Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.
Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga
https://up.picr.de/34917934md.jpg
Schau, schau! Eine Viertelstunde vorbei im Seminarraum R 205, Wacherstraße. Fünf Tische, an jedem zwei Studenten: „Literarisches Schreiben“, erste Sitzung.
Vorne links der junge Mann da, heißt Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik. Er ist fertig mit Schreiben, die anderen auch, er beginnt vorsichtig: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner, wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School.? Jetzt gleich unseren Text präsentieren, Herr Tanner?”
Hm, die Stimme hörte sich ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, jetzt”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach (war halt so) sicher wieder senkrecht vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen gesagt, das hier sollte schon beachtet werden beim Vorlesen: Akustik, Blickkontakt. Einfach auf das Umfeld achten.
Nun ein aufmunterndes Lächeln für Konrad Miltenberger. Der nahm Blickkontakt auf, zu Tanner, zu den anderen. Tippte nun aber kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie dort hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde: Augen eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe bei Fahrt im Regen durch die Nacht. Er begann - konzentriertes Lenken hinter den vorausleuchtenden Scheinwerfern her - vornübergebeugt:
"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."
„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner und schwieg ein bisschen. Dafür auch hatte man sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das hier jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel
Deutsche Stilkunst, Thomas Mann
Zauberberg, Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen. Camping auf dem Sofa. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal in der Küche ein Butterbrot holen. Kirschen aus dem Garten. Dann hatten sie zusammen Neues entdeckt, W.A. Auden und Thomas Kling. Glück und Freude. "5 tage und nächte, schwimmend, in büllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich." Dann wieder der Griff zu den Alten („die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, „O Siegfried, du meine hürnene Brille, dein Macher hat einst das Gestell in Drachenblut getaucht, dann Gläser eingesetzt und so dich erschaffen, wo bist du denn eigentlich schon wieder hin?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Oben auf´m Kopf.“). Tanner klinkte sich wieder in den Raum 205 ein, nickte dem jungen Mann zu:
„Ja, Herr Miltenberger. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“
Pause. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?"
"Habe einen Haiku notiert. " Und dann langsam, die Silben im Knie, nach der ersten und der zweiten Zeile innehaltend, schritt meditativ und tänzelnd der Japaner durch den Raum:
"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."
Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt, was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte. Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Student. So auf den ersten Blick eher ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. "Bitte, Sie sind dran."
"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."
Wow. Wow. Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumdozieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander“, Friedrich Tanner lehnte sich zurück, „ die anderen Texte kommen später, plaudern wir los..“
Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”
Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch: Klirrende Klingen - Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz - die zwei jungen Recken verneigen sich spielerisch voreinander.
Na, nunja, dachte Tanner, das wird gut.