Es schreitet der  Kranich. 
Old School mit  17 Silben.
Schau, im Whirlpool 
die Maus! Ertrunken treibt sie 
stumm im Kreis herum...
aligaga
Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui
Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In  so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer nahezu ertrank und dann im Wirbelstrom der Dozentenworte kreiselnd herumtrieb, es sollten keinerlei Kunstfertigkeiten vorgeführt werden  und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde.  Also legte Tanner   sein Konzeptpapier zur Seite,  den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust.  Ganz entspannte Zurücknahme seiner Person und für die anderen:  wohlwollende Aufmerksamkeit. 
Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste -  im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben",   war   nun offensichtlich fertig geworden, die anderen wohl  auch - sechs Studenten, drei Studentinnen.  Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere,  in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann:  "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll  ein wenig gewählt und literarisch  und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?” 
Die Stimme hörte sich für Tanner ein  wenig zittrig an,  ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach  sicher   gleich wieder  vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen eher beiläufig gesagt,  Akustik,  Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden  beim Vorlesen. Sich was zutrauen und sich vertrauen. Es gab  noch ein  aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der öffnete und schloss den Mund,   tippte  kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille,  schob sie  hoch,  rückte die Seitenbügel  zurecht, schaute in die Runde und trug dann vor.  Augen wie die  eines Autofahrers  hinter einer Windschutzscheibe,  bei Nachtfahrt im Regen: 
"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.-  Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."
„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Das Archiv der Erinnerung  hatte sich geöffnet. Sechs Semester Germanistik in München. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Bibliothek, Seminararbeit. Bibliothek. Noch eine Seminararbeit.  Dann Literaturinstitut in Leipzig.  Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation  in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am  besten war doch die Sache mit dem  Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel 
Deutsche Stilkunst, Thomas Mann 
Zauberberg,  Heinrich Seidel 
Leberecht Hühnchen.   Camping tagsüber bis spät auf dem Sofa. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal aus der Küche ein Butterbrot, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem  Keller. Sollte er irgendwann den jungen Leuten davon erzählen?
Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Davon, was für ein Glück  und was für eine Freude das brachte.  Davon, wie man zwischendurch wieder  zu den Alten griff, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald,  manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O  du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er  dir die Gläser ein. Wo bist du  denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz.  Die Brille ist oben auf´m Kopf.“). 
Rascheln von  Papieren und mehrfaches Räuspern ringsum - Tanner hob den Kopf,  Raum 205 tauchte auf,  er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“  Dem Klang von "Old School" nachhören und dem Echo.  Dann blickte Tanner  zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?" "Habe einen Haiku notiert, klassische, traditionelle, alte Form."  
Als sich die Gesichter ihm zuwandten, atmete Anderson tief ein  und ließ dann den Japaner  mit siebzehn Silben  durch die drei  Zeilen staksen.
"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier  auf dünnem Eis."
Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter,  zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben  fingerte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte - so Tanners Wahrnehmung -  vor fünf Minuten neugierig  Andersons  Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt.   Jung und wach,  dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und  Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick jedenfalls. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war  gedämpfter Singsang:
"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."
Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Und für die  Gefahr, mit alten, alten Formen einzubrechen. Auch und gerade wenn der Kranich alt und der Autor jung ist. Jetzt  besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander."  Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."
Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich in alter Form auf dünnem Eis.” 
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure  Kranich, vom Haiku-Studenten aufs Eis geführt.“ 
Mallon:„Jawohl. Glatteis, dünnes Eis.” 
Anderson:„Wenn wir Menschen, lieber Watson,  uns von Tieren irgendwie unterscheiden, dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben und brenzlige Situationen darin abzubilden.” 
Mallon (lachend): „Hoho, Sherlock. Ein Bonmot.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.” 
Sieh da, die Zuhörer lächeln,  Mallon tippt mit dem Zeigefinger   gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Mensch, du Mensch. Du-Stelz-Vo-Gel!”
Anderson: „In-Kor-Rekt. Ich gleiche dem Adler.”  
Mallon blickt zuerst Anderson an:
„Aha", kurzer Blick zur Decke, "droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon deutet auf den braunen Laminat-Bode: 
„Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.” 
Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch.  Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant  und anmutig geführt im Gang der kommenden Stunden,  funkelnd und  sprühend.  Ach, Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Spielerisch  und leicht, wie sie sich  voreinander verneigen. 
Da schau her,  sagte  Tanner noch einmal,  das  wird gut.