xavia
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[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]
Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hatte seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hatte sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!
Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hatte ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.
Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hatte er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Tagung gekommen waren. Von einer Tagung, auf der sie kein Wort gewechselt hatten, denn es waren ja genügend viele andere Menschen dort gewesen. Und nun hatte er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passierte, sie fand es gut. Und sie versuchte auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlte. – Die hatte ja keine Ahnung!
Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hatte in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hatte sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er war jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hatte sich alle Details der Trennung angehört, hatte manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und war ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie gewesen bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hatte es ihr bewiesen und sie hatte nicht schlecht gestaunt.
Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die wusste was aus sich zu machen! Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis einen Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine war eine, mit der man sich sehen lassen konnte und für heute abend hatte er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt und Annika gesehen hat. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!
Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.
Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit verträumtem Blick aus braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er, sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik -- das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian guckt genervt aus dem Fenster, kann aber nicht umhin, das Gespräch der beiden mitanzuhören. Nach einer Weile reden sie über Tantra – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Christian ist ganz Ohr, vielleicht kann er ja noch etwas lernen.
Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das inzwischen spannend gewordene Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen kann zu ihm, wenn sie keine Lust hat, in der Nacht noch weiterzufahren. Sie nimmt dankend an und fröhlich verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen ihm eine gute Reise.
Als er in der Bahnhofshalle seufzend das Ende der Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen aufsucht, sind sie längst nicht mehr zu sehen.
Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hatte seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hatte sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!
Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hatte ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.
Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hatte er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Tagung gekommen waren. Von einer Tagung, auf der sie kein Wort gewechselt hatten, denn es waren ja genügend viele andere Menschen dort gewesen. Und nun hatte er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passierte, sie fand es gut. Und sie versuchte auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlte. – Die hatte ja keine Ahnung!
Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hatte in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hatte sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er war jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hatte sich alle Details der Trennung angehört, hatte manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und war ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie gewesen bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hatte es ihr bewiesen und sie hatte nicht schlecht gestaunt.
Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die wusste was aus sich zu machen! Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis einen Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine war eine, mit der man sich sehen lassen konnte und für heute abend hatte er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt und Annika gesehen hat. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!
Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.
Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit verträumtem Blick aus braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er, sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik -- das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian guckt genervt aus dem Fenster, kann aber nicht umhin, das Gespräch der beiden mitanzuhören. Nach einer Weile reden sie über Tantra – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Christian ist ganz Ohr, vielleicht kann er ja noch etwas lernen.
Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das inzwischen spannend gewordene Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen kann zu ihm, wenn sie keine Lust hat, in der Nacht noch weiterzufahren. Sie nimmt dankend an und fröhlich verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen ihm eine gute Reise.
Als er in der Bahnhofshalle seufzend das Ende der Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen aufsucht, sind sie längst nicht mehr zu sehen.