rotkehlchen
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Ochsenbackes Geburt
„Det Kleene wird ma´n juta Läufa!“
Tante Ernas übervolle Wangen glühten. Begeistert betrachtete sie den prallen Bauch meiner Mutter, der Beulen warf wie blubbernder Grießbrei.
Ich war anscheinend wieder mal unterwegs, trotz der Dunkelheit und der räumlichen Enge. Weiß der Himmel wohin, wie so oft in den letzten Stunden vor meiner Geburt. Konnte ich die Stunde Null nicht erwarten? Oder wehrte ich mich mit Händen und Füßen gegen den Rausschmiss aus dem warmen Wellnes-Bad? Oder ahnte ich, dass alles bald ganz anders werden sollte, unbequemer, unbehüteter, weniger kuschelig, zumindest nicht mehr so mollig warm? Und vor allem: Ahnte ich, dass ich es nicht mehr so vergleichsweise ruhig haben würde!
Nun ja, auch im Leib meiner Mutter war es nicht wirklich ruhig. Das brummte und knurrte, gluckerte und säuselte, lebte und webte auf verschlungenen Pfaden. Da war zunächst nur das Pochen in der Dunkelheit, unablässig, rastlos und drängend, mal leiser, wie in Gedanken versunken, mal lauter, wenn das Schiff Mutter stark bewegt war. Allmählich lernte ich die Geräusche der Finsterins zu deuten; im neunten Monat ist der Mensch kein Dummkopf mehr, und manches erklärte sich später von selbst. Zum Beispiel diese angenehm-rhythmischen Geräusche, die meinen Alabasterleib in Schwingungen versetzten: Meine Mutter trällerte ein Lied, möglicherweise die Ballade von Frauenzimmer Sabinchen aus Treuenbrietzen. Dann: Das Pfeifen, wenn sie einen fahren ließ. Oder die hohen, stechenden Töne, die mich aus meinem beschaulichen Halbschlaf weckten: Meine Mutter lachte schallend. Oder das bedrückende Zischen und Züngeln: Meine Gebärerin – auch das soll nicht verschwiegen werden – zankte sich wieder einmal mit mit ihrer Schwiegermutter oder, Himmel, mit dem Kohlenträger. Und ja, da waren noch andere Geräusche, die von außen kamen, etwa der scharfe Knall, der mich vor Schreck eine Rolle rückwärts machen ließ: Onkel Rudi entkorkte gerade eine Sektflasche. Oder ein heiteres Klingen, das mich tief bewegte: Meine Mutter spielte Gitarre. Dann war da zuweilen ein scharfes Knattern, das ich mich in helle Panik versetzte: Sie hackte Zwiebeln. Und so weiter, und so fort. Ein Mutterleib ist ein Universum für sich, ein Kosmos von unergründlicher Tiefe, erfüllt mit tausend Mysterien, für deren Ergründung neun Monate viel zu kurz sind. Vielleicht ist das ja der Grund, warum die Menschen immer auf der Suche nach Erklärungen sind für Dinge, die ihnen unheimlich vorkommen. Betrachten wir eine ziehende Elefantenherde: Welche Ruhe und Gelassenheit! Elefanten haben ja auch zweiundzwanzig Monate Zeit, sich mit den Geheimnissen der Nacht bekannt zu machen.
Meine Befürchtungen sollten sich in erschreckend kurzer Zeit bewahrheiten. Als ich in das so genannte Licht der Welt blinzelte – genauer in das unpersönlich-grelle Licht der Deckenlampen im Kreißsaal des Städtischen Krankenhauses –, war es nicht nur kalt, sondern ich erhielt auch schon die ersten Schläge. Sie vernichteten auf grausame Weise die Reinheit und Süße meines bisherigen Daseins. Tante Erna, eine Kusine meiner Großmutter väterlicherseits und von Beruf Heb-Amme, behauptete später, sie habe das tun müssen, weil ich nicht atmen wollte (Ich revanchierte mich Jahre später, indem ich ihr eine Nähnadel in den dicken Hintern rammte). Wie dem auch sei – schon damals offenbarte sich bei mir ein Charakterzug, der sich im späteren Leben als sehr nützlich erweisen sollte, nämlich: Auf Angriffe welcher Art auch immer sofort zu reagieren: Ich spuckte ihr eine Ladung Fruchtwasser ins Gesicht – hatte ich für alle Fälle mitgenommen –, und lachte sie anschließend aus. Erna, völlig überrumpelt, rief mit zornig zitterndem Doppelkinn: „Det machste nich nochmal, olle Ochsenbacke!“
So berichtete meine Mutter, aber auch, dass sie, obwohl total erschöpft, sofort streng gerufen habe: „Olle Erna, nenn det Kleene nich nich nochmal so!“ Dabei blieb es denn auch, „Ochsenbacke“, anders als „Hosenpuper“, „Lorbass“ oder Allerweltsklöterwatin“, wurde nicht familientauglich. Nur Onkel Rudi (von dem ich kaum etwas weiß, außer dass er ein starker Esser uns Witzbold war) meinte: „Watdenn, watdenn? Ick find det lustick! Gerade für so´n Hosenscheißer wie der da!“
Als ich Erna später fragte, warum sie gerade auf diesen Namen gekommen sei, meinte sie, ich habe damals erstaunlich runde Bäckchen gehabt. Na klar! Mein Mund war ja auch randvoll gewesen!
Das war also meine Stunde Null, mein erster ungewollter Kontakt mit dem so genannten Licht der Welt. Puh . . .
Fortsetzung folgt
„Det Kleene wird ma´n juta Läufa!“
Tante Ernas übervolle Wangen glühten. Begeistert betrachtete sie den prallen Bauch meiner Mutter, der Beulen warf wie blubbernder Grießbrei.
Ich war anscheinend wieder mal unterwegs, trotz der Dunkelheit und der räumlichen Enge. Weiß der Himmel wohin, wie so oft in den letzten Stunden vor meiner Geburt. Konnte ich die Stunde Null nicht erwarten? Oder wehrte ich mich mit Händen und Füßen gegen den Rausschmiss aus dem warmen Wellnes-Bad? Oder ahnte ich, dass alles bald ganz anders werden sollte, unbequemer, unbehüteter, weniger kuschelig, zumindest nicht mehr so mollig warm? Und vor allem: Ahnte ich, dass ich es nicht mehr so vergleichsweise ruhig haben würde!
Nun ja, auch im Leib meiner Mutter war es nicht wirklich ruhig. Das brummte und knurrte, gluckerte und säuselte, lebte und webte auf verschlungenen Pfaden. Da war zunächst nur das Pochen in der Dunkelheit, unablässig, rastlos und drängend, mal leiser, wie in Gedanken versunken, mal lauter, wenn das Schiff Mutter stark bewegt war. Allmählich lernte ich die Geräusche der Finsterins zu deuten; im neunten Monat ist der Mensch kein Dummkopf mehr, und manches erklärte sich später von selbst. Zum Beispiel diese angenehm-rhythmischen Geräusche, die meinen Alabasterleib in Schwingungen versetzten: Meine Mutter trällerte ein Lied, möglicherweise die Ballade von Frauenzimmer Sabinchen aus Treuenbrietzen. Dann: Das Pfeifen, wenn sie einen fahren ließ. Oder die hohen, stechenden Töne, die mich aus meinem beschaulichen Halbschlaf weckten: Meine Mutter lachte schallend. Oder das bedrückende Zischen und Züngeln: Meine Gebärerin – auch das soll nicht verschwiegen werden – zankte sich wieder einmal mit mit ihrer Schwiegermutter oder, Himmel, mit dem Kohlenträger. Und ja, da waren noch andere Geräusche, die von außen kamen, etwa der scharfe Knall, der mich vor Schreck eine Rolle rückwärts machen ließ: Onkel Rudi entkorkte gerade eine Sektflasche. Oder ein heiteres Klingen, das mich tief bewegte: Meine Mutter spielte Gitarre. Dann war da zuweilen ein scharfes Knattern, das ich mich in helle Panik versetzte: Sie hackte Zwiebeln. Und so weiter, und so fort. Ein Mutterleib ist ein Universum für sich, ein Kosmos von unergründlicher Tiefe, erfüllt mit tausend Mysterien, für deren Ergründung neun Monate viel zu kurz sind. Vielleicht ist das ja der Grund, warum die Menschen immer auf der Suche nach Erklärungen sind für Dinge, die ihnen unheimlich vorkommen. Betrachten wir eine ziehende Elefantenherde: Welche Ruhe und Gelassenheit! Elefanten haben ja auch zweiundzwanzig Monate Zeit, sich mit den Geheimnissen der Nacht bekannt zu machen.
Meine Befürchtungen sollten sich in erschreckend kurzer Zeit bewahrheiten. Als ich in das so genannte Licht der Welt blinzelte – genauer in das unpersönlich-grelle Licht der Deckenlampen im Kreißsaal des Städtischen Krankenhauses –, war es nicht nur kalt, sondern ich erhielt auch schon die ersten Schläge. Sie vernichteten auf grausame Weise die Reinheit und Süße meines bisherigen Daseins. Tante Erna, eine Kusine meiner Großmutter väterlicherseits und von Beruf Heb-Amme, behauptete später, sie habe das tun müssen, weil ich nicht atmen wollte (Ich revanchierte mich Jahre später, indem ich ihr eine Nähnadel in den dicken Hintern rammte). Wie dem auch sei – schon damals offenbarte sich bei mir ein Charakterzug, der sich im späteren Leben als sehr nützlich erweisen sollte, nämlich: Auf Angriffe welcher Art auch immer sofort zu reagieren: Ich spuckte ihr eine Ladung Fruchtwasser ins Gesicht – hatte ich für alle Fälle mitgenommen –, und lachte sie anschließend aus. Erna, völlig überrumpelt, rief mit zornig zitterndem Doppelkinn: „Det machste nich nochmal, olle Ochsenbacke!“
So berichtete meine Mutter, aber auch, dass sie, obwohl total erschöpft, sofort streng gerufen habe: „Olle Erna, nenn det Kleene nich nich nochmal so!“ Dabei blieb es denn auch, „Ochsenbacke“, anders als „Hosenpuper“, „Lorbass“ oder Allerweltsklöterwatin“, wurde nicht familientauglich. Nur Onkel Rudi (von dem ich kaum etwas weiß, außer dass er ein starker Esser uns Witzbold war) meinte: „Watdenn, watdenn? Ick find det lustick! Gerade für so´n Hosenscheißer wie der da!“
Als ich Erna später fragte, warum sie gerade auf diesen Namen gekommen sei, meinte sie, ich habe damals erstaunlich runde Bäckchen gehabt. Na klar! Mein Mund war ja auch randvoll gewesen!
Das war also meine Stunde Null, mein erster ungewollter Kontakt mit dem so genannten Licht der Welt. Puh . . .
Fortsetzung folgt