Old School Haiku. Open door that looks shut.

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Willibald

Mitglied
Dööfelmann, das Doppel-L ist nicht das Problem, wie der lateinische Text dem chief untief signalisiert, das Problem ist der Vokativ und das "e". Thunders.

Rick und so ist dem Filmfreak Bil(l)ibaldus durchaus bekannt.

Um die Bildung (des Vokativs) und des aligaga besorgt

ww
 
A

aligaga

Gast
Geliebter, du redest immer noch wirr.

Der missbrauchte Film ist kein latrinischer, sondern ein schnöder US-Streifen. Bei den Amis gibt's vielleicht einen Dritten Mann, aber keinen fünften Fall. Not yet ...

Amüsiert

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Dotterkopf/chief untief,

ein Ami würde gar nicht "Bil(l)ibaldus sagen, weil er von Bildung unbeleckt.
Wäre er aber doch gebildet, würde er beim Einbau eines lateinischen Wortes in seinen sermon "Bil(l)ibalde" sagen müssen.

Und erst recht ein aminaher aligaga, der sogar weiß, dass es im Lateinischen sechs Kasus gibt, von denen der fünfte der Vokativ ist.
Wirrkopf alliga(tor)ga.

greetse

ww
 

Willibald

Mitglied
p.s.
willibald hat aligaga über einen Klassiker gestellt:

Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.


Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui
greetse
ww
 
A

aligaga

Gast
ein Ami würde gar nicht "Bil(l)ibaldus sagen, weil er von Bildung unbeleckt.
Stimmt. @Alis Rick sagt ja auch explizit "Billybaldus". Für diesen Anglizismus brauchts keine humanistische Bildung. Sie können's nur nicht richtig aussprechen, die Boysandgirls. Bogey hätte wohl "Billyb?ld?s" genuschelt.

Quietschvergnügt

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Stimmt nicht.
Es sagt ja nicht Rick "Bilibaldus", sondern aligaga.
Insofern werden die Prämisse deutlich validiert.
ww
 
A

aligaga

Gast
Es hieß doch klar und deutelich:
und
Bogey hätte wohl "Billyb?ld?s" genuschelt.
Damit sollte auch für zu verehrende Humanisten klar sein, dass es sich um reine Vermuthungen handelt, geliebter @Willibald - man beachte den Konjunktiv zwo! Den kennen die Amis auch; den Vokativ kannte nur Janis Joplin (O Lord, would you buy me ...), aber die ist schon lange tot.

Aber es gibt eine WiedergängerIn. Sie ist erst 13 Jahre alt und heißt Courtney Hadwin. Hör dir mal das da an!!

Heiter, sehr heiter

aligaga

p. s.: Offensichtlich möchtest du gar nicht für @alis Froind gehalten werden. Na gut ...
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer ertrank und dann stumm in sich gekehrt im Kreis der Dozentenworte herumtrieb, keinerlei Kunstfertigkeiten und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme und wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Selbstvertrauen. Also noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Die Erinnerung fährt nämlich manchmal ihr Spiegelkabinett hoch und liefert dichte Bilder in hoher Frequenz. Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber auf dem Sofa bis spät. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal in der Küche ein Butterbrot gemacht, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten geholt oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den Jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Glück war das und Freude. Dann wieder der Griff zu den Alten, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln eines Papieres und mehrfaches Räuspern - Tanner hob den Kopf, Raum 205 tauchte auf, er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Pause. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?"

"Habe einen Haiku notiert." Die Gesichter wandten sich ihm zu. Anderson atmete tief ein und ließ den Japaner langsam durch die Zeilen staksen, auf denen die Silben balancierten:

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.



Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer ertrank und dann stumm in sich gekehrt im Kreis der Dozentenworte herumtrieb, keinerlei Kunstfertigkeiten und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme und wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Selbstvertrauen. Also noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Die Erinnerung fährt nämlich manchmal ihr Spiegelkabinett hoch und liefert dichte Bilder in hoher Frequenz. Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber auf dem Sofa bis spät. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal in der Küche ein Butterbrot gemacht, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten geholt oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den Jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Glück war das und Freude. Dann wieder der Griff zu den Alten, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln eines Papieres und mehrfaches Räuspern - Tanner hob den Kopf, Raum 205 tauchte auf, er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Pause. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?"

"Habe einen Haiku notiert." Die Gesichter wandten sich ihm zu. Anderson atmete tief ein und ließ den Japaner langsam durch die Zeilen staksen, auf denen die Silben balancierten:

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Kranich (Grus grus)
https://up.picr.de/34959171ko.jpg[/center]

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer ertrank und dann stumm in sich gekehrt im Kreis der Dozentenworte herumtrieb, keinerlei Kunstfertigkeiten und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme und wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Selbstvertrauen. Also noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Die Erinnerung fährt nämlich manchmal ihr Spiegelkabinett hoch und liefert dichte Bilder in hoher Frequenz. Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber auf dem Sofa bis spät. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal in der Küche ein Butterbrot gemacht, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten geholt oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den Jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Glück war das und Freude. Dann wieder der Griff zu den Alten, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln eines Papieres und mehrfaches Räuspern - Tanner hob den Kopf, Raum 205 tauchte auf, er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Pause. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?"

"Habe einen Haiku notiert." Die Gesichter wandten sich ihm zu. Anderson atmete tief ein und ließ den Japaner langsam durch die Zeilen staksen, auf denen die Silben balancierten:

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.​
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Kranich (Grus Grus)
https://up.picr.de/34959171ko.jpg

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer ertrank und dann stumm in sich gekehrt im Kreis der Dozentenworte herumtrieb, keinerlei Kunstfertigkeiten und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme und wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Selbstvertrauen. Also noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Die Erinnerung fährt nämlich manchmal ihr Spiegelkabinett hoch und liefert dichte Bilder in hoher Frequenz. Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber auf dem Sofa bis spät. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal in der Küche ein Butterbrot gemacht, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten geholt oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den Jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Glück war das und Freude. Dann wieder der Griff zu den Alten, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln eines Papieres und mehrfaches Räuspern - Tanner hob den Kopf, Raum 205 tauchte auf, er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Pause. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?"

"Habe einen Haiku notiert." Die Gesichter wandten sich ihm zu. Anderson atmete tief ein und ließ den Japaner langsam durch die Zeilen staksen, auf denen die Silben balancierten:

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer ertrank und dann stumm in sich gekehrt im Wirbelstrom der Dozentenworte kreiselnd herumtrieb, keinerlei Kunstfertigkeiten und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme und wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Selbstvertrauen. Also noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Die Erinnerung fährt nämlich manchmal ihr Spiegelkabinett hoch und liefert dichte Bilder in hoher Frequenz. Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber auf dem Sofa bis spät. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal in der Küche ein Butterbrot gemacht, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten geholt oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den Jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Glück war das und Freude. Dann wieder der Griff zu den Alten, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln eines Papieres und mehrfaches Räuspern - Tanner hob den Kopf, Raum 205 tauchte auf, er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Pause. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?"

"Habe einen Haiku notiert." Die Gesichter wandten sich ihm zu. Anderson atmete tief ein und ließ den Japaner langsam durch die Zeilen staksen, auf denen die Silben balancierten:

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

riedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer nahezu ertrank und dann im Wirbelstrom der Dozentenworte kreiselnd herumtrieb, es sollte keinerlei Kunstfertigkeiten vorgeführt werden und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme seiner Person und wohlwollende Aufmerksamkeit für die anderen.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen wohl auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen eher beiläufig gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Sich was zutrauen und sich vertrauen. Es gab noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der öffnete und schloss den Mund, tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug dann vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Die Erinnerung fährt nämlich manchmal ihr Spiegelkabinett hoch und die Bilder wirken leicht und licht. Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber bis spät auf dem Sofa. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal aus der Küche ein Butterbrot, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Davon, was für ein Glück und was für eine Freude das brachte. Davon, wie man zwischendurch wieder zu den Alten griff, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln von Papieren und mehrfaches Räuspern ringsum - Tanner hob den Kopf, Raum 205 tauchte auf, er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Dem Klang von "Old School" nachhören. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?" "Habe einen Haiku notiert."

Als sich die Gesichter ihm zuwandten, atmete Anderson tief ein und ließ dann den Japaner langsam über die Zeilen staksen, auf den Silben balancierend.

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer nahezu ertrank und dann im Wirbelstrom der Dozentenworte kreiselnd herumtrieb, es sollte keinerlei Kunstfertigkeiten vorgeführt werden und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme seiner Person und für die anderen wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen wohl auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen eher beiläufig gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Sich was zutrauen und sich vertrauen. Es gab noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der öffnete und schloss den Mund, tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug dann vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Die Erinnerung fährt nämlich manchmal ihr Spiegelkabinett hoch und die Bilder wirken leicht und licht. Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber bis spät auf dem Sofa. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal aus der Küche ein Butterbrot, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Davon, was für ein Glück und was für eine Freude das brachte. Davon, wie man zwischendurch wieder zu den Alten griff, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln von Papieren und mehrfaches Räuspern ringsum - Tanner hob den Kopf, Raum 205 tauchte auf, er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Dem Klang von "Old School" nachhören. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?" "Habe einen Haiku notiert."

Als sich die Gesichter ihm zuwandten, atmete Anderson tief ein und ließ dann den Japaner langsam über die Zeilen staksen, auf den Silben balancierend.

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer nahezu ertrank und dann im Wirbelstrom der Dozentenworte kreiselnd herumtrieb, es sollte keinerlei Kunstfertigkeiten vorgeführt werden und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme seiner Person und für die anderen wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen wohl auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen eher beiläufig gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Sich was zutrauen und sich vertrauen. Es gab noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der öffnete und schloss den Mund, tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug dann vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Produktive Erinnerung fährt nämlich in solchen Momenten ihr Spiegelkabinett hoch und ihre Bilder wirken leicht und licht bei aller Beschwernis: Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber bis spät auf dem Sofa. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal aus der Küche ein Butterbrot, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Davon, was für ein Glück und was für eine Freude das brachte. Davon, wie man zwischendurch wieder zu den Alten griff, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln von Papieren und mehrfaches Räuspern ringsum - Tanner hob den Kopf, Raum 205 tauchte auf, er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Dem Klang von "Old School" nachhören. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?" "Habe einen Haiku notiert."

Als sich die Gesichter ihm zuwandten, atmete Anderson tief ein und ließ dann den Japaner langsam über die Zeilen staksen, auf den Silben balancierend.

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer nahezu ertrank und dann im Wirbelstrom der Dozentenworte kreiselnd herumtrieb, es sollte keinerlei Kunstfertigkeiten vorgeführt werden und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme seiner Person und für die anderen wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen wohl auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen eher beiläufig gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Sich was zutrauen und sich vertrauen. Es gab noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der öffnete und schloss den Mund, tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug dann vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte. Produktive Erinnerung fährt nämlich in solchen Momenten ihr Spiegelkabinett hoch und ihre Bilder wirken leicht und licht bei aller Beschwernis: Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber bis spät auf dem Sofa. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal aus der Küche ein Butterbrot, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Davon, was für ein Glück und was für eine Freude das brachte. Davon, wie man zwischendurch wieder zu den Alten griff, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln von Papieren und mehrfaches Räuspern ringsum - riefen Tanner zurück in Raum 205; er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Dem Klang von "Old School" nachhören. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?" "Habe einen Haiku notiert."

Als sich die Gesichter ihm zuwandten, atmete Anderson tief ein und ließ dann den Japaner langsam über die Zeilen staksen, auf den Silben balancierend.

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer nahezu ertrank und dann im Wirbelstrom der Dozentenworte kreiselnd herumtrieb, es sollte keinerlei Kunstfertigkeiten vorgeführt werden und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme seiner Person und für die anderen wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen wohl auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen eher beiläufig gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Sich was zutrauen und sich vertrauen. Es gab noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der öffnete und schloss den Mund, tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug dann vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte in sich hinein. Dort hat sich die Erinnerung gemeldet. Sie fährt die silberne Leinwand hoch und Bilder laufen darüber, leichtfüßig bei aller Beschwernis: Man hatte sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber bis spät auf dem Sofa. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal aus der Küche ein Butterbrot, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Davon, was für ein Glück und was für eine Freude das brachte. Davon, wie man zwischendurch wieder zu den Alten griff, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln von Papieren und mehrfaches Räuspern ringsum - riefen Tanner zurück in Raum 205; er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Dem Klang von "Old School" nachhören. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?" "Habe einen Haiku notiert."

Als sich die Gesichter ihm zuwandten, atmete Anderson tief ein und ließ dann den Japaner langsam über die Zeilen staksen, auf den Silben balancierend.

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 

Willibald

Mitglied
Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.

Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga

Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui

Friedrich Tanner wusste recht gut, wie man in einer Eröffnungsstunde am besten vorging. In so einer Situation war kein Theoretisieren gefragt, keine langen Monologe, in denen der Zuhörer nahezu ertrank und dann im Wirbelstrom der Dozentenworte kreiselnd herumtrieb, es sollten keinerlei Kunstfertigkeiten vorgeführt werden und erst recht keine schnelle Kritik an dem, was da gerade im Raum 205 geschrieben wurde. Also legte Tanner sein Konzeptpapier zur Seite, den Vierfarbenstift daneben, verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz entspannte Zurücknahme seiner Person und für die anderen wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vorne links der junge Mann, ein Herr Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik, erstes Semester "Literarisches Schreiben", war nun offensichtlich fertig geworden, die anderen wohl auch - sechs Studenten, drei Studentinnen. Tanner nickte ihm zu, Miltenberger straffte sich und begann vorsichtig zu sprechen: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner? Wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School?”

Die Stimme hörte sich für Tanner ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, bitte”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach sicher gleich wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen eher beiläufig gesagt, Akustik, Blickkontakt, das sollte schon beachtet werden beim Vorlesen. Sich was zutrauen und sich vertrauen. Es gab noch ein aufmunterndes Lächeln für den Studenten. Der öffnete und schloss den Mund, tippte kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde und trug dann vor. Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe, bei Nachtfahrt im Regen:

"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."

„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner leise und lächelte in sich hinein. Dort hatte sich die Erinnerung gemeldet. Sie fuhr die silberne Leinwand hoch und die Bilder liefen darüber, leichtfüßig bei aller Beschwernis: Sechs Semester Germanistik in München: Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel Deutsche Stilkunst, Thomas Mann Zauberberg, Heinrich Seidel Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber bis spät auf dem Sofa. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal aus der Küche ein Butterbrot, halbiert, Schnittchen ("Reiterli"), noch eins. Kirschen aus dem Garten oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder aus dem Keller. Sollte er irgendwann den jungen Leuten davon erzählen?

Davon, wie er zusammen mit dem Großvater Neues entdeckt hatte? Zum Beispiel diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Davon, was für ein Glück und was für eine Freude das brachte. Davon, wie man zwischendurch wieder zu den Alten griff, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal der Griff in den Rumtopf ganz hinten im Regal, dann wieder Knut Hamsun. Oder zum siebten Mal Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" von der VHS-Kassette. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin entschwunden?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Die Brille ist oben auf´m Kopf.“).

Rascheln von Papieren und mehrfaches Räuspern ringsum - riefen Tanner zurück in Raum 205; er nickte dem jungen Mann zu: „Entschuldigung, Herr Miltenberger. Ja. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“ Dem Klang von "Old School" nachhören. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?" "Habe einen Haiku notiert."

Als sich die Gesichter ihm zuwandten, atmete Anderson tief ein und ließ dann den Japaner langsam über die Zeilen staksen, auf den Silben balancierend.

"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."

Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:

"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."

Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander." Friedrich Tanner lehnte sich zurück: „ Die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."

Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”

Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch. Zwei Florette in Schwundform, vielleicht bald elegant und anmutig geführt, funkelnd und sprühend im Gang der Stunde. Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach, die Großvaterhöhle und die zwei jungen Fechter. Sie verneigen sich spielerisch voreinander.
Da schau her, dachte Tanner, das wird gut.
 



 
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