner Vorderhauswohnung, mit Etagenklo auf „halber Treppe“: Ein Plumpsklo, eine hölzerne Sitzbank, aber schon ein Spülkasten, (dessen Kette ich in kurzer Zeit abgerissen hatte), ein Stapel Zeitungsausschnitte des SED-.Organs „Neues Deutschland“. Die „süße“ Oma, die hinter ihrem Zahnersatz eine scharfe Zunge pflegte (behauptete meine Mutter; und wenn ich Großmutters Sprüche rekapituliere, glaub ich´s sogar), kodderte kalt: „Da is de Journaille wenigstens zu was nutze!“
Über dem kleinen Flur schwebte ein so genannter Hängeboden, ein waagerechter Bretterverschlag für Koffer und andere nützliche Dinge. Dann die Küche mit Gasherd und Einbauspind. Ihr Bild beschwört eine alte Geschmackserinnerung herauf: Von Milchpulver, mit dem meine Mutter den Grießbrei anrührte und den ich heimlich aus der Tüte naschte.
In der Küche roch es ständig nach Gas. Ich wundere mich, dass damals kein Unglück passierte. Obwohl mich meine Mutter mehrmals streng ermahnte, die Finger vom Gasherd zu lassen, übte er eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Wenn ich den Deckel von einem der Brenner nahm, sah ich in einen rabenschwarzen Schlund hinein, in dessen unergründlicher Tiefe unsichtbare kleine Männchen ein Feuer hüteten. Und dann der Feueranzünder, mit dem man tolle Funken schlagen konnte. Dieser Gasherd historischer Bauart besaß natürlich keine Sicherheitsschalter.
Im Wohnzimmer war noch ein anderer Gegenstand, an dem sich meine Fantasie entzündete: Die Mutter nannte das Teil „Volksempfänger“, ein schwarzes, halbovales Gebilde mit zwei Knöpfen und einer Skala. Dieses Gerät bestärkte mich in meiner Vermutung, dass nicht nur im Gasherd Zwerge hausten, sondern auch in diesem unheimlichen „Radio“ ein Volk winziger Leute. Nur zu gern hätte ich diese Leutchen beobachtet, wie sie auf winzigen, silbernen Instrumenten eine wilde Musik machten oder, auf elfenzarten Stühlchen ernsthafte Dinge quatschten, von denen ich nichts verstand (die „süße“ Oma behauptete, „was dä da quasseln, is alles Quatsch“). Doch der unheimliche Kasten war leider hinten zugeschraubt, ich sah keine Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.
Das Wohnzimmer. Dort konnte man nicht nur wohnen, sondern man – konnte, musste – auch schlafen, und zwar in zwei Betten an den Wänden (es sei denn, man zog eine Nacht auf der Polizeiwache vor). Eines dieser Betten stand neben der wuchtigen Vitrine mit den gebogenen Glasfenstern und den Schnörkeln an den Türen, ein großes schwarzes Ungetüm, in dem ich mich gerne versteckte.
Es ist seltsam. Je tiefer ich in meiner Kindheit schürfe, desto mehr Einzelheiten tauchen auf.
Wieder einmal lag ich krank, Mumps, Röteln, Keuchhusten, Masern – weiß der Teufel welche Misere mich geschlagen hatte. Hinter mir vertickte die altertümliche Standuhr gnadenlos die Zeit, ihr schwerer Bronzeschlag jagte mir Läuse über den Rücken. Plötzlich wird es dunkel, vermutlich ein Stromausfall. Meine Mutter stellt eine Petroleumlampe mit flackerndem Zylinder auf den Tisch, mit der ausdrücklichen Vermahnung, die Finger davon zu lassen. Dann geht sie hinaus. O grause Erinnerung . . . Tödliche Langeweile quält mich, und es kommt, wie es kommen muss: Das Licht zieht mich an wie die Flamme die Motte. Kurz: Ich widerstehe nicht und ergreife den heißen Zylinder. Wieder höre ich mein entsetztes Gebrüll hinter schimmernden Milchzähnen, fühle die brennenden Finger, sehe die verbundene Hand –

Himmel, warum erzähl ich das? Nichtigkeiten, nichts als Nichtigkeiten, vom Dunst kochender Windeln umweht. Alles nichts Weltbewegendes. Müde Anekdötchen, schlappe Witze, dreistes Geflunker, das der Schreiber mit zitternder Hand –
Ja gerade deswegen. Was bewegt denn die Welt? Hunger, Vertreibung, Krieg. Gerade deshalb finde ich erzählte Nichtigkeiten, auch wenn sie nicht immer hundertpro der Wahrheit entsprechen, so wichtig. Weil man dabei unbeschwert einschlafen kann. Da fällt mir gerade ein, und wo wir schon mal dabei sind . . .
Kinderfest in der Gartenkolonie. Gebannt starre ich auf die Blaskapelle in der Musikbude. Besonders die große Tuba hat es mir angetan. Ihre Brummtöne erinnern mich an das, was der Großvater manchmal hintenherum zu Gehör bringt. Etwas beißt mich in die Wade. Ich blicke nach unten und dabei auf meine rechte Hand. Entsetzen packt mich. Meine Finger sind ja krumm! Auch bei der linken Hand ist es nicht anders. Mich beschleicht das mulmige Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmt, dass ich aus der Art geschlagen bin (mag ja sein, aber nicht da). Bisher war ich der Meinung, dass Finger gerade sein müssen. Auf die Idee, bei anderen Kindern nachzuschauen, komme ich nicht, zu groß ist meine Erschütterung. Ich mache die Finger gerade und stockele steifbeinig zur Großmutter, die gerade Möhren putzt. „Gottche, wie läufst du denn rum?“ fragt sie.
Unter tränen erkläre ich, was mich bedrückt.
Sie legt das Schälmesser beiseite und ergreift meine Hand. „Ja Kinners´che ne, ich seh nischt Schlimmet. Krumme Finger. Das ist doch janz normal!“ Sie hält mir ihre Hand hin. „Siehste? Meine sind auch krumm.“
„Ja du bist ja auch schon alt“, schluchze ich.
Eine Lappalie? Hmm . . . Warum bekomme ich diese Lappalie dann nicht aus dem Kopf. Warum sehe ich mich überdeutlich auf meine Finger starren, spüre immer noch mein heimliches Entsetzen? Weil ich zum ersten Mal in meinem jungen Leben merke, dass ich älter werde und möglicherweise dereinst genau so krumm wie der 'olle' Schubert, der ab und zu am Garten vorbei humpelt? Weiß der Teufel, sollen doch die Psychologen den Fall klären.
Lappalien, nichts als Lappalien?

6. Ochsenbacke rettet ein Burgfräulein

Tilsiter Straße 33, heute Richard-Sorge-Straße. Das Eckhaus zur Auerstraße fehlt. In der Nische ist ein kleiner Wald hoch gewachsen, der mich in seiner Düsternis entfernt an Böcklins Toteninsel erinnert. An einer Hauswand streicht ein Junge mit abstehenden Ohren entlang. Ich schätze sein Alter auf höchstens fünf Jahre. Er fängt Fliegen, denen er die Köpfe abreißt und interessiert beobachtet, wie die Viecher kopflos herumtorkeln – –

Die Straße, sonst vom Bombenhagel weitgehend verschont, lag verlassen da und schwieg sich aus. Der Krieg hatte anscheinend jede Betriebsamkeit ausgelöscht. Eine riesige Ruine mit schwarzen Schluchten und kraterübersäten Wänden erregte meine Aufmerksamkeit: Die Gebäude der ehemaligen Aktien-Brauerei-Gesellschaft-Friedrichshöhe, Ecke Landsberger Allee. Vor dem dreistöckigen Verwaltungsgebäude blieb ich häufig stehen und versuchte, sein Geheimnis zu ergründen. Da waren unter all der Bröckelei fantastische Säulen, unter der Traufe Friese mit üppig-floralen Terrakotta-Schmuck, kostbares Ziegelmauerwerk – all das beschäftigte meine Fantasie. Damals begann ich, immer öfter und immer weiter durch die Straßen des Bezirks zu wandern, ein Angewohnheit, die ich auch heute noch nicht abgelegt habe. Immer, wenn ich diese Gegend besuche, setzen sich meine Beine, ob ich will oder nicht, in Bewegung; nach einer Stunde denke ich – nein – ich befehle: Bis zur nächsten Ecke noch und keinen Schritt weiter! Doch ha!, es nützt nichts, schon taucht wieder eines dieser roten Ziegel-Wunder auf, betörendes Zierwerk hinter hohen Mauern. Ein altes marodes Fabrikgebäude, mit einem hohen Schornstein – wie? Eine stillgelegte Schuhfabrik? Eine aufgegebene Brauerei? Unsinn! Eine Burg, bevölkert mit Rittern, Knappen, Jungfrauen und allerlei fantastischen Gestalten – denn welche Brauerei hat schon Zinnen, Türme und seltsame Zeichen im Mauerwerk, welche Schuhfabrik Bäume auf dem Dach? – Das noch, nehme ich mir vor, und dann ist endgültig der Heimweg fällig – da, ein Schrei, der Hilfeschrei einer gefangenen Jungfrau in den Klauen eines Drachens mit stinkendem Atem und wütend den Boden peitschendem Schwanz – und schon setzen sich meine Beine in eilende Bewegung – ich eile zu Hilfe: Ja, mein Fräulein, ich komme, ich eile, ich fliege!
Albern?
Wie sagte doch mein Onkel Heribert einst: Ein Mann, der nicht mindestens einmal im Monat ein Burgfräulein rettet, der ist kein echter Kerl.

Forts. folgt
 

rotkehlchen

Mitglied
Intermezzo

Der sterbende Koloss

Eine Straße im Berliner Osten. Das Eckhaus fehlt und gibt den Blick auf die hintere Bebauung frei. Dort türmt sich der steinerne Leib einer Ruine, in fünf, sechs, sieben Stockwerken, gigantisch in ihren Ausmaßen, atemberaubend noch im Verfall: Ein Gebirge aus Beton, Stahl, Steinen, aus einer Zeit, als man Bahnhöfe wie Kathedralen baute und Fabriken wie antike Monumente. Das Gebäude liegt da wie ein urzeitliches Ungeheuer: Die Stein-Haut von Wind und Wetter angefressen, die Fensterhöhlen leer und schwarz, die Beton-Knochen zersplittert, das Haupt, eine hochragende Kuppel, von Zerfall gezeichnet – doch noch jetzt, im Zustand fortschreitender Zersetzung, mit seinen Erkern, Türmen, Rundbögen, Pfeilern und Säulen, ertrotzt der Koloss Bewunderung, wie man sie, erschauernd, schroffen, lebensfeindlichen Hochgebirgsregionen zollt.
Eine alte, schon vor Jahrzehnten aufgegebene Hinterhoffabrik, möglicherweise noch aus „Kaisers Zeiten“, die ihre besten Jahre lange hinter sich hatte. Eine ehemalige Druckanstalt oder eine Brauerei, weiß der Teufel, was dort einst an nützlichen Sachen hergestellt wurde. Vielleicht ist´s sogar ein ehemaliger Schlachthof, das Gebrüll der angsttollen Kreatur unhörbar noch in den Wänden. Doch seine enorme Höhe spricht dagegen, Schlachthöfe jener Zeit waren eher flach, wie weggeduckt im Häusermeer der Städte, als fürchteten sie die Rache der Tierheit. Jetzt, im Zustand des totalen Zerfalls, weist nichts mehr auf einen Zweck hin, lediglich die hohen Fensterhöhlen, ein paar eiserne Lüftungsrohre sowie ein hochragender Schornstein deuten an, dass dies kein gemütliches Wohnhaus gewesen war. Ein Schild:

Betreten verboten!

stachelt meine Neugier weiter an. Ich betrete das Grundstück durch eine Lücke im Zaun; stolpere über Berge von Schutt und Wohlstandsmüll, klettere eine Leiter hoch, die an einer leeren, scheunentorgroßen Fensteröffnung lehnt. Der Raum dahinter ist weit, mit jener Verlassenheit, die traurig stimmt, der Boden bedeckt mit Staub und Schutt, die Scheiben des gläsernen Hallendachs herunter geschlagen. An einer Wand mehrere Schaltpulte mit herausgerissenen Eingeweiden; hinter einem Wald bröckelnder Pfeiler eine eigenartige pferdekopfähnliche Maschine, unter der Decke Gestänge und Stromkabel, die im Nichts endeten – wie schon gesagt, an sich wenig Erwähnenswertes.
Und doch –
Ich stieg die eiserne Leiter wieder hinunter. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und überschüttet den Hof mit Tristesse. Überlegte ich eben noch – jenseits allen finanziellen Kalküls – ob der Patient noch zu retten sei, so sehe ich jetzt: Der Fall ist hoffnungslos. Das Krebsgeschwür des Zerstörung hat bereits ganze Arbeit geleistet.
Draußen, auf der Straße, blickte ich noch einmal zurück. Da lag der sterbende Koloss, in grandioser Einsamkeit, ein verlorener Ort, ein Lost Place, wie es heute heißt, an dem auch nicht das geringste Anzeichen einer hoffnungsfrohen Zukunft zu erkennen war. Ich komme mir vor wie jemand, der sich von einem Totkranken davonschleicht, weil er dessen Sterben nicht mehr ertragen kann.

7. Liebesknochen und andere Grausamkeiten

In der Richard-Sorge-Straße gab es lange Zeit einen Frisör, der auf seine Dienste mittels eines blanken Messingtellers über der Tür, das im Wind lustig hin- und herschaukelte, aufmerksam machte. Mit diesem Barbierteller verbinde ich die Erinnerung an meinen ersten Besuch beim Haarschneider, wobei Besuch wohl das falsche Wort ist. Es muss fürchterlich gewesen sein, für mich, meine Mutter und den Meister. Der Mann erschien mit einer spitzen Schere in der Hand – mir brannten die Sicherungen durch. Ich war felsenfest davon überzeugt, er wollte mir die Ohren abzuschneiden oder zumindest kürzen, wenn nicht gar den Kopf, und wehrte mich mit Händen und Füßen. Schließlich gelang es dem vermeintlichen Ohrenabschneider durch gutes Zureden und andere rhetorische Tricks, mich zur Ruhe zu bringen. – Ich überlege. Woran lag diese übertriebene Reaktion? Hatte ich die Angst, die in den Menschen war, über die aber niemand sprach, in mich aufgesogen? Denn noch mussten ja viele damit rechnen, als aktive Nationalsozialisten erkannt und zur Rechenschaft gezogen zu werden, andere, wie der Großvater, waren krank und lahm aus dem Krieg zurückgekommen, ich lag mit tränenfeuchten Augen da, wenn er nachts vor Schmerzen stöhnte. –

Unserer Wohnung gegenüber, auf der anderen Straßenseite, war ein Bäckerladen, in dem man eine Schrippe für einen Sechser und einen Liebesknochen für zwanzig Pfennige (ost) bekam. An der Ecke im Konsum gab es Gewürzgurken für einen Groschen. Ich denke, die meisten ahnen, was eine Berliner Schrippe ist, aber was waren Sechser und Groschen? Im Grunde ist es ganz einfach: Ein Sechser war ein halber Groschen. Und ein Groschen – richtig müsste es heißen: Groß-chen – waren zwölf alte Pfennige, und ein Sechser logischerweise sechs Pfennige. Nun war der Sechser mit der Einführung der Reichs-Mark 1871 zwar offiziell abgeschafft, aber im Volk lebte er munter weiter. Ob sich wohl nach hundertfünfzig Jahren noch jemand an die Deutsche Mark erinnert?

Viel bemerkenswerter und sogar auch schmerzlich empfinde ich die Tatsache, dass es, soweit ich sehen kann, im gesamten Bezirk heute keinen anständigen Liebesknochen mehr gibt. Dieses Brandteiggebäck mit Schokoladenüberzug und Puddingfüllung ist für mich immer noch das Sinnbild gepflegter Berliner Bäckereikultur. Natürlich werden sie noch angeboten, diese Liebesknochen, zum Beispiel auf der Warschauer Straße. Aber was stellt man mit ihnen an? Man sperrt sie tagelang in Kühltheken ein, um sie halbwegs frisch zu halten, und wenn sie dann herausgenommen werden, fangen sie an zu schwitzen, und es vergeht einem der Appetit . . .

Noch eine andere Reminiszenz meldet sich, während ich durch die Richard-Sorge-Straße schlendere. Da ist immer noch das kleine Kino, in das meine Mutter schon als junges Mädchen ging. Auch ich war einmal als kleiner 'Steppke' drin . . . Puh, was zeigten sie da . . . Der Film war grauenhaft. Ein junges Mädchen, nur mit einem durchsichtigen Hemd bekleidet, wurde abwechselnd durch Wannen mit anscheinend kochend heißem und eiskaltem Wasser getrieben. Jetzt noch sehe ich das dampfende Gebrodel und das arme Geschöpf, wie es vorangestoßen wird. Welchen Sinn diese absurde Geschichte hatte, weiß ich nicht mehr, wie ich vom Rest des Films nichts mehr weiß. Möglicherweise war es ein Märchenfilm mit einer bösen Stiefmutter, denn wer macht denn so etwas sonst. Wie dem auch sei – auch die Angst des Mädchens habe ich aufbewahrt. Das Kino habe es seitdem gemieden.

Ein kleiner Junge mit seiner Mutter kommt vorbei. Er ist vielleicht drei, vier Jahre alt. Auch ich ging damals, als ich so alt war, mit meiner Mutter hier lang. Und wieder sehe ich:
Ein Holzgasauto mit Trümmerfrauen auf der Ladefläche fährt vorbei. Auf der Straße Schienen für die Trümmerloren. Am Straßenrand Baumaterial, denn es wird nicht nur geräumt, sondern auch wieder aufgebaut. Da liegt ein Berg Bausand, daneben ein Haufen ungelöschter Kalk. Jetzt bin ich alleine. Ich stelle mich vor den Haufen und pinkle hinein. Der Kalk braust dampfend auf, es riecht eklig nach faulen Eiern . . . Alles ist wieder so präsent, als wäre ´s erst gestern geschehen.

F. f
 

rotkehlchen

Mitglied
8. Seltsame Vorkommnisse

In dieser Wohnung, in der wir zusammen mit der 'schönen' Oma bis zu unserem Umzug nach Westdeutschland im Jahre 1952 wohnten, erlebte ich einige eigenartige Dinge, von denen ich allerdings, um nicht zu ermüden, nur zwei berichten möchte. Da war zunächst die Sache mit dem Kater. Seinen Namen weiß ich nicht mehr, nennen wir ihn Murr. Murr wurde von der Großmutter ab und zu mit dem Siebenzagel, einer Peitsche mit sieben ledernen Riemen, gezüchtigt, etwa wenn er einen Rest Leberwurst aus dem Vorratsspind stibitzt hatte. Mit erhobenem Siebenzagel stürzte sie hinter dem Kater her, dann vernahm ich mehrmaliges Klatschen. Eines Abends nun geschah Folgendes: Die Großmutter, schon im Bett, döste vor sich hin, der Kater lag träge dahingeflätzt am Fußende. Von meinem Bett aus beobachte ich, wie das Tier schon seit einiger Zeit mit unheimlichen Augen auf ihren Hals starrt, und befürchte, dass gleich irgendetwas Fürchterliches passieren könnte. Da zieht die Großmutter, die schon fast eingeschlafen ist, auf einmal die Bettdecke bis zum Kinn hoch. In diesem Moment macht der Kater einen mächtigen Satz und verbeißt sich in die Decke genau da, wo eben noch die Kehle der Großmutter war.
Das andere Erlebnis ist weniger dramatisch, aber möglicherweise noch bizarrer. Im Wohnzimmer standen einige Bücher, unter anderem auch der Tom Sawyer von Mark Twain. Schon die ersten Worte machten mich neugierig.

"Tom!"


Keine Antwort.​


"Tom!"

So beginnt, wenn ich mich recht erinnere, der Roman. Gerade das Richtige für einen Leseanfänger. Wenige Worte, maximale Spannung. Kurz, ich blätterte ein wenig, las ein wenig, dann fraß ich mich durch. Da ist eine Szene, in der Tom auf mittelalterliche Weise ein Milchzahn gezogen werden sollte. Die Schnur ist schon an Zahn und Türklinke befestigt, Tante Polly gibt der Tür einen heftigen Stoß, die Tür fliegt mit lautem Knall ins Schloss. Wie von der Tarantel gestochen springe ich hoch, denn da ist deutlich eine Tür zugeknallt . . .
Der Eindruck war über die Maßen realistisch. Meine Mutter war vom Einkauf zurückgekehrt, die Zugluft hatte ihr die Tür aus der Hand gerissen.
Ähnliche Ereignisse sind mir später noch mehrfach passiert. Ich lese in einem Buch, wie jemand eine Banane isst; in dem Moment ruft meine Frau von der Küche her: „Schatz, möchtest du ein Stück Banane?“ Oder jener seltsam-kreisrunde Regenbogen mit dem gelben Vollmond mittendrin, der mich wie ein kosmisches Auge verfolgte. Seitdem fällt es mir schwer, an Zufälle zu glauben.

9. Der Leierkasten-Mann

Allmählich dehnte ich meine Wanderungen durch die Straßen des Bezirks immer weiter aus. Da war viel Zerstörung, Zerfall und Bröckelei. Ganze Straßenzüge waren ausgelöscht; ehemals verborgene Hinterhöfe prostituierten sich schamlosen Blicken. Brandmauern erglühten in der Abendsonne und rangen dem Inferno eine gewisse romantische Note ab. Architekten aus aller Welt nisteten sich in den Ruinenfeldern ein, in der Hoffnung, angesichts einfallender Altbauten könnte ihnen etwas Neues einfallen. Ganz schlimm war´s in der Frankfurter Allee: Was noch stand, wurde abgerissen. Die Gegend um den Alex war eine trostlose Stadtbrache. Politiker schlugen vor, diesen Trümmerhaufen, der sich Berlin nannte, ganz aufzugeben und in der Lüneburger Heide zwischen Soltau, Uelzen und Celle eine neue, kleinere Hauptstadt gleichen Namens zu errichten. Wiederaufbau? Unmöglich, meinten sie, diese riesige Steinwüste lässt sich nicht wieder aufzubauen. Falsch. Der ewige Wechsel von Untergang und Wiederaufbau ist das Schicksal der Städte.
Eines Tages entdeckte ich die Schönhauser Allee. Gerade donnerte eine U-Bahn (die hier als Hochbahn geführt wird) über die steifbeinige Stahltrasse. Die Schönhauser Allee war eine der wenigen berliner Magistralen, die den Krieg halbwegs heil überstanden hatten. Sofort war ich von ihrer anscheinend endlosen Geradheit fasziniert. Ein Ende war nicht abzusehen. Es muss eine dieser Straßen gewesen sein, die Mark Twain bei seinem Besuch der Stadt so beeindruckten. Die Straßen Berlins, schrieb er, gehen meilenweit immer geradeaus, dann machen sie einen kleinen Knick und gehen wieder meilenweit geradeaus.
Ich setzte mich in Bewegung, angezogen von den Tönen einer Drehorgel, im berliner Volksmund Leierkasten genannt. Ihre leicht verstimmten Klänge unter den vergehenden Gesang der U-Bahn kam mir wie eine schaurig-schöne Trauermusik vor. Wo die Straßenorgel stand, konnte ich zunächst nicht erkennen, dafür eine Gruppe von Menschen, die irgend etwas vor ihnen anstarrten. Bald war der Haufen erreicht, ich drängelte mich durch und erblickte den Leierkasten auf einem besonders niedrigen Fahrgestell, dahinter thronte der runde zerzauste Kopf des Drehorgelmannes. Ein mit Hemd und Hose bekleidetes Äffchen schlug auf dem Kasten Purzelbäume; jedesmal, wenn eine Münze klingend in den Hut sprang, klatschte es begeistert in die Hände.
Nun hatte ich schon vielen Drehorgelspielern, mit oder ohne Äffchen, zugehört; ich liebe Musik, ganz besonders die von Leierkästen, dieser altehrwürdigen berliner Institution. Hatte manchen Sechser aus Mutters Kleingeldversteck auf dem Küchenschrank springen lassen. Hatte, später, auch längere Zeit mit dem Gedanken gespielt, einen gebrauchten Leierkasten zu erwerben, und bei Geburtstagen, Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen und ähnlichen (Un)glücksfällen aufzuspielen. War allerdings dabei am dezidierten Veto meiner Frau gescheitert. „Ein Leierkasten in Ostfriesland? Was willst du denn damit? Ist so deplatziert wie ein Haifisch in einem Nichtschwimmerbecken. Da lachen ja die Hühner!“
Doch diesmal war die Szenerie alles andere als erbaulich. Nicht nur, dass mich die geringe Höhe des Aufbaus irritierte – war der Mann ein Liliputaner? Dann sein Instrument. Immer wieder setzten Pfeifen aus, es rasselte und knackte, als sei da drinnen etwas gebrochen. Jetzt stöhnte der Drehorgelmann herzzerreißend, als litte er unbeschreibliche Qualen. Sein Gesicht verzog sich zu einer verstörenden Grimasse; das blöde Grinsen einer abgestumpften Leere verzerrte seine Züge. Ächzend und stöhnend, als sei er auf eine fürchterliche Weise erschöpft, drehte er die Kurbel. Dabei schwankte sein unsteter Blick hin und her wie das ruhelose Licht eines Leuchtkäfers.
Inzwischen waren weitere Leute dazugekommen; sie drängten und schoben, sodass sich der Kreis um den Leierkastenmann immer mehr verengte. Ich stand in der ersten Reihe – möglicherweise mit offenem Mund; das Schauspiel war abstoßend und faszinierend zugleich. Der Mann drehte jetzt die Kurbel schneller, wie besessen, sein Kopf schwankte stärker, und aus seinem zahnlosen Mund brach ein irres, krankhaftes Gelächter. Da traf mich sein Blick – und ich erstarrte. Es war der Blick eines Toten. Jemand neben mir sagte: „Er ist nicht nur blind, er hat auch beide Beine verloren.“

Ähnliches habe ich viele Jahre später noch einmal erlebt. Ein grauer, offensichtlich blinder Mann stöhnte und verdrehte die Augen, währen er eine elektronische Orgel traktierte. Ein Hut lag da, Münzen klimperten.
Mich beschleicht der Verdacht, diese Darbietung könnte inszeniert gewesen sein, wie auf mittelalterlichen Jahrmärkten, wo das Blut der Geißler zuweilen Schweineblut war, ihre knotigen Peitschen locker gewirkte Hanfstricke, die Geschwüre und Pestbeulen aufgemalt. Ich mag´s nicht glauben, aber möglich ist´s; der kommerziellen Fantasie des Menschen sind kaum Grenzen gesetzt.

F. f
 

rotkehlchen

Mitglied
Das verlorene Paradies

Plötzlich war der Frühling da, die ostpreußische Großmutter hielt ihre spitze Nase in den Wind und verkündete: „Heute gehen wir in den Garten!“
Hei! Der Vorschlag der ostpreußische Großmutter kam einer Eintrittskarte ins Paradies gleich.
Ja, der Garten, dieses kleine magere Stück Ostberliner Erde, ein sogenannter Schrebergarten. (Diese Einrichtung geht auf den deutschen Orthopäden Daniel Gottlob Moritz Schreber, gest. 1861, zurück. Im Internet lese ich: Zur Gesundheitsvorsorge des 19. Jahrhunderts gehörten Licht, Luft, Sonne und Bewegung) Auch in meinem Herzen hat er einen Platz, dieser Garten; ohne seine Erfindung wäre mein Drang nach

Wetter, Regen, Wind,
die himmlischen Kind´

wahrscheinlich weniger heftig. Und auch heute noch, wenn ich an einem Schrebergarten vorbeikomme, denke ich mit Rührung an das kleine Paradies zurück.
Der Garten lag jenseits der S-Bahn-Geleise, über eine geteerten Holzbrücke hinweg und forderte mir einen Fußweg von etwa zwanzig Minuten ab. Die Straße, rechts und links von hohen und schmutzig-roten Ziegelmauern begleitet, führte mitten durch den Zentralvieh- und Schlachthof Berlin im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Wo jetzt Großmärkte und Wohnhäuser stehen, erstreckten sich damals die alten Gebäude mit ihren märchenhaften Fassaden, die mir vorkamen wie Bauwerke aus einer anderen Welt. Jedoch . . . Besonders an heißen Sommertagen war diese Welt eine olfaktorische Zumutung: Es stank erbärmlich nach Aas und Verwesung. Dazu kam das Todesangst-Gebrüll der Tiere, ein grauenhaftes Inferno.
Von der Landsberger Alle konnte ich in dieses Inferno hineinsehen; mein Blick fiel auf rohe Metzgergestalten mit roten Gesichtern und blutbespritzten Gummischürzen, die durch schwarz-schillernde Jauchepfützen stapften; in die unheimlichen Schlünde der rußgeschwärzten Hallen, in denen sich anscheinend unfassbare Tier-Tragödien abspielten – für meine zarte Seele ein kaum erträgliches Gemälde. Meine Mutter, die mit mir stehengeblieben war, erkannte meine Qual und merzte sie mit einer dicken Eiswaffel aus.
Wieder schmecke ich den Geruch von Teer in der Tageshitze – den der Holzbrücke – er ist besonders intensiv, fast betörend, mit einem herb-männlichen Beigeruch, wie ihn notorische Raucher ausdünsten, nicht so mild wie der Geruch der sonnengedörrten Dachpappe auf der Gartenlaube, die mit Apfelscheiben bedeckt ist. Seitdem ist geteertes Holz für mich eine Art Zeitmaschine; wie neulich, als mich der Zufall neben einer mit Dachpappe gedeckten Fabrikhalle vorbei gehen ließ. Wieder war ich der kleine Junge, der fliegenfangend und mit aller Zeit der Welt an der langen verstaubten Mauer entlangstreicht; auf der Holzbrücke bleibt er stehen, denn eine S-Bahn nähert sich mit dem typischen, singenden Fahrgeräusch; sie blickt ihn mit ihren großen, viereckig-traurigen Augen an (damals waren die Frontscheiben anders geformt als heute), sie dröhnt unter ihm hinweg, die Brücke zittert unter dem Ansturm ihres vibrierenden braunen Schlangenleibes, der Kleine zittert mit, berauscht von Sonne, Geruch und dem stählernen Gesang der Schienen . . .

***
Und noch ein anderes Ereignis hat sich in mein Gedächtnis eingegraben, und, wäre der Mensch unsterblich, könnte ich sagen: Für alle Zeiten. Damals begriff ich, dass das Paradies selbst zwar herrlich, aber der Weg dahin aber grausam sein kann. Dabei war der Vorgang an sich ganz harmlos und herzlich trivial: Ich beobachtete, wie eine dicke Netzspinne mit einem Kreuz auf dem Rücken eine große, gefesselte Fliege aussaugte. Die Spinne hatte zwei Krallen in den Fliegenkörper getrieben, genau unter dem dicken Kopf mit den übergroßen, geheimnisvoll schillernden Augen. Sie hielt ihr Opfer unerbittlich fest, obwohl sich die gefesselte Fliege verzweifelt wehrte. Eine helle Flüssigkeit trat aus, die Beine der Fliege strampelten verzweifelt, jetzt bewegten sich die Krallen und drangen weiter in die Fliege ein. Der Todeskampf begann, die Beinchen erschlafften, und bald war von der Fliegen nur noch eine durchsichtige Hülle übrig.
Nahm ich einen Ast und schlug das Netz kurz und klein? Beim besten Willen – ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich wird es so gewesen sein, denn meine Erschütterung hielt noch tagelang an – und währt bis heute. Neulich fiel mir ein Buch mit Bildern zur japanische Form von Fesselungsspielen in die Hand, Shibari genannt, das weniger auf Sex und mehr auf Kunstwerke aus Knoten, Seil und Mensch setzt – und wieder war alles brühwarm da: Die Brutalität der Spinne, die Hilflosigkeit der Fliege, der Abscheu, den ich empfand. Ich klappte das Buch zu und wählte eines mit weniger belastenden Bildern.
Trotzdem oder obwohl: Der Weg zum Garten war immer ein Weg ins Paradies. Ich kam aus dem ungeheuren, staubigen, kochend heißen 'Steinernen Meer' in eine kühle, winddurchwehte, duftige Oase. Die Füße eines Dreijährigen tragen nicht weit; die läppischen tausend oder zweitausend Meter erschienen ihm wie eine Reise ans Ende der Welt. Wenn es auch nicht wirklich ihr Ende war, so war es doch eine andere Welt: Faszinierend in ihrem Erlebnisgegensatz, verlockend in ihrer Andersartigkeit.
Der Schrebergarten, den die Großmutter für ein Spottgeld gepachtet hatte, barg alle Verheißungen und Geheimnisse der Natur, denn einem Dreijährigen ist noch alles ein Rätsel. Entdeckungswild kroch ich in alle Winkel dieses winzigen und doch so herrlich weiten Landes, und wo der Zaun dem Umherstreifen ein Ende setzte, begann das weite Feld der Fantasie, durchweht vom Geruch feuchtsauberer Gartenerde und reifer Äpfel – allerdings mit Einschränkungen: Ab und zu düngte die Großmutter die Salat-, Tomaten-, Kartoffelbeete mit dem Inhalt des Abortkübels.
Das alles ist verschwunden, schon vor langer Zeit dem so genannten Fortschritt geopfert; jetzt stehen da Wohnhäuser, und die Brücke aus Holz ist einer aus Stahl und Beton gewichen, die nach nichts mehr riecht. Auch der alte Gasbehälter, dessen eiserne Gerippe über den Dächern schwebte wie der Käfig eines Riesenvogels, ist nicht mehr. Nur die rote, endlos erscheinenden Ziegelmauer steht noch, windschief und teilweise rußgeschwärzt.

F. f
 

rotkehlchen

Mitglied
Intermezzo

Der flammende Tsunami

Wieder stehe ich an der Schlachthof-Mauer. Nun bin ich nicht mehr klein, aber ein kleinwenig enttäuscht. Was mir damals wie ein vielköpfiges rotes Schlangen-Ungeheuer vorgekommen war, das stolz den Schlachthof bewachte, in dem es dampfte, brodelte und brüllte: Jetzt ein Fremdkörper in einer anderen, heiteren Welt lockerer Wohnbebauung, nur vom Denkmalschutz vor dem endgültigen Verfall bewahrt. Auch die Straße ist eine andere; anstatt auf sandige Rinnen und wucherndes Gossen-Kraut blicke ich auf schnöden Asphalt. Dahin ist mein Wahn, noch Spuren meiner damaligen Tritte zu finden (nennt mich einen Narren, aber es war so); oder ein paar Kippen, wie ich sie dem Großvater damals in Ermangelung besseren Tabaks sammelte.
Immerhin sie steht noch; auch das alte Portierhäuschen ist noch da (Ecke Thaerstr./Otto-Ostrowski-Str.), aber wie sieht sie aus, die Mauer! Vom Alter gebeugt, von Wind und Wetter schwer gezeichnet, mit Moos und kleinen Farnkräutern bewachsen, an vielen Stellen aus den Fugen geraten. Der Himmel ist wolkenverhangen; die Atmosphäre bereitet sich auf den Winter vor. Auf einmal reißt die Wolkendecke auf; ein Garbe Sonnenstrahlen bricht durch und lässt die Mauer wie ein flammender Tsunami erstrahlen. Für einen Moment habe ich den Eindruck, als sei in diesem Bauwerk mit seiner Gebrechlichkeit das Schicksal dieser Stadt versteinert, das Auf und Ab ihrer Geschichte, die keineswegs sehr rühmlich ist, und von Brand und Zerstörung gezeichnet. Doch das Spektakel währt nur kurz; die Wolkenstaffeln schließen sich wieder, die Flammen erlöschen.


11. Hinterhof mit Großmutter

Neulich war ich wieder in Berlin, und meine Beine fanden, ohne dass ich groß nachhelfen musste, den Weg in die Thaerstr. 33. Die Tür im Vorderhaus war angelehnt; ich nutzte die Gelegenheit und schlüpfte hinein.
Das Treppenhaus sah fast noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte; sicherlich waren die bunten Fliesen nach sechzig Jahren Gebrauch weiter abgenutzt, die Treppenstufen weiter herunter getreten, der Lack an der Treppensäule noch weiter abgeplatzt, doch der Gesamteindruck stimmte. Da war auch noch dieselbe Tür zum Hof, dunkelgrün, mit zwei quadratischen Fenstern, deren Anblick mich damals trotz ihres strengen Blicks immer froh stimmte, denn dahinter lag ein weiteres Paradies: Die Wohnung der „süßen“ Großmutter.
Ich öffne die Tür und bleibe verdutzt stehen: Wie eng und klein der Hof doch ist. Heute weiß ich: Nur so groß, dass sich laut Hobrechts´scher Bauordnung eine Feuerspritze umdrehen ließ! Doch damals . . . Der Vorhof zum Paradies . . . Hat da nicht ein Baum gestanden? Jetzt stehen dort ein paar Fahrräder und eine Reihe überquellender Mülltonnen, die Sarkophage der Konsumgesellschaft.
Ich blicke nach oben. Da war die Wohnung der Großmutter, drei Treppen hoch; ein großes Fensterkreuz, die Küche, dann, schmal wie eine Schießscharte, das Toilettenfenster, dann, leicht über Eck, wieder ein breites Kreuz: Das Wohn-Schlafzimmer.
Eine helle Kinderstimme, meine, ruft: „Hallo Oma!“ Das Echo prallt von den Hauswänden ab und weiß nicht wohin.
Ein Fenster öffnet sich, das Küchenfenster; die Großmutter steckt den Kopf heraus und ruft fröhlich: „Ja-ha!“ Ich stoße die Tür auf und fliege die drei Treppen hoch. Die Großmutter steht schon in der Tür, in frisch gewaschener weißer Schürze und frisch ondulierten Haaren. Sie nimmt mich in die Arme und küsst mich. Sie riecht nach Sunil und Bratendunst. Die Tür zum Hinterhaus ist verschlossen. Eine kurze Weile überlege ich, ob ich irgendwo klingeln soll. Doch dann lass ich´s. Was hätte ich denn als Erklärung vorbringen sollen? Dass ich gerne die Wohnung meiner Großmutter, die dort vor einer halben Ewigkeit wohnte, besichtigt hätte? Und wenn nette Menschen mir den Wunsch gewähren würden, was wäre damit gewonnen? Eine kostbare Erinnerung wäre möglicherweise unwiederbringlich dahin; ein fremder Geruch, ein neuer Küchenschrank, eine knallbunte Tapete, die überraschende Enge der Räume – eine erneute Vertreibung aus meinem Paradies will ich mir nicht zumuten.
So sitze ich dann an meinem Laptop und hole nach, was mir vor Ort verwehrt war.

12. Eine Wohnungsbesichtigung

Links, gleich hinter der Wohnungstür, befand sich eine Art Verschlag mit einem Vorhang davor, der in diesem Mietskasernen-Typ als Vorratskammer diente. Ich ziehe den Vorhang zurück und sehe: Regalweise Eingekochtes. Großmutter kochte ein, was sich nur einkochen ließ. Tomaten, grüne Bohnen, gelbe Bohnen, blaue Bohnen – kleiner Scherz – rote Rüben, alle Arten von Obst, saure steinharte Quitten, süße rotbackige Äpfel, Birnen, Pflaumen, ja sogar harte pelzige Pfirsiche, alles, was ihr Garten hergab und was sie aus Blumberg besorgen konnte. Da standen x-Gläser mit Musen, Marmeladen, Gelees, gepickelten Gurken und lauter solche Sachen. Und natürlich Pilze in Öl oder Essig oder auch in beidem, Maronen, Pfifferlinge, was weiß ich – sie kannte sich in Pilzen aus und in bestimmten Stellen im Wald, die sie sogar mir nicht verriet („nei, nei, die verrat ich keenem nich.“ (Nur so nebenbei: Eines Tages verdarb ich mir an einer dieser Pilzkonserven dermaßen den Magen, dass ich drei Tage krank war). Aber auch Fleischliches weckte sie ein, damit es unter der berliner Augusthitze nicht verdarb. Zum Beispiel selbstgemachte Sülze. Kinder, was war das für ein Fest für den Gaumen, wenn die Großmutter Sülze kochte! Allein der frische, dampfende Sud, den ich schlürfte wie eine seltene Köstlichkeit! Und dann dieser Geruch, der die Küche erfüllte. Dieser alte, starke Geruch von ausgelassenem Schweinefett! Ein nasales Märchen. Hach, und erst ihre Rouladen! Ich erinnere mich noch sehr gut an die Rindsrouladen, die sie mir später ins Studentenheim schickte. Gott, waren das für Dinger! „Sticker“ drei oder vier, groß und kräftig, eng gepfercht in brauner Brühe und bis zum Zerfall gegart, oben auf eine dicke weiße Schmalzschicht. Die schmale Vorratskammer war voll bis unter die Decke. Nur eines fehlte noch: Ein rüstiger Esser. Der Großvater aß kaum Fleisch, die Großmutter nur wenig, und ich verdarb mir schnell den Magen.
Ich betrete die Küche. Sie ähnelt in großen Zügen der Küche, die ich schon beschrieben habe, also fasse ich mich kurz. Links der Tisch, auf dem die Großmutter das schwere, braun-schwarze „Ost“-Brot schneidet und mit zerfließendem Harzer belegt. In Armlänge weiter, an der wasserfleckigen Wand, der gusseiserne Ausguss mit dem Wasserhahn. Bizarre Vision: Die Großmutter und ich sitzen am Tisch, sie erzählt mir einen Witz, den ich nicht verstehe, und der Großvater, der kaum noch gehen kann, pinkelt in den Ausguss.
Ja, so war es, und nicht anders.

Ha, beinahe hätte ich sie vergessen! Die Nähmaschine am Fenster! Ein antikes Gerät, wie man es auf Flohmärkten antrifft oder als Deko-Utesil beim Flickschneider. Ich knie nieder, betätige das Pedalrost. Das große Schwungrad setzt sich in Bewegung, der Treibriemen surrt, die Maschine schnurrt. Immer schneller treibe ich das große Rad an. Doch irgendetwas stimmt nicht. Zu mühsam wird die Plackerei. Ich blicke nach oben: Aus dem Maschinenkopf hängt büschelweise arg verknotetes Nähgarn heraus. Hat die Großmutter geschimpft, als sie nachhause kam? Beim besten Willen – ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich genau: Als ich das nächste Mal wieder Maschinist spielen wollte, fehlte der Treibriemen.

Kopfschüttelnd gehe weiter, über den Flur zum nächsten Zimmer. Es ist eine dunkle, fast lichtlose Kammer mit einem Bett und einem wuchtigen Kleiderschrank, in dem sich verbotene Bücher befinden. Es riecht nach Abort und schlechter Luft; eine menschenverachtende Baukommission hat es einst für richtig befunden, ein WC mit einem winzigen Fenster, nur durch eine Tür getrennt an eine Schlafkammer zu platzieren. Aber immerhin: Das Klo liegt nicht mehr auf 'halber Treppe' wie bei unserer Wohnung in der Tilsiter Straße. Eine Verbesserung? Ich bin mir da nicht sicher . . . In diesem muffig-finsteren Verlies schlief die Großmutter, wenn ihr heiß geliebter Enkel zu Besuch war.

Nun die Wohnstube. Das Zimmer ist friedlich, alle Gegenstände vertraut und freundlich. Über dem Sofa ein großes gerahmtes Blumenbild: Van Goghs Sonnenblumen. Daneben der Kachelofen, dann Tisch, Stühle, Kleiderschrank, Doppelbett, darauf mein abgekautes rotes Stoffpferdchen. In der Ecke neben dem Fenster Großmutters Hausaltar: Ein Tischchen mit Kerzen, Gesangbuch, Kruzifix und Marienbild. Jeden Abend vor dem Zubettgehen betet sie dort; dann nimmt sie das Kruzifix und küsst es. Weiter schweift mein Blick, und jetzt sehe ich sie deutlich: Meine tickende Freundin, die Wanduhr.
 

rotkehlchen

Mitglied
An eine alte Wanduhr

Du hängst dort oben an der Wand,
gepflegt von Großmutters lieber Hand.
Gerade schlägst du die volle Stunde
und gibst mir von alten Zeiten Kunde:

Von glücklicher Geborgenheit,
von blauer Himmelsheiterkeit,
Von Kinderlachen, Liedersingen
und andern wundervollen Dingen. –

Wo ist die Kindheit? Graue Haare!
Doch auch die Uhr kommt in die Jahre.
Zwar geht sie noch, doch hört man schon:
Zunehmend müder wird ihr Ton.

Doch sollte sie einst ganz versagen,
ich werde es mit Fassung tragen.
Sie bleibt dort oben an der Wand -
Erinnerung ans Kinderland.​


Nein. Kein hochnäsiger Wiener Regulator mit Ross und Adler hängt da an der Wand. Ein schlichtes Modell der 1920ger Jahre, mit bescheidemen Zierrat und schödem Blech statt altweißem Emaille und poliertem Messing. Weiß Gott kein Pulsbeschleuniger für eingefleischte Uhrenliebhaber. Würde auf dem Flohmarkt, wenn´s hoch kommt, vielleicht zwanzig Euro bringen. Und doch . . . Für mich ist das Teil die Uhr aller Uhren. Ihr Schlag aufregender als der von Westminster. An keiner meiner vielen Uhren hängt mein Herz so wie an dieser. Sie hat mich als Kind in den Schlaf gesungen. Ja, gesungen. Ihr Schlag ist sanft und verhalten, fast zögerlich, mit einem schwebenden Nachklang. Nicht so herrisch-gebieterisch wie der Bronzeschlag des schwarzen Zeit-Möbels in der Wohnung der anderen, der 'schönen' Großmutter, ein breitbeiniges hönisches Monstrum. Sein unerbittlich-hartes Tickck-Tackck schüchtert mich ein. Deshalb verstecke ich mich manchmal in dem wuchtigen Vitrinenschrank mit den gebogenen Scheiben. Dort, zwischen Bettwäsche, Schuhkartons und alten Schmökern, fühle ich mich sicher. Denn, ja, in meiner Kinderfantasie habe ich Ansgt, diese Standuhr könnte mich verfolgen. Entsetzlicher Gedanke! Sie fängt mich ein, steckt mich in den Kasten, und ihr schweres Pendel schlägt mir die Nase blutig. Noch heute verstehe ich nicht, warum sich die Geißlein gerade in der Standuhr versteck haben. Da sind sie doch vom Regen in die Traufe gekommen.

Nein. Der bescheidene Regulator in diesem Zimmer macht mir keine Angst. Im Gegenteil. Er beruhigt mich. Sein mildes, leicht hinkendes Tikh-Takh wiegt mich in den Schlaf. Und morgens, beim Aufwachen, ist es wieder da: Tikh-Takh-Tikh-Takh. Ich blicke aus dem Fenster. Hoch oben in dem blauen Karree, das der Hinterhof vom Himmel freigibt, brummt ein Flugzeug. Ich recke mich wohlig. Wie schön ist doch die Welt . . .
Über die Jahre hat sich dieses Tikh-Takh in mein Gehirn regelrecht eingebrannt. Wenn die Stille in meinem Zimmer zu laut wird, weiß ich: Aha, Großmutters Uhr ist stehen geblieben. Ich ziehe sie wieder auf, aber nur das Uhrwerk, nicht das Schlagwerk. Auch stelle ich sie nicht. Wozu denn auch?


14. Eckkneipen-Nostalgie


Ecke Thaerstr. - Hausburgstr. befindet sich hinter heruntergelassenen Rollos eine ehemalige Eckkneipe, eine dieser alt-ehrwürdigen berliner Institutionen wie der Leierkasten und der Liebesknochen, die heute fast ausgestorben sind. Auch in diesem Lokal wurde schon vor Jahrzehnten das letzte Glas Bier getrunken, der letzte Korn gestürzt, die letzte Zigarette rauchtt, die letzte Bockwurst verschlungen, der letzte Strahl gepinkelt.
Alte Erinnerungen steigen auf und verweben sich zu einem unentwirrbaren Knäuel von Dichtung und Wahrheit. Die Tür löst sich auf, ich trete ein. Blauer Nebel empfängt mich, Bierdunst und kalter Zigarettenrauch. Um mich herum fröhliches Geplauder, Männer- und Frauenstimmen durcheinander. Hinter der Theke hantiert der Wirt, ein gewisser Greil, jetzt ein Schemen, gesichtslos, alterslos, schattenlos. Ich sehe aber, dass er einen dicken Bauch vor sich herschiebt und Hosenträger anhat. Der blaue Nebel verdichtet sich, nimmt Gestalt an, materialisiert sich: Die Großmutter erscheint, sie tritt sozusagen aus meiner Erinnerung hinein in die Schein-Realität; möglicherweise hat sie aber bereits dagesessen und auf mich gewartet. Beschwingt setzte ich mich zu ihr; sie nimmt mich in die Arme und flüstert: Mein Jungche, schön, dass du da bist. Wieder erschnuppere ich ihren Geruch, dieses eigenartigen Amalgam aus Kernseife, Kölnischwasser und Naphthalin, und wieder habe ich das beglückende Gefühl, zuhause zu sein.
Herr Greil erscheint und stellt dreierlei auf den Tisch: Ein Glas dünnes Bier für die Großmutter, eine Weiße mit Schuss sowie einen Teller mit Bockwurst und Schrippe für mich.
Ach, wie herrlich das schmeckt, die süße Weiße und die Wurst!"
Ein Gast mit einem Fuchsgesicht kommt vorbei, bleibt stehen und schnarrt:
Wat, der Steppke trinkt schon Bier?
Ich, dreist: Wat wolln´s denn, Meesta? Icke bin acht!; und meene Oma da passt schon uff, dass nix Schlimmet passiert!
Von wegen acht! War jerademal sechse einhalb. Berliner Schnauze hilft. Der Kerl trollt sich wortlos.
Die Großmutter stört´s nicht, und den Wirt geht´s nichts an. Schließlich bin ich in Begleitung einer Erwachsenen. Und die Schale war nur halb voll.Kinderportion.

Während ich esse und trinke, gleitet mein Blick zu dem Reklameschild an der Wand. Es zeigt ein bierseliges Gesicht unter silbergrau-glänzendem Haargewoge, das eine steife Molle präsentiert. Darunter ein Schriftzug, den ich nur schwer entziffern kann, denn er ist in seltsam verschnörkelten Buchstaben verfasst:

Schultheiss-Brauerei

Hat die Großmutter mir beim essen zugesehen? Hat sie dabei geschwiegen oder wieder einen Witz erzählt erzählt, den ich nicht verstehe? Ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich hat sie etwas erzählt, denn die Lust am Fabulieren war ihr angeboren. Möglicherweise irgendeinen unbedeutenden Schwank aus ihrer Jugend, etwa, dass sich ihre Schwester Klara über den Spitznamen 'de Klurr' ärgerte, oder dass mein Vater, wenn sie ihm 'Eirich, die Ziege pisst!' nachrief, einen roten Kopf bekam; dass sie mit zwanzig schon falsche Zähne hatte und pipapo; möglicherweise aber auch was Ernstes, etwa, dass die Regierung beschlossen hat, den Bauern ihr Land wegzunehmen, oder dass die Mark Ost vier zu eins gegen die Mark West stehe, was lächerlich sei, denn „für das Jeld hier kannste dir nix Vanünftiges kaufen.“ Sollte sie es tatsächlich gesagt haben, dann sicherlich nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern so, dass es alle hören konnten; die Gabe der leisen Rede war ihr nicht gegeben. Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht, und da ich nicht lügen will, berichte ich jetzt, woran ich mich noch genau erinnern kann, nämlich, dass mir der Name Schultheiss ein Rätsel war und offensichtlich ein Geheimnis barg.

Was zum Teufel bedeutet Schultheiss? Ich frage die Großmutter, sie weiß es nicht. Also versuche ich, mir auf eigene Faust einen Reim darauf zu machen. 'SCHUL' ist klar, eine Schule stand ja gleich nebenan, ein alter Backsteinkasten in preußischer Hurra-Architektur. Aber -THEISS? -HEISS ist leicht zu erklären, aber was ist ein SCHULT? Und was hat das mit der Herstellung von Bier zu tun? Ich überlege hin und her, bis ich das Interesse daran verliere, oder, was viel wahrscheinlicher ist, weil ich es gar nicht wissen will, denn jedes Rätsel, das man löst, macht einen um ein Geheimnis ärmer. Hätte mir damals jemand gesagt, dass „Schultheiss“ ein altes Wort für 'Schöffe' ist, für einen Mann, der Schuld 'heißt', also ausspricht, und dass der Brauereigründer so hieß – nun ja, sicherlich, das Rätsel wäre gelöst und ich jetzt um eine interessantes Erinnerung ärmer. Auch heute noch, wenn ich solch ein Schild irgendwo entdecke, steigen angenehme Erinnerungen auf. Wieder sehe ich mich mit der Großmutter in Greils Kneipe, vor mir Weiße und Bockwurst . . .

Seitdem gehört eine Bockwurst mit Bautzener Senf zu meinen Lieblingsspeisen; wenn ich sie esse bin ich wieder der kleine Steppke, der sich von der Großmutter verwöhnen lässt. Allerdings habe ich festgestellt, dass sie woanders weniger gut schmeckt, die Bockwurst, wie mir auch Weißwürste in Norddeutschland nicht behagen. Irgendwie gehört zu einem landschaftichen Gericht auch die entsprechende Luft, und in diesem Fall muss es eben die viel gerühmte Berliner Luft sein.

Geschah es wirklich so?
Was schert mich die Wirklichkeit! Ich suche nicht Wirklichkeit, sondern inneres Erleben. Damals haftete allem ein unendlicher Zauber an; nun hat dieser Zauber seine Kraft verloren. Ich fürchte, er wird auch nicht mehr zurückkehren. Oder habe ich es nur verlernt, mich verzaubern zu lassen? Vielleicht sollte ich mal wieder alte, noch vorhandene Kindheitsorte aufsuchen – sofern sie noch vorhanden sind. Aber es wird schwer werden, Staub und Schlacke vieler Jahre wegzuwischen.
F.f
 

rotkehlchen

Mitglied
Intermezzo
Ein Totengräber

Jahre später.
Es ist wie verhext. Wieder haben mich meine Beine in die Thaerstraße getragen, die Heimatkraft des Quartiers ist noch ungebrochen. Und, verdammt, wieder stehe ich vor der Tür an der bewussten Ecke. Nichts hat sich verändert, alles verrammelt und verriegelt. Gut, die Rollos sind vielleicht noch windschiefer als bei meinem letzten Besuch, und, natürlich, die Anzahl der Graffiti hat sich stark vermehrt. Auf einer der Rollläden hat irgendein Vogel einen langen schrägen Schiss platziert. Mich überkommt der unwiderstehliche Drang, eine lebende Berliner Eckkneipe aufzusuchen, dort ein Bierchen zu trinken und vergangenen Zeiten nachzuträumen. Die Tageszeit ist günstig, es geht schon auf den Abend zu, und ich habe mich durstig gelaufen. Endlich finde ich eine, war allerdings nicht leicht zu finden. Musste wieder eine ganze Weile tippeln.Sie liegt versteckt an einer Straßenecke unweit der Frankfurter Allee. Ich gehe hinein und setze mich.
Das Lokal ist gut besucht, Männer, Frauen. Der Lärm ohrenbetäubend. Die Gäste brüllen gegen die Lautsprecher der Musikbox an. Ich kneife die Ohren zu und warte. Niemand kümmert sich um mich. Am einarmigen Banditen steht ein Mann und wirft eine Münze nach der anderen ein. Er schwankt leicht. Schließlich gibt er frustriert auf. „Kein Glück heute, wie?“, rufe ich ihm zu, als er an meinem Tisch vorbeigeht.
Keine Reaktion.
Endlich erscheint der Wirt, ein noch junger Mann mit stark pomadisierten Haaren und einer schwarzen Lederschürze.
Haben Sie Schultheiss?, frage ich.
Wat Schultheiss.
Na Pils.
Nee.
Was haben Sie denn?
Astra.
Ich gebe meine Bestellung auf, ein Bier, eine Bockwurst mit Schrippe.
Ooch Mostrich?
Ich sehe den Wirt fragend an. Mostrich? Wat is denn dette?
Süßer Senf.
Aha. Ja.
Der Wirt dreht sich wortlos um und geht Sehr freundlich ist der nicht. Ein Totengräber guter Laune.
Ein korpulenter Mann mit einem wabbeligen Trinkergesicht erhebt sich schwerfällig von einem der Tische und geht leicht schwankend zum Spielautomaten. Auch er würdigt mich keines Blickes. Er wirft eine Münze ein, schon rasselt der Kleingeld-Segen ins Fach. Ein arges Null-Summen-Spiel denke ich. Was der eine verliert, gewinnt der nächste. Der lachende Dritte: Der Wirt. Doch anstatt den Gewinnst einzustecken und mindestens eine Tischrunde zu spendieren, wirft er die Münzen wieder ein, eine nach der anderen, bis keine mehr übrig ist. Ich begreife: Ein echter Spieler, dem es nicht ums Geld, sondern um das lausige bisschen Glück geht, das die rotierenden Scheiben verheißen.
Der Wirt hat inzwischen an einem der Tische Platz genommen, ein Hort dröhnender Geselligkeit Er wirft einer gut aussehenden Blondine mit tiefem Ausschnitt verliebte Blicke zu. Spitze Schreie, übertriebenes Gelächter, lautes Halloo . . . Der Wirt rückt näher, wird zudringlich. Meine Bestellung hat er anscheinend vergessen. „Nee nee nee!“, kreischt die Angehimmelte, „bleib du mal janz artig bei deiner Bärbel!“ Allmählich werde ich ungeduldig. Der Lärm, die schlechte Luft, das lange Warten, dieses deutliche Übersehenwerden ärgern mich. Schon schiebe ich den Stuhl zurück, da erscheint eine Frau, schmales hageres Gesicht, große, gesichtsbeherrschende Nase. Möglicherweise die Wirtin – vom geschätzten Alter her würd´s passen. Sie stellt das Gewünschte auf den Tisch.
Wolln Se gleich zahlen?
Es ist keine Frage, es ist eine Aufforderung – die Aufforderung, zu gehen. Mir wird klar: Ich passe hier nicht hinein. Die Leute haben den Westler erkannt. Da würde es auch nicht helfen, wenn sie wüssten, dass ich die ersten Jahre meines Lebens ganz in der Nähe Fliegen von heißen Hauswänden fing.
Ich zahlte, aß und trank zügig und suchte das Weite.
Draußen schlürfte ich dankbar die Ruhe und atmete die frische Luft mit großen Zügen ein.
Nein, das war meine Eckkneipe nicht. Gut, das Bier war ordentlich gekühlt, und bei mehr Gelassenheit hätte die Wurst auch geschmeckt.
Verdammt, da hatte ich einen Riesenfehler gemacht. Nun war eine strahlende Erinnerung durch die brutale Kraft des Faktischen blass geworden . . .

F. f
 
Hallo Berlinliebhaber,
ich bin auch eine Berlinerin, natürlich nicht hier geboren, wie alle echten Berliner. Ich denke da unter anderem an Heinrich Zille und Claire Waldorf. Ich wohne am Ostkreuz, und kenne die Gegend, über die Du schreibst.

Ich merke, dass wir beide eine gemeinsame Liebe haben. Das sind alte Berliner Fabriken. Die stärkste Stelle in Deinem Text ist die, wo Du schreibst, wie Dir das Herz bricht, wenn Du das zerfallende, dem Abriss preisgegebene Gemäuer vor Augen hast. Genauso empfinde ich das auch. Was hier auf dem Gebiet der Industriearchitektur zu finden ist, ist schon genial. Und irgendwie riecht man immer noch den Schweiß der Arbeiter, der in die Mauern eingedrungen ist.

Wenn es nach mir ginge, würde keine einzige der alten Fabriken abgerissen. Vielleicht hätte ich Kommunalpolitikerin werden sollen? Gerade diese roten Fabriken sind das Wahrzeichen unser Stadt, die immer eine Stadt der Arbeit war.

An den historischen Gebäuden Unter den Linden, dem Französischen Dom und der Staatsoper liegt mir gar nichts. Mein Herz schlägt für die alten Backsteingebäude, die mich an Kathedralen erinnern, und mir von einem vergangenen Berlin erzählen, dass ich nicht mehr kennengelernt habe.
Gruß Friedrichshainerin
 

rotkehlchen

Mitglied
15. Der Festtags-Schmaus

Wieder ist Frühling, und wieder bin ich mit ausgreifenden Schritten dem Gewühl der Stadt mit ihrer schlechten Luft entkommen, rechts neben mir hechelt der Hund, links rauscht der Fluss. Ein Gartenlokal, köstliche Fata Morgana in heißer Wüste, taucht auf, durchweht vom verlockenden Geruch edler Speisen. Ich trete ein; der Weg war lang, und die Aprilsonne meint es gut mit den Menschen. Im Schatten eines blühenden Birnbaums nehme ich Platz. Die Speisekarte. Hmm, was gibt es denn . . . Ah, dies und das . . . Ha! Gulasch mit Salzkartoffeln!

Auf einmal ist alles wieder da: Der makellos blaue Himmel, die dampfende Schüssel mit den mehlig gekochten märkischen Kartoffeln, die Terrine, randvoll mit lecker-duftenden Gulasch, der Krug mit der Limonade, der weiß gedeckte Tisch, darauf Großmutters blau-geblümtem Geschirr. Und dann der Birnbaum mit seiner schwellenden Blütenpracht. Dieser Birnbaum . . . ja, er stand wirklich da, er ist keine Anleihe bei Fontane . . .
Erwartungsvoll sitzen wir um den Tisch herum: Der Großvater Anton, die andere Großmutter, die „söne“, die schlesische, ihr Sohn, der Onkel Rudi; Tante Gattchen aus Lichtenberg, eine Kusine der „Süßen“; die Mutter, meine Wenigkeit . . . Nur einer fehlt noch; er wird auch so schnell nicht kommen: Mein Vater. Er ist noch in russischer Gefangenschaft.
Doch halt! Wo ist mein Bruder Rainer Maria? Ich blicke mich um und sehe ihn nicht, auch wenn ich mich noch so anstrenge. Dass er nicht anwesend ist, der Dreijährige, kann ich mir nicht vorstellen. Doch wo? Mir wird mit bestürzender Deutlichkeit klar, dass ich ihn in seinen ersten Lebensjahren offenbar überhaupt nicht wahrnahm. Seine Visualisierung gelingt erst, als ich ihm – o Schande, o Schmach – überredete, eine gläserne Weihnachtskugel zu verspeisen . . .
Die Großmutter hebt die Kartoffeln aus der Schüssel und gibt jedem sein Teil, dann senkt sie die Kelle tief in die Terrine mit dem Gulasch und der Soße, rührt um, und ein köstlicher Duft umschmeichelt meine Nase. Ein warmer Windstoß bringt die Blätter des Birnbaums zum Rauschen, die Sonne wärmt mir den Nacken, am liebsten würde ich in die Hände klatschen und vor Lust Hurra! Hurra! Schreien. Und ein unvergesslicher Festtags-Schmaus beginnt.

– Warum hast du es denn nicht Hurraa geschrien, Opa?
– Tja, weiß der Teufel, warum ich es nicht getan habe . . .

16. Esssitten

Betrachte die Menschen beim Essen, und du bekommst eine Ahnung von ihrem Wesen. – Da ist zunächst meine Mutter. Sie „speist“ wie eine Prinzessin, möglicherweise mit mit einem Krönchen im Haar (wie bei ihrer Silberhochzeit), mit halb geschlossenen Augen und großer Sinnlichkeit. Anscheinend hat sie eine empfindliche Zunge, sie „pustet“ vor jedem Bissen ausgiebig. Ihr Teller enthält im übrigen spatzenwenig; ein paar kleine Kartoffeln, die sie argwöhnisch beäugt, kaum Fleisch und Soße, wohl wegen der „schlanken Linie“ (wie ich alten Fotos entnehme, neigte sie schon damals, mit 32, zur Fülligkeit). Ganz anders haut Onkel Rudi, ihr Bruder, rein, aus übervollem Teller und mit Besorgnis erregender Ausdauer.
Onkel Rudi. Dieses seltene Exemplar eines sanften Mannes isst mit unersättlich-heißhungrigem Schlingrachen, wohl eine Folge von durchlittenen Hungerjahren im Krieg, oder weil er einfach ein Genussmensch ist. Mit sieghafter Miene, als habe er gerade einen neuen Kontinent erobert, schiebt er seinen leeren Teller vor, stürzt einen Humpen Limonade in sich hinein, unterdrückt einen Rülpser, blödelt: „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.“ Da sie ihre Pappenheimer kennt, hat die Großmutter reichlich vorgesorgt; eine Mangelernährung der anderen 'Mitesser' ist also nicht zu befürchten. Im Gegenteil. Die 'Süße' ermuntert ihn noch: „Iss, Rudiche, iss! Hast lange jenug verzichten missen!“
Und 'Rudiche' isst wie ein Scheunendrescher; Portionen, die ein dickärschiges Brauereipferd auf die Dauer arbeitsunfähig machen würden. Doch wo lässt er das? Unglaublich! Er ist rank und schlank wie ein Fabrikschornstein . . .
Neben ihm, kurzbeinig und breithüftig, seine Mutter, die 'schöne' Oma, die schlesische. Wie ich es auch drehe und wende: Um ihr Essverhalten zu charakterisieren finde ich nur ein Wort: Sie mümmelt. Ich schaue nach, ob das Wort auch trifft – ja, da steht: „Mümmln = mit kleinen, meist schnelleren Bewegungen über eine längere Zeit kauen". An den Zähnen kann es nicht liegen. Ich denke, dass sie, die überaus Bescheidene, jedes orale Aufsehen vermeiden will, im Gegensatz zu ihrem Sohn, der die Happen hinter blitzendem Raubtiergebiss verschwinden lässt. Auch später noch war es immer ein Vergnügen, ihr beim Essen zuzusehen, wenn sie mit vollen Wangen und vor Vergnügen glänzenden Augen kaute und kaute, sodass wir bald riefen: "Oma, willst du dich todkauen?"
Nun zu Tante Erna. Erna isst zunächst weniger als ein Eichhörnchen, also fast nichts. Die Gründe werden weiter unten erläutert. Menschen, die fast nichts essen, beim Essen zuzusehen, ist noch hirnrissiger als jemanden beim Staubwischen zu beobachten. Also gibt´s hier vorerst nichts zu berichten.
Und weiter. Der Großvater. Ich erinnere mich nicht, ob er viel oder wenig auf dem Teller hatte. Ich denke, eher wenig, denn schon damals war bekannt, dass sich Gicht und Gulasch nicht vertragen. Überhaupt Schweinernes. Bleibt noch Rindfleisch, da bin ich mir aber nicht sicher. Ich erinnere deutlich, er konnte fuchsteufelswild werden, wenn ihm etwas zwischen den Zähnen stecken blieb. Dann hielt er sich die Hand vor und begann zu polken und zu stochern. Gerade kaut er ungeduldig an einem zähen Stück herum. Vielleicht doch Rindfleisch? Jetzt blickt er sich verstohlen zur Seite, nimmt es aus dem Mund, lässt das „elende Gezatter“ unter den Tisch fallen, murmelt: „Der Teufel soll das Zeugs holen!“
Die ostpreußische Großmutter speist wie immer mit gutem Appetit, aber moderat. Dabei gleiten ihre Argusaugen eifrig über die Tafel; sowie ein Teller Gefahr läuft, Leere zu zeigen, schwingt sie Löffel und Kelle, bis der Gequälte alle Anzeichen großer Erschöpfung erkennen lässt. Diese Geberfreude wird sie jedoch nicht davon anhalten, am nächsten Tag über die Gäste herzuziehen, wobei sie auch vor scharfen Worten nicht zurückschreckt. Da fallen Ausdrücke wie Heuschrecken, Kahlfraß, Piraten, nimmersatte Muschpoke – o Gottche, ich hab mir solche Mihe jegeben, und wer dankt mir das nu? Ha! Besonders dä Rudi – –
Lassen wir das. Von den Toten nichts Schlechtes. Sie bleibt für mich, solange ich lebe, eine gute Seele. Und danach auch.

17. Ein Freipinkler

Wo bleibt eigentlich Tante Gattchen?
Die bringt gerade den Nachtisch: Pflaumenkompott mit Sahne. Obwohl die meisten schon knüppelsatt sind: Kompott geht immer. Jetzt kommt Bewegung in Tante Erna, die bisher dagesessen hat wie ein fernweltlicher Moai: Wenn sie auch Fleisch und Kartoffeln verachtet, Pflaumenkompott und Schlagsahne nicht. Im Gegenteil. Mit gierigen Augen schlägt sie sich eine Schubkarrenladung Sahne auf ihren Kompott und beginnt zu essen; lautlos, beharrlich, unstörbar. Sie stört´s nicht, dass alle auf ihre erstaunlichen Rundungen starren – ja, sie war damals schon ungewöhnlich füllig, ja, pardon, geradezu dick. Ich erinnere mich genau, denn aus diesem Grund rammte ich ihr eine Nähnadel in den Hintern. Doch davon später.
Die Großmutter nutzt die gefräßige Stille und beginnt zu erzählen. Wie meist von ihrer ostpreußischen Heimat. Von ihrem Dorf bei Allenstein. Von ihrem Bruder August, der eine kleine Landwirtschaft betrieb und so arm war, dass er sich eine Schubkarre vom polnischen Nachbarn ausleihen musste. Dass sie als kleines Kind statt an Zuckerzeug an Stoffknäueln lutschte. Von einem Verwandten, der "unter sich ließ". Dass die "olle Fleischersche" um die Ecke – – Sie erhebt sich, greift zur Kelle: "Rudiche, mechst noch ´n Schlach, zwaij, draij?", und so heiter und so fort. Alle lauschen aufmerksam, obwohl die meisten diese Geschichten schon kennen. Ihr ostpreußischer Zungenschlag ist ein Genuss. Es ist ein eigenartiger Singsang, gewürzt mit vielen näi, näi, Gottche ja, dä Soundso dä, de Eirich (ihr Sohn Erich, mein Vater), de Klurr (ihre Schwester Klara), de Kret (Kröte), dat Lorbass´che (ich), dat Marjellche (Tante Gattchen). Sie wiederholt sich häufig, aber mit stupender Genauigkeit. So weit ich mich erinnern kann ist es mir – auch bei längeren Erzählungen – nie gelunge, sie bei einer bedeutenden Abweichung zu ertappen.
Ihr zuzuhören war bis in ihr hohes Alter eine Freude. Ihr Tonfall, die wohlgesetzten Pausen, die gelungenen Pointen – selten habe ich besser erzählen gehört wie aus ihrem Munde. Mal war sie Philosophin, mal Närrin, mal Despotin – all das gehörte zu ihr wie die Flügel zum Vogel.

Das Essen und Großmutters Singsang machen müde. Onkel Rudi hat die Hände über den Bauch gelegt und starrt mit glasigen Augen ins Weite. Die 'schöne' Oma , Kopf im Nacken, schnarcht mit offenem Mund. Tante Erna kratzt gerade mit Leidenschaft die Kompottschüssel aus. Mir ist sturz langweilig.
Da steht der Birnbaum . . .
Er ist krumm und schief, gebeugt von Sturm, Alter und von der Last der überquellender Früchte. Sein Stamm ist so schief, dass ich ihn bequem und fast ohne Hilfe, allerdings unter ständigen Ermahnungen, nicht hinunterzufallen, besteigen kann. Ha! Typische Erwachsenenlogik: Als ob die hypothetische Gefahr, abzustürzen, den ideellen Zugewinn eines Blicks über den Tellerrand aufwiegen könnte! In der krummen Krone klemme ich mich in eine Astgabel. Ah, welch ein Ausblick! Herrlich! Und obwohl meine Sicht nur bis zu den nahen Gasspeichern reicht, berauscht mich die unbegreiflichen Weite der Stadt. Auf einmal kommt mir die Welt unendlich groß vor.
Ein leichtes Ziehen in meiner unteren Körperhälfte beachte ich nicht. Zu faszinierend ist der Blick über ins Weite. Doch allmählich wird das Ziehen drängender, zwingender, despotischer. Ich kneife die Beine zusammen; es nützt nichts. Verdammt, ich muss mal pinkeln, und zwar dringend. Hab ja auch ordentlich Ost-Limonade getrunken. Doch jetzt den schönen Hochsitz verlassen? Der Abstieg den blank gewetzten Stamm hinunter ist eine lausemäßig unsichere Angelegenheit. Und weiß ich, ob ich noch mal hoch darf? Ts, ts, ts . . . was mach ich bloß . . .
Ich blicke hinunter. Großmutter erzählt immer noch, als bekäme sie´s bezahlt; die Zuhörer schweigen andächtig, niemand kümmert sich um mich. Kurzentschlossen knöpfe ich mir die Hose auf und pinkele in hohem Bogen –
Ein heftiger Windstoß macht die träge Sonntagnachmittagsstimmung zunichte. Onkel Rudi springt verwirrt auf und zieht ein Taschentuch hervor. Tante Erna erkennt als erste, woher der Segen kommt und bricht in helles Gelächter aus. Meine Mutter . . . Ich entsinne mich nicht mehr, was sie sagte, aber ich erinnere mich noch sehr genau an ihr böses Gesicht. Und auch an den Kommentar, den die 'Süße' abgab: „Dat Lorbass´che, dä!“
In meiner Scham verkroch ich mich in den hintersten Winkel des Gartens. Auf dem Nachbargrundstück hackte jemand Holz. In der Ferne sang eine S-Bahn ihr einsames Lied.
Apropos S-Bahn . . .

F.f
 

rotkehlchen

Mitglied
Intermezzo


FensterFantasien


Neulich, als ich wieder einmal in Berlin unterwegs war, sah ich einen S-Bahn-Sonderzug der Baureihe 165, die, wenn mich nicht alles täuscht, noch in den 1980er Jahren in Dienst stand, und alte Erinnerungen tauchten wieder auf.
Damit ihr versteht, worüber ich rede, kurz folgendes: Die Fensterfront dieser historischen Züge ist dreigeteilt; rechts und links vom Mittelfenster befinden sich zwei weitere, und das Besondere nun ist, dass deren Oberkante nicht waagerecht verläuft, sondern nach außen hin leicht geneigt.
Es gab eine Zeit, da haben mich diese Fenster bis in den Nachtschlaf hinein verfolgt. Damals sah ich darin nicht notwendige Ausgucke für den Zugführer und seinen Begleiter, sondern ein Gesicht, und dieses Gesicht besaß etwas unendlich Trauriges, Weinerliches. Ja, weinerlich, das ist das richtige Wort. Die Bahn schien mir einen geheimen Kummer mit sich herumzufahren, den mir mitzuteilen sie keine Zeit hatte, denn sie war ja pausenlos unterwegs. Ich könnte jetzt natürlich anfügen, dass ich Erschütterung erkannte, eine Erschütterung, die er Bahn damals, nach dem Krieg, das Herumfahren in dieser unter schlimmen Kriegswunden leidenden Stadt bereitete; aber das wäre dann doch etwas zu weit hergeholt; ich glaube nicht, dass ich als sechsjähriger Steppke zu solchen Überlegungen fähig war. Geblieben ist aber immer noch die Erinnerung an das Gefühl der Niedergeschlagenheit, das mich überkam, als der historische Zug in den Bahnhof einlief und mich traurig ansah.
Überhaupt Fenster . . .
Noch heute sehe ich in Fenstern nicht verglaste Öffnungen im Mauerwerk, sondern Augen, die einem Haus ein Gesicht geben, und die mich, wenn ich durch die Stadt schlendere, auf die eine oder andere Weise anblicken. Da ist zum Beispiel der ernste Blick der Fenster mit Kreuz, die etwas Ungewollt-Weihevolles ausstrahlen. Oder die Fenster der Hinterhofkirchen, die mich mit spitzbogiger Beharrlichkeit auf die Endlichkeit allen Seins hinweisen. Manchmal bin ich kurz davor, niederzuknien, denn ich bin zwar kein kirchengläubiger, aber ein durchaus nachdenklicher Mensch. Hingegen bei Rundbogenfenstern werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen an diverse unbezahlten Rechnungen erinnern wollen. Doch das alles ist nichts gegen die mit Spanplatten verrammelten Fenster spekulativer Mietskasernen. Ach, ach, ach . . . Mit Blindheit geschlagen warten sie auf den Prinzen, der sie wach küsst. Sie warten und warten . . .
Und dann sind da noch die zerschlagenen Fenster verlassener Fabrikgebäude. Deren Fassaden sind nicht blind, sie sind aufs Grausamste geblendet, und jede Hoffnung auf Genesung ist dahin. O, welche Tragödie! Während jene noch hoffen können: Diese können es nicht mehr. Es sind steinerne Zeugen verlorener Schlachten, denen niemand ein Blick mehr gönnt.
Ja, die berliner Straßen . . .
In den 1960er Jahren zahlte der Senat den Hausbesitzern so genannte Abklopfprämien, wenn sie die Verzierungen an den Fassaden ihrer Häuser entfernen ließen. O Schande, o Schmach! Freundliches Lächeln wich trister Eintönigkeit. Ach was, nicht schade drum . . . idustriell vorgefertigter Eklektizismus, hieß es. Die Begründung war so klapperdürr wie das Wort. Auch Theatertränen gehen zu Herzen, wenn sie nur gut gespielt sind.
Doch noch ist nicht alles ist verloren. Mein Ostberlin, die Stadthälfte, die ich nicht unbedingt für die schönste, aber sicherlich für die interessanteste auf der Welt halte, existiert noch.

F. f
*
 

rotkehlchen

Mitglied
18. Das Heer der Fliegen

Neben dem schon erwähnten Birnbaum standen im Schrebergarten der Großmutter auch etliche alte Apfelbäume, die sich jedoch zum Klettern nicht eigneten. Sie wurden immer kurz geschnitten und durften nur so weit wachsen, wie der Arm der Apfelpflückerin reichte. Jeden Herbst wurde der Gärtner bestellt (oder war´s Onkel Rudi?), der sie wieder zurechtstutzte.
Ich erinnere mich noch, dass häufig das Wort 'Boskop' fiel – ich machte daraus Böskopp. Der Baum nahm´s mir offensichtlich übel: Eines Tages fiel mir ein solcher Apfel auf den Kopf. Zum Glück nicht aus großer Höhe, aber immerhin doch so schmerzhaft, dass ich noch Jahre später mit offener Freude beobachtete, wie der Baum abgesägt wurde. –
Die Großmutter pflegte aus dem Teil dieser Apfelschwemme, die sie nicht für Apfelkuchen, -studel, -mus verwenden konnte, Dörrobst zu machen. Dazu schnitt sie die Äpfel in Scheiben und legte die Scheiben auf dem Dach der Laube zum Trocknen aus. Noch heute sehe ich deutlich das Heer dicker Schmeißfliegen, die sich erhoben, wenn ich die die Leiter anlegte, um heimlich ein wenig zu stibitzen. Diese Fliegen hatten sich vorher auf dem Gemüsebeet gütlich getan, denn die Großmutter düngte den Salat, die Möhren, die Tomaten usw. mit dem Inhalt des Fäkalieneimers aus dem Abtritt hinter der Laube, so wie sie es aus Ostpreußen kannte. Das ging lange gut, bis meine Mutter eines Tages energisch einschritt. Ich bekam nämlich Windpocken, und was lag da näher, als Großmutters Dörrobst dafür verantwortlich zu machen.
Also, auf dem Dach der Laube lag Dörrobst, an der Südwand hingen Tabakblätter. Ja, es klingt unglaublich, aber damals, kurz nach dem Krieg, zogen viele Laubenpieper ihren eigenen Tabak. Ich erinnere mich noch an die hohen Pflanzen mit den großen Blättern, die der Großvater ehrfürchtig mit seinen gichtigen Händen wie eine Kostbarkeit betastete, an die Bündel von Tabakblättern, die zum Trocknen in der Sonne hingen. Inwieweit die Ernte in dem berliner Klima seine Erwartungen erfüllte, entzieht sich jedoch meiner Kenntnis. Allerdings – zufriedenstellend kann sie nicht gewesen sein, denn der Großvater, der damals noch gehen konnte, wenn auch nur an Krücken, bat mich, Kippen vom Straßenrand aufzusammeln und in eine Tabakdose zu legen.

19. Familienfotos

Um meiner verblassenden Erinnerung aufzuhelfen, bin auf den Dachboden bestiegen und habe aus der staubigen Kiste mit den Familien-Dokumenten ein paar verblasste Fotos heraus gekramt. Da sind die Großmutter, der Großvater sowie ihr Sohn, mein Vater; dann ein Hochzeitsfoto meiner Eltern. Alle starren mich aus weiß umrandeten Fenstern an, als wäre ich ihnen völlig unbekannt, und ich muss gestehen, mir geht es ebenso. Außerdem bin ich wütend. Nein, nicht wegen der komischen Blicke, da könnte ich die Fotos ja einfach umdrehen – nein, sondern weil es, wie ich jetzt sehe, ein Fehler war, sich diese Fotos überhaupt anzusehen.
Ich wusste schon, warum ich keine Familienfotos mag. Jetzt ist es zu spät. Die Fotos haben einige liebgewonnene Erinnerungen mitten ins Herz getroffen. Ich werde einige Mühe haben, die Visionen, mit denen ich Jahrzehnte glücklich gelebt habe, wieder zu reanimieren.
Ja wie sehen die Leute auch aus? Da ist das große, goldgerahmte Familienfoto aus der Wohnstube der 'süßen' Oma. Ich wische den Staub vom Glas und bin erschüttert. Der Großvater, sitzend, klein und schmächtig, wie zusammengesunken, mit leerem Blick und kahlem, kantig-schnauzbärtigem Schädel; daneben, stehend, diese Walküre von Frau: Seine. Sollte das wirklich der Großvater sein? Da hab ich ihn ganz anders in Erinnerung – nicht so unwesentlich, mehr wie ein knorriger, harter Hirschkäfer.
Und nicht einmal das kleinste Lächeln gönnt er mir, wo ich doch sein Hosenpuper war! Na gut, damals, als das Foto entstand, war er wohl schon krank, aber ist das ein Grund, seinem Enkel, wenn´s schon kein Lächeln sein soll, nicht wenigstens ein halbes Auge zuzukneifen?
Und dann, herrje, dieser Jüngling in Reichswehruniform, stramm die Haltung, stramm der arrogant-gelangweilte Blick – schaut, schaut, ich bin für was Besseres bestimmt! Wartet nur ein Weilchen, ei, dann bin ich General! Vater, Vater, was siehst du mich so an? Ich kann nichts dafür, dass du´s nur bis zum Gefreiten gebracht hast und dich auch noch gefangen nehmen ließest!
Ich plaudere jetzt mal aus einem Nähkästchen, das in eine andere, spätere Zeit gehört und nicht in die, welche hier zur Debatte steht. Trotzdem tu ich´s. Denn

wer hat sein Schicksal so in Händen doch
dass er könnt sagen: Morgen leb ich noch?

Und da ist niemand, der diese Geschichte zu Ende erzählen könnte.

F. f
 

rotkehlchen

Mitglied
Mein Vater


Also, Vater. Sag mal, war das der Grund, warum du über die glorreiche Zeit nie geredet hast? In puncto Krieg und Gefangenschaft warst du ein großer Schweiger vor dem Herrn! Und, Hand aufs Herz, auch später wollte es mit der Karriere nicht so recht klappen. Jetzt, wo du tot bist, kann ich´s ja sagen: Du warst der geborene Versager. Musstest dir von deinen minderjährigen Söhnen Geld leihen! „Ach, Kinder, bis übers Wochenende! Dann kriegt ihr´s zurück!“ Pah! Von wegen! Nichts haben wir zurückgekriegt, der Krieg war nämlich aus! Ja wie geht denn sowas, dass sich ein Vater – – Ha, das geht so: Der Vater hat nicht nur seinem Herrgott eifrig gedient, sondern auch den Wirten am Platze, und nicht zu knapp! Gut, gut, du hast mehrmals versucht, Tritt zu fassen, Vater, zum Beispiel, als du dich selbständig machtest. Was haben wir uns gefreut! Endlich waren wir wer! Es ließ sich zunächst ja auch alles sehr vielversprechend an, bis spätabends saßest du im Geschäft, hattest sogar einen Angestellten! Doch dann lagst du eines Montags morgens um zehn noch mit dickem Kopf im Bett, die Stube roch nach Alkohol wie ein leeres Whiskyfass, kamst nicht aus den Federn, die Kunden klopften an die geschlossene Ladentür! Au Backe! Da hättet ihr mal meine Mutter hören sollen! Wie eine Furie ist sie auf ihn los, und einen Krach hat´s gegeben wie noch nie, sodass ich dachte: Heiraten? Pfui Deibel, ich doch nicht! Nie! Nur genützt hat er nix, der Vorsatz. Ich hab geheiratet, und noch nicht mal schlecht. Mein Vater hat nie begriffen, dass zunächst die Arbeit kommt, und mit der Arbeit der Schweiß, und dann erst das Bier und die Haxen mit Kraut. Aber Sprüche kloppen wie: Wer nix erheiratet oder ererbt bleibt n armes Luder, bis er sterbt, das konnte er!

Als es immer weiter wirtschaftlich mit ihm bergab ging, gelang ihm, was seinerzeit nicht geklappt hatte: Die Flucht. Er setzte sich ab, und zwar in ein nahes und, ach, doch so fernes Land, in die Parallelwelt der katholischen Kirche. Nach seinem Herzinfarkt ging er in Frührente und wurde Diakon, gewiss eine ehrenwerte Tätigkeit. Ein großer Beter war er immer schon gewesen, warum auch nicht, es gibt schlechtere Freizeitbeschäftigungen mit noch weniger realem Nutzen. Doch mir persönlich wäre lieber gewesen, er hätte über das ora das labora nicht vergessen. Und was mich noch mehr erstaunte: Plötzlich wurde er ein Menschenfreund und betreute Alte und Kranke. Kaum zu glauben, denn betonte Nächstenliebe hatte ich bis dato noch nie an ihm beobachten können, er war eher einer vom Stamme Nimm. Ich vermute mal, er hatte gehofft, seine Kirche würde sich revanchieren, wenn es ihm selbst einmal dreckig ginge. Pustekuchen, hat sich was! Die hat ihm was gehustet, seine Kirche, und zwar gründlich! Als er wieder einmal zahlungsunfähig war und am Telefon um Geld bettelte, rief ich bei seinem Pfarrer in dem oberbayerischen Kaff an und fragte, was denn da los sei. Na, da bekam ich was zu hören! Die Auskunft gipfelte in dem Satz: „Ihr Vater soll endlich mal mit dem Arbeiten anfangen!“ Das Ende vom Lied: Wieder einmal musste einer seiner Söhne einspringen, nämlich mein Bruder, und seine vermaledeiten Schulden begleichen! Vater, ruhe in Frieden!


Gut, wir wollen nicht ungerecht sein und kein falsches Zeugnis ablegen. Wer bin ich denn, dass ich über meine Eltern zu Gericht sitze. Ich berichte, ich richte nicht, und wenn es sein muss, berichtige ich, ohne mir einen Zacken aus der Erzähler-Krone zu brechen. Und so muss ich an dieser Stelle ergänzen, dass mein Vater nicht die Alleinschuld an dieser Misere trug. Meine Mutter hat auch nichts getan, ihm unter die Arme zu greifen, und das Schicksal zu wenden, wie man so schön sagt. Zum Beispiel, indem sie sich mal um die Finanzen kümmerte. Als sie älter wurde, ging ihr alles am Arsch vorbei, etwa, dass sie Rechnungen ignorierte, oder, dass ihr Mann mit bekleckertem Pullover und zerbeulten Hosen in der Kirche Diakon spielte. Die Blicke der hohen Geistlichkeit hättet ihr sehen sollen! Einmal war ich dabei und schämte mich in Grund und Boden.

Meine Mutter.

Das Foto zeigt eine hübsche pausbäckige junge Frau, mit selbstverliebtem Blick, für meinen Geschmack ein wenig zu rundlich – na gut, in Notzeiten hat Mann´s gern etwas fülliger, außerdem war´s nicht mein Bier. (Meine Mutter hat später das Wort 'dick' konsequent abgelehnt, sie bezeichnete sich, als sie wirklich dick wurde, immer als 'vollschlank'.)
Und da ist dieses Krönchen im Haar. Wenn ich meine Mutter mit einem Satz charakterisieren sollte, würde ich sagen: Ein phlegmatische, selbstverliebte Frau mit Krönchen im Haar. Zu ihrer Silberhochzeit trug sie´s immer noch. Schwamm drüber.
Seltsam. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich eine andere Gestalt vor mir: eine junge Frau in einem geblümten Sommerkleid, die aus dem Fenster unserer ersten Wohnung in Westdeutschland schaut und mir, der ich gerade auf der Wiese vor dem Haus Blumen pflücke, zuwinkt.
Hmm . . . Ein bisschen wenig für eine Mutter. Ich gestehe mit Erröten: Zu meiner Mutter fällt mir im Moment nicht viel ein. Gut gut, da sind schon ein paar Situationen, an die ich mich noch erinnere. Zum Beispiel, dass sie mir, als ich krank im Bett lag, Schaumküsse mitbrachte. Aber sie selbst hat mich, soweit meine Erinnerung reicht, nie geküsst. Lag wohl daran, dass wir aus zwei verschiedenen Ställen stammten. Oder, dass sie einmal, als es zum Pilzesammeln in den Wald ging, Stöckelschuhe anzog. Es kam, wie es kommen musste: Nach zehn Metern schwankender Stolperei verstauchte sie sich einen Knöchel, und die schönen Pilze blieben ungesammelt. Mein Vater bekam einen Hals, dass ich dachte, gleich fällt er um. Es war nicht das erste Mal, dass sie hochhackig spazieren ging. Lassen wir das. Von den Toten soll man nichts Schlechtes reden.
Es fehlen noch: Der andere Opa, seine Frau, die schlesische Großmutter, genannt die 'schöne Oma', und die ostpreußische, die 'süße'.
Zur 'Schönen' gibt es ebenfalls nicht viel zu sagen, in meinem Leben hat sie kaum eine Rolle gespielt, dazu war sie mir zu 'omahaft', will sagen: Zu langweilig. Sie und meine Mutter gehörten einem anderen Menschenschlag an. Nur so viel: Als sie 1962 von Ostberlin zu meinen Eltern 'in den Westen machte', erwies sie sich als ziemlich rechthaberisch und streitsüchtig. Außerdem war ihre persönliche Sparsamkeit manchmal schwer erträglich; in ihrer späteren Wohnung verbrachte sie die kalte Jahreszeit in einer Art Winterstarre: Im Bett und bei einer brennenden Glühbirne, die wie ein ausgerissenes Auge von der Decke hing, als Heizung im ungeheizten Zimmer. Jedoch, sie war keineswegs geizig, zumindest mir gegenüber. Als mir einmal der Motor einer Studentenkutsche verreckte, war sie es, die einen neuen finanzierte. Danke, schlesische Großmutter!

Zum 'anderen' Opa.

Jetzt wird es in meinem Oberstübchen rabenschwarz. Hat dieser Vorfahr überhaupt gelebt? Dass meine Mutter existierte, besagt nichts. Ein handwerklich begabter Mann soll er gewesen sein, wusste einer; ließ sich von seiner Frau scheiden, flüsterte ein anderer. Ach was!, er kam nicht mehr aus dem Krieg zurück, orakelte Tante Gattchen. Die ostpreußische Großmutter setzte augenzwinkernd noch einen drauf: „Dä Lorbass is mit ´ner neuen Braut jetirmt.“, will heißen: Er hat sich in den Westen abgesetzt. Seine Frau, die es ja wissen musste, schwieg sich hartnäckig aus. Dokumente über ihn finde ich nicht: Ein Schattenmann. Vielleicht stimmt ja alles, und wir lassen ihn mit oder ohne neue Braut in Frieden ruhen.
Je länger ich über diese Dinge nachdenke, desto mehr beschleicht mich so ein komisches Gefühl – hat von der Muschpoke überhaupt jemals jemand die volle Wahrheit erzählt? Vielleicht hat es diesen Großvater ja in Wirklichkeit nie gegeben, und meine Mutter war ein vom Himmel gefallener Engel! Dem Namen nach könnte es stimmen – Luzie, die Leuchtende, die Lichtträgerin. Na ja, eine Lichtträgerin muss im Leben nicht unbedingt eine Leuchte sein. Gut, auch sie ruhe in Frieden.

Die andere Großmutter, die ostpreußische, die 'süße'.

Da steht sie, Mann und Sohn leuchtturmhoch überragend, mit tadellos aufrechter Haltung und einem Gesicht, wie geformt aus Kernseife und Kragenstärke. Sie blickt mich an, und ich höre eine Frage: Na, mein Jungche, erkennst du mich? Und ich antworte wahrheitsgemäß: Nein, Großmutter, ich erkenne dich nicht! Dein Gesicht ist mir so fremd!
Schön. Beim zweiten Hinsehen kommt es mir doch schon irgendwie bekannt vor, sagen wir wie das einer fremden Frau, die man zufällig auf der Straße trifft, und von der man hinterher sagt: Verdammt! So ähnlich muss die Großmutter ausgesehen haben.
Ein anderes Foto, aus ihren jüngeren Jahren: Wie Millionen Frauen zu der Zeit, nicht hübsch, nicht hässlich, ganz passabel, aber ihr Blick! Dieser Blick irritiert mich doch sehr! Ist das wirklich die Großmutter, die da an mir vorbeisieht? Die ich in Erinnerung habe? Dieser Blick ist auf eine verstörende Art herrisch.
Stimmt es also doch, was meine Mutter erzählte? Dass diese Frau ein Aas sein konnte, ein herrisches Aas, das sich nicht zu schade war, ihrem heranwachsenden Sohn vor allen Leuten mit dem nassen Lappen ins Gesicht zu schlagen? Dass sie beim Essen erzählte, ihr Sohn sei in der vierten Klasse sitzen geblieben, und der Sohn, o Schande, o Schmach, sitzt mit hochrotem Kopf daneben? Dass sie, wenn der Besuch wieder weg war, mit ihrer 'spitzen Zunge' über diese Leute herzog, die sie eben noch fürstlich bewirtet hatte? Sicherlich hatte sie eine spitze Zunge, warum auch nicht. Eine spitze Zunge ist allemal besser als ein stumpfes Herz. Ob es stimmt weiß ich nicht; ich habe ihre Zungenspitze nie gesehen, also muss die Frage ungeklärt bleiben.
Schockiert drehe ich das Bild wieder um. Nein, das ist nicht meine Großmutter, mit dieser grässlichen Gouvernante will ich nichts zu tun haben! Vielleicht war´s ja von meiner Mutter frei erfunden, als Rache dafür, dass diese Großmutter sie nie akzeptiert hat. Meine Großmutter war ganz anders, lustig, gütig, verzeihend, hatte immer eine Überraschung im Köcher, war eine, die mit mir im Garten herumtollte und mich kitzelte, bis ich vor Lachen nur noch so japste. Und vor allen Dingen: Spendabel, spendabel! Die mit mir Kastanien sammelte, damals, in diesem heißen 'Kastaniensommer', als überall die Kastanien herumlagen, diese runden glatten gelbäugigen Kostbarkeiten! Natürlich, die Preise waren verdorben, wie konnte es auch anders sein, schließlich bestimmt das Angebot den Preis, heißt es doch, und als sie uns im Zoo ein beleidigendes Angebot machten, schütte die Großmutter dem Kerl den Sack vor die Füße, schnauzte: „Na dann eben nich“, gab mir fünf Mark und ging mit mir Eis essen. Und was hat sie mir nicht alles geschenkt! Also, von wegen Aas!
Und doch . . .
Liegt da nicht ein klein wenig ostelbische Gutsfrauenart in ihrem Blick? Und wenn ich ehrlich bin, nicht nur in ihrem Blick. Da ist auch die Geschichte vom Strümpfekauf. Doch davon später.

F. f
 

rotkehlchen

Mitglied
Intermezzo

Die „süße“ Oma reißt Witze

Draußen läuten gerade die Glocken, und mir fällt etwas anderes ein. Ich ringe mit mir, ob ich es erzählen soll, denn es ist nicht besonders stubenrein, und ich fürchte, damit mach ich mir keine Freunde. Wenn ich´s trotzdem tue, dann nur, um das Charakterbild der Großmutter zu ergänzen. Also: Viele Jahre später – da war sie schon weit über achtzig und ich längst aus den Kinderschuhen herausgewachsen – fragte sie mich in ihrem singenden Tonfall über ihre Kaffeetasse hinweg (und ich vermute, wieder läuteten irgendwo die Glocken): „Jungche, weißt du, was der kleinste Dom ist?“ „Nein.“ „Ä Kondom. Passt nur einer rein, und dä Glocken hängen draußen!“
Ein andermal, – aber das gehört eigentlich schon in eine spätere Zeit, aber sei´s drum, wer weiß, ob ich´s dann noch berichten kann – als ich sie mit meiner Verlobten besuchte und wir am reich gedeckten Abendbrottisch saßen, meinte sie: „Jungche, nimm doch noch Wurscht! Von Marmelade steht kein Pimmel gerade!“ Sie hatte schon zwei, drei Kognaks gekippt und wurde immer redseliger. Auf einmal fing sie, mit dem leeren Kognakschwenker in der Hand gestikulierend, laut an zu singen:

Die Augen blau vom Raufen,
Die Nasen rot vom Saufen,
Die Haare weiß vom Huren:
Das sind die Farben von Masuren!

Sie nahm eben kein Blatt vor den Mund. Was raus musste, musste raus. Und so lebte sie, bis sie mit vierundachtzig an Magenkrebs starb.
Da fällt mir eine andere Episode ein.
Die politischen Witze, die mir die Großmutter erzählte, sagten mir nichts. Trotzdem habe ich einige in meinem Gedächtnis konserviert, möglicherweise wegen des Geruchs, der sich bei ihrer Erzählung in der Küche ausbreitete. Die Großmutter hatte nämlich die Angewohnheit, ihren Harzer Roller in ein Weckglas einzuschließen und das Glas in einem Regal im Flur aufzubewahren. Da sie keinen Kühlschrank besaß – obwohl damals schon VEB-Kühlschränke der Marke „Kristall“ erhältlich waren – entwickelte sich der Käse bei hochsommerlichen Temperaturen zu einer zerfließenden Masse mit einem Aroma, das ein Nashorn umhauen konnte. Die Großmutter öffnete also das Glas und fragte mich, ob ich die kürzeste Zeiteinheit der 'Ostzone' schon kenne. Ostzone. Sie sprach diese Bezeichnung übrigens immer mit herablassender Betonung aus, ein Seitenhieb auf Onkel Heinz (von dem noch die Rede sein wird), der einen roten Kopf bekam, wenn jemand Ostzone oder SBZ sagte, wie es bei uns üblich war.
„Nein, Oma“, sagte ich wahrheitsgemäß.
„Das ist ein Ulb.“
„Ein Ulb? Was soll das denn sein?“
„Das is dä Zeit vom Beginn einer Ulbrichtrede bis zum Abschalten des Radios.“
Ich verstand nicht und fragte: „Und wie lang ist die?“
(Der damalige Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht galt als 'Erfinder' der Berliner Mauer).
Es war ein oder zwei Jahre nach dem Mauerbau. Großmutter und ich saßen in der Straßenbahn, auf dem Weg zu ihrer Schwester Anna, die schon seit einer halben Ewigkeit in einem Altersheim in Berlin-Buch lebte. Die Bahn klingelte und ratterte so vor sich hin. Auf einmal blickt mich die Großmutter unter ihrem Kapotthut schelmisch grinsend an und sagt so laut, dass es noch drei Sitzreihen weiter weg zu hören ist: „Dä Regierung behauptet, dä Mauer is dicht. Nä, nä, nä, das stimmt nich.“
„Warum denn nicht?“
„Dä Mauer hat ä Loch.“
„Wo denn, Oma?“
„Nix wo.“
„Aber du sagtest doch gerade –“
„Dä dä dä Mauer! Dä Mauer is weiblich.“
Ich weiß hundertpro, dass ich nicht gelacht habe, denn ich wusste gar nicht, wovon sie sprach.
Aber so war sie eben, die ostpreußische Großmutter. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, auch nicht vor Heranwachsenden.
Es war brandgefährlich. Aber was raus musste, musste eben raus. Es war ihr Kommentar zur politischen Realität, der da lautete: Ihr könnt mich alle mal! Nur, diese Leck-Mich-Am-Arsch-Haltung sollte sie eines Tages ins Gefängnis bringen. Doch auch davon später.
Von ihr habe ich gelernt, dass tiefe Gläubigkeit sich nicht unbedingt mit scharfem Witz, Zivilcourage und Weltoffenheit beißen muss. Sie besaß eine Art mittelalterliche Frömmigkeit, bei der Freudenhaus und Folterkeller gleich neben der Kirche stehen. Bis zum Schluss hat sie geglaubt, dass sie ihren ewig kranken Mann im Himmel gesund wiedersehen würde, aber die Mitteilung, dass ich aus der Kirche ausgetreten sei und wir nicht daran dächten, uns kirchlich trauen zu lassen, nahm sie ohne mit der Wimper zu zucken zur Kenntnis.
In meinem Gedächtnis habe ich eine anderes Gesicht als auf dem Foto bewahrt: Eine unergründliche Landschaft, mit Rillen und Runzeln übersät wie Wattenboden bei Ebbe, darin zwei mild-strahlende Sonnen. Ich habe jede dieser Falten geliebt.

Der Großvater

Da ist es wieder, dieses Tock – Tock – Tock . . . Er kommt vor der Eckkneipe zurück, vom Greil, wo er ein, zwei Bierchen getrunken hat – jetzt schleppt er sich an seinen Krücken die Treppe hoch – tock – – tock – – tock . . . Es sind drei 'Treppen', wie man in Berlin sagt, die er zu bewältigen hat, mit hohen, engen Stufen – tock – – tock. Jetzt ist eine Weile Ruhe, denn der verschnauft kurz auf einem Treppenabsatz – und wieder geht es tock – – tock – –tock – – tock . . . Es klingt unheimlich, geradezu verstörend. Jetzt steht er vor der Wohnungstür und klopft – er klopft mit dem Krückstock an die Tür. Ich habe Angst, denn ich bin allein. Neulich stand ein Mann vor der Tür, der mich fragte, ob ich ihm etwas Geld geben könnte, er habe lange nichts gegessen und habe Hunger. Ich bekam eine Höllenangst; meine Mutter hatte mir eingeschärft, fremden Leuten auf keinen Fall die Tür zu öffnen, das seien Mitschnacker, die kleine Kinder mitnähmen. Vielleicht ist dieser Anklopfer ja ein anderer Großvater mit Krücken; auf der Straße habe ich Männer mit einem Bein gesehen, sogar einen, dem beide Beine fehlten. Er rutschte auf einem Brett herum, o Gott, ich hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Ich merke, wie mir vor Angst die Hände feucht werden. Da ruft es: „He, Hosenpuper, mach schon auf! Ich bin´s!“ Ich erkenne Großvaters Stimme und das Geheimwort und mache erleichtert auf. Und wieder geht es tock – – tock – – tock! Der Großvater, schwer über den Krücken hängend – es sind schulterhohe Krücken, wie ich sie später nie wieder gesehen habe, zwei leicht gebogene Seitenholme mit einem Handgriff auf halber Höhe und einem Achselstück – der Großvater humpelt durch den langen Korridor ins Wohnzimmer und lässt sich ächzend in seinen Sessel fallen. Und jetzt beginnt ein Schauspiel, so seltsam und abstrus, dass mich eine Gänsehaut überfällt, während ich dies schreibe, – ich nehme eine dieser hölzernen Gehhilfen, die fast doppelt so lang wie der Knirps ist, der sie hält – und humpele durch den Flur – tock – tock – tock – tock . . . Er tut mir leid, der Großvater, sein trauriges Gesicht macht auch mich traurig, und ich will ihn etwas aufheitern . . .
Ich kannte den Großvater nur krank, schwerkrank. Die Großmutter erzählte, es habe sich als Kradmelder bei der Wehrmacht die Gicht geholt. Dazu kam noch angeborenes Herzasthma. Wenn er einen Hustenanfall bekam, hörte es sich an, als wollte er sich seine gesamten Eingeweide aus dem Leib husten.


F. f
 

rotkehlchen

Mitglied
  1. Die Großmutter erzählt Geschichten




Wenn sich das Leuchten der Asche auf den brennenden Kohlen verdüstert, sagte die Großmutter, setzt es einen kalten Winter. Wenn sie hell und frei verglühen, einen leichten, milden. Und noch ein anderer ihrer Wahrsprüche ist überliefert: Wenn die Wiesen am Bachgrund bluten, wird ein großes Unglück geschehen. Die Asche verdüsterte sich, und es kam der Frostwinter 1947. Die Wiesen bluteten, von Millionen Kuckucksnelken überzogen: Es war im Frühsommer 1933, das Datum spricht für sich. – Aber nicht nur eine Wahrsagerin war diese Frau, sondern auch eine großartige Geschichten-Erzählerin, denn nichts erfindet mehr Geschichten als Not und dunkle Abende. Einige dieser Geschichten habe ich vor einiger Zeit irgendwo im Internet wiedergefunden, doch ich kann mich nicht erinnern, wo. Also erzähl ich sie einfach. Wem es zu lang wird, der kann ja zum nächsten Kapitel huschen.
Großmutter fing so an: Weißt du eigentlich, mein Jungche – ach, wie vermisse ich dieses 'mein Jungche', in ihrem singenden ostpreußischen Tonfall – weißt du eigentlich, mein Jungche, warum man die Kartoffelsaat in in diese Hügelreihen legt und nicht wie Zwiebeln oder Trüffeln unterirdisch wachsen lässt?

Natürlich wusste ich das nicht, schließlich war ich erst fünf oder sechs, und die Geheimnisse des Kartoffelanbaus sowie -erntens hatten mich bisher überhaupt nicht interessiert, woher auch, in unserer Straße wuchsen keine Kartoffeln, diese Reihen sah ich jetzt zum ersten Mal, und Trüffeln standen mir so fern wie der Sirius. – Der Anlass zu dieser Geschichte war folgender: Die Großmutter war damals in Stellung bei einem Bauern vor den Toren Ost-Berlins, Blumberg heißt das Dorf; sie hatte mich mitgenommen, um mir ihre Arbeitsstätte zu zeigen und mich mit gebratenen Tauben zu füttern. Wir waren an einem Feld mit blühendem Kartoffelkraut vorbeigekommen, die Großmutter sah mich von der Seite an, dann legte sie los; Zeit genug war ja, denn von der letzten Straßenbahnhaltestelle bis zum Hof war es noch eine gehöriger Strecke Fußweg.

Ein Bauer, fing die Großmutter an, besaß einen großen, brachliegenden Acker, den er mit Weizen bestellen wollte. Aber zur selben Zeit war mit Erlaubnis Luzifers ein kleiner Teufel unterwegs, der weder schreiben noch lesen konnte (hier ließ es sich die Erzählerin nicht nehmen, auf die Bedeutung dieser Künste für mein späteres Leben hinzuweisen). Er war auf die Erde gekommen , um sich zu erholen und ein wenig Schabernack zu treiben. Viel konnte er nicht anrichten, denn er war gerade mal in der Lage, die Petersilie zu verhageln, was in diesen Zeiten allerdings schon schlimm genug ist. Als das Teufelchen zufällig an dem Acker vorbeikam, fragte er den Bauern, was er das mache. – Ich bestelle das Feld mit Weizen, sagte der Bauer, damit ich im Winter etwas habe, womit ich mich und meine Familie ernähren kann. – Aber der Acker gehört dir doch gar nicht, sagte der Teufel, er gehört mir. Seit eure Häuptlinge dem Beelzebub* die Füße geküsst haben, ist all dieses Land uns zugesprochen, anheimgefallen und überwiesen. Nun ja, Korn säen ist meine Sache nicht, fuhr der Teufel fort, also magst du den Acker erst einmal behalten, aber unter der Bedingung, das wir uns das teilen, was er trägt. – Ich bin´s zufrieden, erwiderte der Bauer, stell du nur deine Bedingung. – Wir teilen den Ertrag des Feldes in zwei Teile. Als Teufel von altem und edlem Geschlecht habe ich die Wahl, denn du bist nur ein schlechter Bauer**. Also höre: Ich bekomme das, was unter der Erde ist, du erhältst alles über der Erde. Wann ist die Ernte? – Anfang August. – Schön, sagte der Teufel, dann werde ich mich wieder einfinden. Tu du unterdessen deine Pflicht und plag dich! Aber, hörst du, mach keine krummen Sachen, das bitt ich mir aus! –
Anfang August kam der Teufel zurück, begleitet von einer Anzahl kleinerer Erdgeister. Als er den Bauern erblickte, rief er ihm schon von Weitem zu: Nun, du Schlingel, jetzt wollen wir teilen! – Gut, entgegnete der Bauer, und fing an, das Getreide zu schneiden, der Teufel und seine Helfer zogen die Stoppeln mit den Wurzeln aus der Erde. Dann drosch der Bauer sein Korn, tat es in Säcke und brachte es zum Markt. Das Teufelchen machte es ebenso, setzte sich neben den Bauern und hielt seine Stoppeln feil. Der Bauer verkaufte seinen Weizen sehr vorteilhaft, während der Teufel auf seinen Stoppeln sitzen blieb und obendrein noch ausgelacht wurde. Als der Markt aus war, sagte der Teufel: Diesmal, du Halunke, hast du mich hereingelegt! Das nächste Mal wird dir das nicht mehr gelingen! – Wie kann ich Euch betrogen haben, Herr Teufel, versetzte der Bauer, habt Ihr nicht zuerst gewählt? Ihr wart es doch, der mich übervorteilen wollte, weil Ihr dachtet, das Korn würde unter der Erde wachsen, denn Ihr versteht nichts von der Landwirtschaft! – Halts Maul, fauchte der Teufel, sage mir lieber, womit du deinen Acker das nächste Jahr bestellen willst. – Als guter Landwirt muss man jetzt Rüben säen. – Tu das, rief der Teufel, tu das, säe nur tüchtig Rüben, ich werde sie schon vor Gewitter und Hagelschlag schützen und dafür sorgen, dass die Ernte gut wird. Aber höre, diesmal nehme ich, was über der Erde ist, und du bekommst das unter der Erde. Nun Schlingel, schinde dich! Aber, hörst du, keine krummen Sachen, das bitt ich mir aus!–
Als die Zeit der Ernte da war, erschien der Teufel mit einer großen Anzahl von Helfern an dem Rübenfeld. Sogleich fingen sie an, das Rübenkraut abzuschneiden und einzusacken, während der Bauer und seine Leute die Rüben ausgruben und auf Marktkarren warfen. Der Bauer verkaufte seine Ernte zu guten Preisen, der Teufel verkaufte nichts, zudem verhöhnte man ihn aufs Schärfste. – Verdammter Halunke, schrie der Teufel, hast mich schon wieder angeführt! Na warte, ein drittes Mal gelingt dir das nicht! Das nächste Mal nehm ich beides, das, was über, und das was unter der Erde ist. Nun frisch, du Halunke, arbeite, arbeite! Aber, hörst du, keine krummen Sachen, das bitt ich mir aus! –
Betrübt und nachdenklich kehrte der Bauer nach Hause zurück. Seine Frau, die ihn kommen sah, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, denn sie meinte, man habe ihn ausgeraubt. Als sie aber den Grund vernahm und seinen wohlgefüllten Beutel sah, tröstete sie ihn mit sanften Worten und sagte: Lass mich erst eine Nacht darüber schlafen; bis morgen früh ist mir sicherlich etwas eingefallen, womit wir den Hinkefuß überlisten können! – Am anderen Morgen rief sie: Ha! Ich hab´s! Du pflanzt Kartoffeln! – Ja aber liebe Frau, rief der Bauer, wie soll das gehen? Das Kraut wächst über der Erde, die Knollen unter der Erde! Wo ist da die Lösung? – Dummkopf!, schrie die Frau. Dann sorge dafür, dass die Kartoffeln nicht unter der Erde, nicht über der Erde, sondern dazwischen wachsen!“
Wir waren angekommen, und die Großmutter schwieg.
„Hat sich der Teufel sehr geärgert?“, fragte ich, obwohl ich die Pointe nicht ganz begriff.
„Natürlich hat er sich geärgert, und wie! Um ein Haar hätte er den Bauern mitgenommen.“
„Oha! Erzählst du mir das auch noch?“
„Natürlich, mein Jungche, gleich heute Abend als Gutenachtgeschichte!“
Die Großmutter zog mir das Deckbett bis zum Kinn, strich es glatt, setzte sich und fuhr fort:

„Als der Teufel merkte, dass ihn der Bauer wieder hereingelegt hatte, wurde er fuchsteufelswild. – Warte nur, du Halunke, schrie er, ich werde dich ganz teufelsmäßig kratzen! Dann werd ich dich den Küchenteufeln übergeben, die dich salzen, pfeffern, kochen, braten und Luzifer als Frühstück servieren! Es sei denn, du überlässt mir nächstes Jahr den gesamten Ertrag! Überleg´s dir gut! Und jetzt pack dich, schufte, schufte, Kerl, schufte und denk daran, ich komme wieder! Aber, hörst du, keine krummen Sachen, das bitt ich mir aus! –
Betrübt und nachdenklich schlich der Bauer nach Hause zurück. Seine Frau, die ihn kommen sah, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, denn sie meinte, man habe ihn ausgeraubt. Als sie aber den Grund vernahm, tröstete sie ihn mit sanften Worten und sagte: Lass mich erst eine Nacht darüber schlafen; bis morgen früh ist mir sicherlich etwas eingefallen, womit wir den Hinkefuß überlisten können. – Sie versicherte ihm, dass er nicht den geringsten Schaden erleiden würde, er solle nur alle Sorgen auf ihre Schultern legen und nichts fürchten, denn morgen früh habe sie sich bestimmt etwas ausgedacht, wie ein guter Ausgang möglich sei. Schlimmstenfalls kriegst du ein paar Schrammen weg, meinte sie, aber Zeit heilt Wunden. Sagtest du nicht, es sei ein ganz kleiner Teufel gewesen? Dann ist uns der Acker so gut wie sicher. Ja, wenn´s ein großer Teufel wäre, dann wär die Sach freilich schlimmer! –
Zur festgesetzten Stunde erschien der Teufel vor der Kate des Bauern und schrie: He, ho, du Halunke, jetzt werde ich dich fürchterlich kratzen! Dann war er frech und ungeniert in das Haus gegangen, wo er aber den Bauern nicht vorfand, sondern nur dessen Frau, die jammernd und heulend auf der Erde lag. – Wo ist der Lorbass (Strolch, Lümmel), schrie er, was macht er, warum ist er nicht hier? – Er kommt gleich, sagte die Frau. – Und warum liegt Ihr da und jammert? Und, Frau, wer hat Euch so blutig gekratzt? – Der Bauer! schrie die Alte, ach, der Bösewicht, der Schinder, der Räuber, der Wüterich! Er hat mich schrecklich zugerichtet, mit mir ist´s zu Ende, ich sterbe! – Was ist denn geschehen, fragte der Teufel. – Ach, lieber Herr, dieser Wüterich sagte, er habe ausgemacht, sich mit Euch zu kratzen, und um seine Nägel zu probieren, hat er mich, nur mit dem kleinen Finger ...“
Natürlich nahm der Teufel Reißaus und wurde nie wieder gesehen. –
Die Großmutter schnaufte, denn das Erzählen hatte sie erhitzt. Ich fragte:
Warum wollte der Bauern den Teufel denn kratzen und nicht mit der Mistgabel stechen, was doch viel 'teuflischer' gewesen wäre. Die Großmutter sah mich lange an und schwieg.
______________________________________________________________________

* Ich habe erst viel später herausgefunden, dass diese Geschichte doppeldeutig ist. Mit B. ist Stalin gemeint, und die Geschichte bezieht sich auf die Enteignungen, welche die SED nach 1949 durchsetzte. So wie der Bauer hat die Großmutter auch immer wieder versucht, diesem ihr verhassten Regime ein Schnippchen zu schlagen. Davon später mehr.
** Bezieht sich auf den Vorwurf der Kommunisten, Kleinbauern arbeiteten unwirtschaftlich.

Eine andere Geschichte ging so:
Ein Bauer besaß ein schönes Erbsenfeld. Als es nun zur Ernte ging, und er die Erbsen einsammeln wollte, wurden die Schoten leer und leerer. Da stellte sich der Bauer heimlich am Erbsenfeld auf, um den Dieb zu fangen. Zwar hörte er es immer wieder rascheln, er sah aber niemand.
Ha, dachte er, dass sind wohl unsichtbare Zwerge, die mir die Erbsen stibitzen. Nun nahm er seinen Knecht und ein starkes Seil mit aufs Feld. Beide fassten das Seil an, der Bauer an einem, der Knecht am anderen Ende, und zogen es stramm. So liefen sie das Feld hinauf und hinunter und rissen mit dem Strick den Zwergen die Nebelkappen vom Kopf. Da verloren die Zwerge ihren Zauber und waren gefangen. Nun wollten sie ihre Nebelkappen wieder haben und verlegten sich aufs Bitten und Betteln. Doch der Bauer blieb hart. Sie mussten ihm die Erbsen teuer bezahlen. Dann verschwanden sie eilig und kamen nie wieder . . .

F. f
 
Hallo Rotkelchen,

Du hast Deinen Text ja noch erweitert, wie ich gerade sah, und ich muss unbedingt noch einen Kommentar dazu abgeben. Du kannst was, was ich nicht kann, Du schreibst sehr anschaulich über Städte und Architektur. Bei mir müssen immer Menschen mit dabei sein, sonst wird das nichts. Genial, wie Du schilderst, dass eine S-Bahn Dich traurig angekuckt hat. Die Idee muss man erst mal haben, in Fahrzeuge eine Seele hineinzuinterpretieren. Das gleiche machst Du ja auch mit Häusern. Ich habe mal irgendwo den Satz gelesen: „Nach gewisser Zeit nehmen Häuser die Physiognomie derjenigen an, die in ihnen wohnen.“, den ich genial fand.

Kennst Du eigentlich noch die Hundeabteile in der Berliner S-Bahn. Dort war alles aus Holz. Das faszinierte mich auf Jugendweihefahrt, weil ich das so verrückt fand, extra für Hundebesitzer ein Abteil einzurichten und später, als ich hier lebte, habe ich mich immer bewusst dorthin gesetzt, so als wenn ich ahnte, dass diesen Abteilen keine lange Zeit mehr vergönnt war. Bald nach der Wende sind sie verschwunden.

Dazu, dass Du schriebst, dass Dir das Herz blutete, als Du sehen musstest, dass im Sozialismus der Stuck von den Hauswänden geklopft wurde, weil er als ein Überbleibsel des Kapitalismus angesehen wurde, muss ich auch noch was erwidern.

Ich wohnte in den Achtzigern in der Torstraße, die zu der Zeit noch Wilhelm-Pieck-Straße hieß. Mit Schrecken musste ich mitansehen wie Bauarbeiter, die sich fröhlich auf sächsisch unterhielten, und wahrscheinlich Berlin nicht mochten, die genialen Stuckfassaden der alten Berliner Mietshäuser zerstörten.

Zurück blieb ein kahles hässliches Haus, das vorher noch wie ein, zwar abgelebtes, aber wunderschönes, geheimnisvolles Schloss aussah, mit rostigen, verschnörkelten Balkonbrüstungen und herrlichen Rosetten und Jugendstilfiguren wie Nixen, Einhörnern und Drachen. Ach so, die Balkons haben sie natürlich auch abgekloppt, anstatt sie zu restaurieren, weil wir Arbeiter und Bauern sowas nicht brauchten. Wir sollten nicht faul auf dem Balkon rumsitzen, sondern das Volkseigentum vermehren.

Solche Fassadenverzierungen können lebensrettend sein, wie ich in einem Video auf youtube sah. Nachdem in einem Haus in Leipzig ein Brand gelegt wurde, und jemand den Ausgang mit Mobiliar verbarrikadiert hatte, balancierten die Leute, die anders nicht mehr rauskamen, außen auf dem Stuck, bis die Feuerwehr mit Leitern kam, und sie dort runterholte.

Das größte Sünde gegen die Architektur wurde aber in Ostberlin begangen, als die Gasometer im Prenzlauer Berg abgerissen wurden. Immer, wenn ich mit der S-Bahn zwischen Greifwalder Straße und Prenzlauer Alle unterwegs war, habe ich mich schon auf ihren Anblick gefreut. Sie wirken auf mich wie griechische Amphitheater und haben mir immer freundlich Guten Tag gesagt. Ich wusste nichts von den Abrissplänen.

Eines Tages als ich mal wieder dort mit der S-Bahn lang fuhr, das war noch in meiner Studentenzeit Anfang der Achtziger, erstarrte ich vor Schreck, denn die vertrauten Bauwerke, die für mich Berlin verkörperten, waren verschwunden. Ob dem Architekten, der diese Schandtat zu verantworten hat, wohl manchmal die Gasometer in seinen Alpträumen erschienen sind, diesmal mit Augen und Mund, wie die Häuser in Deiner Erzählung, und zu ihm sprachen: „Warum hast du uns das angetan?“

Bauarbeiter aus Berlin weigerten sich das zu tun, da holte sie Sachsen. Studenten von der Kunstschule Weißensee wurden exmatrikuliert, weil sie Aufkleber gegen den Abriss entworfen hatten. Und dabei hatten sie nur gegen die Zerstörung ihrer Stadt protestieren wollen.

Um noch einmal auf die Kiezkneipe früher auch Arbeiterkneipe zurückzukommen, die Du nahe der Frankfurter Allee gefunden hast. Mir ist ebenfalls aufgefallen, dass diese Art Kneipen nach der Wende aus der Stadt verschwanden. Ich habe mal in einem Interview gelesen, dass ein Bierbrauer, der sein Bier heute in Szenekneipen loswird, das auch sehr bedauerte.

Wo könnten die Ursachen für den Kneipenschund liegen? Nach der Wende gab es eine hohe Arbeitslosigkeit, da viele Großbetriebe abgewickelt wurden. Ob irgendwie das Proletariat verschwunden ist? Die Gegend wurde umstrukturiert, bei uns am Ostkreuz wohnen jetzt viele Studenten, und Bierpreise erhöhten sich, im Vergleich zu den Kneipenpreisen in der DDR, wo das Bier in der Kaufhalle genauso teuer war, wie das Bier in der Gaststätte, enorm.

Ich habe mir, wenn ich in unsere Blueskneipe, das Bodega in der Marienburger, im Prenzlauer Berg, ging, immer bloß zwei Mark und zehn Pfennig eingesteckt, da dort der halbe Liter eine Mark zwei kostete. Damit bin ich über die Runden gekommen. Die weniger betuchten zogen nach der Wende die Parkbank vor, zum Beispiel hier in Friedrichshain den Boxhagener Platz, auch wenn es ein bisschen zugig und nass werden konnte.

Ich kann mir schon vorstellen, warum sie Dich in der Frankfurter nicht leiden konnten. Das Klima in diesen Kneipen ist sehr kleinbürgerlich, und die Leute kennen sich untereinander. Da sitzt nicht das klassenbewusste Proletariat Berlins sondern das Kleinbürgertum.

Die Musik ist auch gewöhnungsbedürftig. Hier in der Kneipe in meiner Nähe sind sie alle beinharte Andrea Berg Fans. Wenn ich früher zu Ostzeiten mit Kumpels, die lange Haare hatten, in normale Arbeiterkneipen gegangen bin, haben sie uns manchmal gar nicht bedient. Punks wurden dort gleich rausgeschmissen. Das ist heute natürlich, wo Gästeschwund herrscht, längst nicht mehr so.

Aber ich fand es schon lustig, dass sie Dich nach Weiße mit Schuss und Bockwurst, eine Geschmackskombination, die auch ich liebe, und die auch im alten Berlin, zu Kaisers Zeiten, schon geschätzt wurde, früher hat man das an jedem Imbiss bekommen hat, mit Döner kann ich noch immer nicht richtig was anfangen, und sehne mich nach Wurstbuden zurück, gleich abkassieren wollten.

Aber Du hast Recht, die Berliner Arbeiterkneipen sind schon ein Stück Geschichte, man findet auch in der Berlin-Literatur viel darüber. Der halbe Roman „Berlin, Alexanderplatz“ spielt ja in der Kneipe. Dort saßen früher im Hinterzimmer immer die schweren Jungs. Das kenne ich auch noch von meinen Kneipenbesuchen mit Kumpels. Plötzlich und unvermutet flogen mit einem Mal Tische uns Stühle durch die Gegend. Berlin, ohne Kneipen, das geht eigentlich gar nicht. Dort spielte sich früher das gesellschaftliche Leben einer Straße ab.

Die Lokale waren für viele ein zweites Zuhause und auch eine Arbeitsbörse und eine Wohnungsbörse. Freundschaften fürs Leben wurden hier geschlossen und Geschäfte getätigt. Die Wohnungen waren eng und dunkel, und es gab viele Kinder. Da gingen dann die Männer, die Arbeiterkneipen waren reine Männerversammlungsorte, Frauen, die dort verkehrten, wurden als leichte Mädchen angesehen, gern in die Geselligkeit der warmen, hellen Lokalitäten.

Alle politischen Gruppierungen hatten ihre Stammkneipen: der Rotfrontkämpferbund, der KPD nahe war, die SA Kneipen, die Reichsbannerleute, die SPD nahe waren usw. Ich habe mal ein Buch über die Ermordung Horst Wessels gelesen. Auch dort dreht sich alle um Kneipen.

Zum Schluss noch einen guten Tipp für Dich und für potenzielle Berlintouristen: Der schönste Betrieb von ganz Berlin sind die Pumpenwerke an der Landsberger Allee, Ecke Vulkanstraße. Ich habe mal eine Weile in der Nähe gearbeitet, und musste jeden Tag dort vorbei, was für mich immer ein Highlight war.
Ein Augenschmaus. Ich finde beim Bau der Wasserwerke haben sich die Berliner Architekten selbst übertroffen. Auch die anderen Gebäude dieser Art, wie das in Friedrichshagen beispielsweise, die in der Stadt und im Umland verteilt liegen, sind sehr schön.

Eine geniale Architekturtour durch das alte Industrie-Berlin kann man machen, wenn man hier am Ostkreuz unter der S-Bahnunterführung Boxhagener Straße durchgeht, in Richtung Lichtenberg.
Dort findet man die Knorr Bremse, die Gemeindeschulen eins und zwei, die alte Feuerwache mit dem Übungsturm, die Gewerbeschule,
nicht zu vergessen die Knabenhäuser und das ehemalige Arbeitshaus am Rummelsburger See,
das zu DDR Zeiten Gefängnis war, und wo heute Wohnungen drin sind, das Kraftwerk Klingenberg,
daneben ist in einer Hundekuchenfabrik ein Technoschuppen untergebracht,
dann die alte Anilinfabrik Ecke Holzmannstraße und das alte Kraftwerk Rummelsburg, das Gelände des abgewickelten Rundfunks in der Nalepastraße, die beiden alten Eisenbahnerdienstwohnhäuser aus dem achtzehnten Jahrhundert, das Umspannwerk,
davor die Gaswerkssiedlung, wo heute Künstler aus aller Herren Länder drin wohnen,
daneben ein Stücken nach links am Blockdammweg, an der Kreuzung Köpenicker Chaussee, den Wasserturm des Gaswerks und landet last not least in der Wuhlheide, einem traumhaften Park, wo man sich verlaufen kann. Er ist riesig.

Alle Gebäude sind über hundert Jahre alt. Die ganze Gegend, die ich eben beschrieben habe, ist nicht sehr überlaufen, eher menschenleer, außer der Rummelsburger See, so dass die Spaziergänge bzw. die Fahrten mit Fahrrad dort noch Spaß machen.

Alte Fabrikgebäude törnen mich fast so an, als wenn ich einen interessanten Typen sehe. Spaß beiseite, aber wenn man seine Werke, die Wasserwerke Landsberger Allee und Friedrichshagen sieht, könnte man fast auf den Gedanken verfallen, dass Henry Gill, der englische Erbauer, erotische Gedanken dabei hatte, als er seine Pläne gezeichnet hat.

Besonders das Bauwerk in Lichtenberg an der Vulkanstraße ist einfach zu schön für die Welt. Das ist ja mehr eine Märchenstadt als ein Fabrikgelände. Jedes, der vielen kleinen Häuser, sieht anders aus.

Gruß Friedrichshainerin
 

rotkehlchen

Mitglied
Hei, Friedrichshainerin,
wenn mich jemand fragt, was mich in Berlin nicht interessiert, dann sage ich: Die modernen Neubauten. Mir kommen sie vor, als wollte sich diese Stadt vom Frosch zum Nilpferd aufblasen. Irgendwann wird sie platzen, wahrscheinlich finanziell. Ja was denken sich diese Stadtplaner eigentlich? Sie könnten aus dem flachen Berlin ein Chicago machen? Puh . . . Irgendwo las ich, was New York in der Höhe, ist Berlin in der Breite. Das ist das eine, was mich an dieser Stadt immer wieder fasziniert, das andere sind die vielen Srtaßen mit den noch erhaltenen Fassaden.
Die Örtlichkeiten, die du nennst, kenne ich zum Teil, zum Teil auch nicht (bes. die Richtung Lichtenberg). Werde sie bei meinem nächsten Besuch abtippeln. Vielen Dank für deine interessanten Hinweise.
LG

Rotkehlchen
 



 
Oben Unten