Schienenersatzverkehr

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xavia

Mitglied
[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]


Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hatte seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hatte sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hatte ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hatte er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Tagung gekommen waren. Von einer Tagung, auf der sie kein Wort gewechselt hatten, denn es waren ja genügend viele andere Menschen dort gewesen. Und nun hatte er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passierte, sie fand es gut. Und sie versuchte auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlte. – Die hatte ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hatte in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hatte sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er war jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hatte sich alle Details der Trennung angehört, hatte manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und war ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie gewesen bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hatte es ihr bewiesen und sie hatte nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die wusste was aus sich zu machen! Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis einen Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine war eine, mit der man sich sehen lassen konnte und für heute abend hatte er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt und Annika gesehen hat. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit verträumtem Blick aus braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er, sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik -- das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian guckt genervt aus dem Fenster, kann aber nicht umhin, das Gespräch der beiden mitanzuhören. Nach einer Weile reden sie über Tantra – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Christian ist ganz Ohr, vielleicht kann er ja noch etwas lernen.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das inzwischen spannend gewordene Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen kann zu ihm, wenn sie keine Lust hat, in der Nacht noch weiterzufahren. Sie nimmt dankend an und fröhlich verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen ihm eine gute Reise.

Als er in der Bahnhofshalle seufzend das Ende der Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen aufsucht, sind sie längst nicht mehr zu sehen.
 

molly

Mitglied
Hallo Xavia

Du hast diesen jungen "Griesgram" sehr lebendig geschildert.

Ein humorvoller Text, den ich gern gelesen habe!

Viele Grüße

molly
 

xavia

Mitglied
Hallo Molly, vielen Dank für deine freundlichen Worte! Dann hat es sich ja gelohnt, noch einen Versuch zu wagen :) LG Xavia.
 

ackermann

Mitglied
Hallo @xavia,

ein bisschen spannender könnte der Text ja schon sein. Der Text plätschert so dahin und man (also ich) weiß am Schluss schon gar nicht mehr wie der Anfang war. Um es mal positiv auszudrücken: eine mehr als harmlose Geschichte.

Aber warum sollte es nicht auch harmlose Geschichten geben. Alle müssen mit (Inklusion) ;)

Gruß
ackermann
 
E

eisblume

Gast
Hallo xavia,

ich bin mir noch nicht so ganz sicher, was du mit deiner Geschichte ausdrücken möchtest. Diese Überarbeitung soll ja für sich allein stehen und nicht im Kontext mit der ersten Geschichte (die in der Ich-Version) gesehen werden, oder?

Ich hab ja schon geschrieben, dass mir die zweite Version insgesamt besser gefallen hat, weil die auf mich lebhafter und näher am Prota gewirkt hat. Du hast jetzt ja nicht so viel verändert, bis natürlich auf diesen Einschub mit dem neuen Fahrgast. Ich finde leider, dass man sehr deutlich merkt, dass dieser Teil eingeschoben ist, der fließt nicht so mit dem Ganzen mit.
Ich denke, dass es dir darum geht, diesen spirituellen/esoterischen Ansatz miteinfließen zu lassen, und das würde mir gefallen, aber das ist es (für mich) in der Form noch nicht. Du könntest diesem jungen Mann durchaus noch mehr Raum geben, damit er nicht so dazwischen reingequetscht wirkt. Dabei aber Christian nicht vergessen, denn von seinem Blickwinkel geht sozusagen alles aus.

Nach einer Weile reden sie über Tantra – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Christian ist ganz Ohr, vielleicht kann er ja noch etwas lernen.
Das geht mir zu schnell. Erst noch die Entrüstung (wegen des !) von wegen keinem Schamgefühl, und in der nächsten Sekunde ist er schon ganz Ohr. Das passt für mich nicht zusammen.

Ich würde sagen, da musst du nochmal ran :)


herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
Hallo Ackermann und Eisblume, vielen Dank für eure Meinungsäußerungen. Ich werde darüber nachdenken und nach einem Weg suchen, der Geschichte mehr Spannung zu verleihen, ohne sie zu verlängern. Ja, sie soll für sich stehen, die erste war ein Versuch, mit dem ich recht unsicher war und aufgrund der Reaktionen habe ich ihn verworfen. Nicht gelöscht, weil ja auch Gescheitertes interessant sein kann und ich es manchmal schade finde, wenn ich Kommentare lese und nicht mehr sehen kann, was da kommentiert wurde. Die Aussage, die ich anstrebe, ist immer noch die vom ersten Versuch: Glück ist eine Sache er Einstellung, nicht eine Sache der Ereignisse.
LG Xavia.
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
hey Ingolstadt!!
Nice.
weiter so
zeig mir dein ingolstadt bro
 

xavia

Mitglied
[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]


Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hatte seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hatte sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hatte ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hatte er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Tagung gekommen waren. Von einer Tagung, auf der sie kein Wort gewechselt hatten, denn es waren ja genügend viele andere Menschen dort gewesen. Und nun hatte er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passierte, sie fand es gut. Und sie versuchte auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlte. – Die hatte ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hatte in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hatte sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er war jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hatte sich alle Details der Trennung angehört, hatte manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und war ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie gewesen bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hatte es ihr bewiesen und sie hatte nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die wusste was aus sich zu machen! Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, einen Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine war eine, mit der man sich sehen lassen konnte und für heute abend hatte er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt mit Annika gesehen hat. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit verträumtem Blick aus braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er, sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch etwas lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen kann zu ihm, wenn sie keine Lust hat, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt der Knabe, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen ihm eine gute Reise.

Als Christian in der Bahnhofshalle seufzend das Ende der Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen aufsucht, sind die beiden längst nicht mehr zu sehen.
 

xavia

Mitglied
[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]


Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hat seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hat sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hat er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Tagung kamen. Von einer Tagung, auf der sie kein Wort gewechselt haben, denn es waren ja genügend viele andere Menschen dort. Und nun hat er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passiert, sie findet es gut. Und sie versucht auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlt. – Die hat ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hat in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hat sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er ist jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hat sich alle Details der Trennung angehört, hat manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und ist ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann und für heute abend hat er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt mit Annika gesehen hat. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit verträumtem Blick aus braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen kann zu ihm, wenn sie keine Lust hat, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt der Knabe, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen ihm eine gute Reise.

Als Christian in der Bahnhofshalle seufzend das Ende der Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen aufsucht, sind die beiden längst nicht mehr zu sehen.
 
E

eisblume

Gast
Hallo xavia,

bisserls was hätte ich noch:

Von einer Tagung, auf der sie kein Wort gewechselt haben, denn es waren ja genügend viele andere Menschen dort.
Da fällt dir sicher eine "geschmeidigere" Formulierung ein :)


Hier stimmt die Zeit noch nicht:
... weil sie Kurt mit Annika gesehen hat.
hätte
... dass sie gerne mitkommen kann zu ihm, wenn sie keine Lust hat, in der Nacht noch weiterzufahren
könne bw. habe.

Sei mir nicht bös, aber der Schlusssatz ist ein wenig fad und aus Christians Sicht heraus geshrieben auch recht distanziert. Da fand ich die Bart-Simpson-Wolke pfiffiger.

herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]

Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hat seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hat sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hat er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Veranstaltung kamen. Während der Tagung ist es ihm gelungen, dieser Öko-Tante aus dem Weg zu gehen, aber nun hat er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passiert, sie findet es gut. Und sie versucht auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlt. – Die hat ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hat in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hat sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er ist jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hat sich alle Details der Trennung angehört, hat manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und ist ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann und für heute abend hat er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt mit Annika gesehen hätte. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit fröhlichen braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer verbeulten Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen könne zu ihm, wenn sie keine Lust habe, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt er, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen eine gute Reise.

Seufzend reiht Christian sich in der Bahnhofshalle in die Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen ein und versucht, sich nicht vorzustellen, welchen Spaß seine Mitreisenden heute Nacht haben. Er hört nicht das schallende Gelächter der beiden, die es gerade noch bis zum Ausgang geschafft haben:
»Wie konntest du wissen, …« bringt sie mühsam hervor.
»Konnte ich nicht«, japst er, »aber da war so eine Stimmung zwischen euch, die forderte einen Schabernack zur Entspannung. Als du von ›Tantra‹ anfingst und ich seine Reaktion gesehen hab', da ging es wie von selbst.«
 

xavia

Mitglied
Liebe Eisblume, heißen Dank für deine Anregungen und Korrekturen! Mir ist nun ein anderes Ende eingefallen, ich hoffe, es gefällt dir. LG Xavia.
 
E

eisblume

Gast
Liebe xavia,

du musst das jetzt keinesfalls so umschreiben, dass es MIR gefällt ;-)
Dieses Ende gefiele mir zwar besser, nur passt das aus Christians Perspektive heraus nicht: Wenn er sie nicht mehr hören kann, wie weiß er dann, dass sie schallend lachen und was sie sagen? Er könnte sich das nur denken/vorstellen/vermuten.

herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
Liebe Eisblume,
gefiele es MIR nicht, würde ich es nicht schreiben, keine Bange. Aber wenn es dir auch gefällt ist das allemal besser für die Geschichte und die schweigenden LeserInnen :)
Der Perspektivenwechsel am Ende war Absicht. Ich dachte, ich könne das machen um etwas mitzuteilen, das sonst nicht mitteilbar ist, quasi aus einer höheren Sicht:
Er hört nicht mehr das schallende Gelächter …
Geht das nicht? Oder würde es gehen mit einem extra Absatz davor?
LG Xavia.
 
E

eisblume

Gast
Liebe xavia,

wenn der Bruch gewollt ist, gehört da ein Absatz hin.
Ich denke schon, dass man das so machen kann (hab mir sagen lassen, dass das mit der Perspektive wohl nicht mehr so eng gesehen wird). Nur verstehe ich diesen Wechsel nicht. Vielleicht bin ich in der Richtung aber einfach nicht flexibel genug, als dass ich so einen einmaligen Perspektivwechsel quasi auf den letzten Meter gut finde. Mir fehlt da einfach die Motivation dahinter, und weil dem so ist, hat das für mich dann so einen Touch davon, dass sich ein Autor nicht anders zu helfen wusste.

Nicht falsch verstehen: Ich unterstelle dir damit jetzt nicht, dass du das so gemacht hast, weil du es nicht anders konntest!!
Du feilst sehr an dieser Geschichte und das zeigt deutlich, dass sie dir am Herzen liegt und dass du daran arbeitest.

Ich möchte gern kurz noch darauf zurückkommen:
Die Aussage, die ich anstrebe, ist immer noch die vom ersten Versuch: Glück ist eine Sache der Einstellung, nicht eine Sache der Ereignisse.
Ich finde, diese Aussage kommt noch nicht so recht durch. Vielleicht wäre das ja auch eine Idee für den Schluss. Freilich jetzt nicht mit dem Holzhammer präsentiert, aber halt diese Richtung.

herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]

Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hat seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hat sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hat er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Veranstaltung kamen. Während der Tagung ist es ihm gelungen, dieser Öko-Tante aus dem Weg zu gehen, aber nun hat er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passiert, sie findet es gut. Und sie versucht auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlt. – Die hat ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hat in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hat sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er ist jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hat sich alle Details der Trennung angehört, hat manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und ist ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann und für heute abend hat er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt mit Annika gesehen hätte. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit fröhlichen braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer verbeulten Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen könne zu ihm, wenn sie keine Lust habe, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt er, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen eine gute Reise.

Seufzend reiht Christian sich in der Bahnhofshalle in die Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen ein und versucht, sich nicht vorzustellen, welchen Spaß seine Mitreisenden heute Nacht haben.

[ 20]***

Er hört nicht das schallende Gelächter der beiden, die es gerade noch bis zum Ausgang geschafft haben:
»Wie konntest du wissen, …« bringt sie mühsam hervor.
»Konnte ich nicht«, japst er, »aber da war so eine Stimmung zwischen euch, die forderte einen Schabernack zur Entspannung. Als du von ›Tantra‹ anfingst und ich seine Reaktion gesehen hab', da ging es wie von selbst.«
 

xavia

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[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]

Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hat seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hat sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hat er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Veranstaltung kamen. Während der Tagung ist es ihm gelungen, dieser Öko-Tante aus dem Weg zu gehen, aber nun hat er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passiert, sie findet es gut. Und sie versucht auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlt. – Die hat ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hat in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hat sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er ist jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hat sich alle Details der Trennung angehört, hat manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und ist ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann und für heute abend hat er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt mit Annika gesehen hätte. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit fröhlichen braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer verbeulten Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen könne zu ihm, wenn sie keine Lust habe, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt er, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen eine gute Reise.

Seufzend reiht Christian sich in der Bahnhofshalle in die Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen ein und versucht, sich nicht vorzustellen, welchen Spaß seine Mitreisenden heute Nacht haben.

[ 1][ 2][ 3][ 4]***

Er hört nicht das schallende Gelächter der beiden, die es gerade noch bis zum Ausgang geschafft haben:
»Wie konntest du wissen, …« bringt sie mühsam hervor.
»Konnte ich nicht«, japst er, »aber da war so eine Stimmung zwischen euch, die forderte einen Schabernack zur Entspannung. Als du von ›Tantra‹ anfingst und ich seine Reaktion gesehen hab', da ging es wie von selbst.«
 

xavia

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[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]

Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hat seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hat sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hat er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Veranstaltung kamen. Während der Tagung ist es ihm gelungen, dieser Öko-Tante aus dem Weg zu gehen, aber nun hat er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passiert, sie findet es gut. Und sie versucht auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlt. – Die hat ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hat in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hat sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er ist jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hat sich alle Details der Trennung angehört, hat manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und ist ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann und für heute abend hat er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt mit Annika gesehen hätte. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit fröhlichen braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer verbeulten Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen könne zu ihm, wenn sie keine Lust habe, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt er, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen eine gute Reise.

Seufzend reiht Christian sich in der Bahnhofshalle in die Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen ein und versucht, sich nicht vorzustellen, welchen Spaß seine Mitreisenden heute Nacht haben.

[ 1][ 2][ 3][ 4][ 5][ 6][ 7][ 8][ 9][ 10][ 11][ 12]***

Er hört nicht das schallende Gelächter der beiden, die es gerade noch bis zum Ausgang geschafft haben:
»Wie konntest du wissen, …« bringt sie mühsam hervor.
»Konnte ich nicht«, japst er, »aber da war so eine Stimmung zwischen euch, die forderte einen Schabernack zur Entspannung. Als du von ›Tantra‹ anfingst und ich seine Reaktion gesehen hab', da ging es wie von selbst.«
 

xavia

Mitglied
[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]

Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hat seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hat sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hat er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Veranstaltung kamen. Während der Tagung ist es ihm gelungen, dieser Öko-Tante aus dem Weg zu gehen, aber nun hat er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passiert, sie findet es gut. Und sie versucht auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlt. – Die hat ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hat in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hat sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er ist jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hat sich alle Details der Trennung angehört, hat manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und ist ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann und für heute abend hat er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt mit Annika gesehen hätte. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit fröhlichen braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer verbeulten Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen könne zu ihm, wenn sie keine Lust habe, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt er, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen eine gute Reise.

Seufzend reiht Christian sich in der Bahnhofshalle in die Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen ein und versucht, sich nicht vorzustellen, welchen Spaß seine Mitreisenden heute Nacht haben.

[ 1][ 2][ 3][ 4][ 5][ 6][ 7][8][9][10][11][12]***

Er hört nicht das schallende Gelächter der beiden, die es gerade noch bis zum Ausgang geschafft haben:
»Wie konntest du wissen, …« bringt sie mühsam hervor.
»Konnte ich nicht«, japst er, »aber da war so eine Stimmung zwischen euch, die forderte einen Schabernack zur Entspannung. Als du von ›Tantra‹ anfingst und ich seine Reaktion gesehen hab', da ging es wie von selbst.«
 

xavia

Mitglied
[Überarbeitete Version von »Eine Frage der Perspektive«]

Der InterCity Express saust von Ingolstadt nach Würzburg. Christian Focke schaut in den ausliegenden Fahrplan, guckt auf die Uhr, sieht aus dem Fenster, wie die Bäume und Wiesen vorbeirauschen. Obwohl es jetzt schnell geht und er einen bequemen Sitz hat, ist er unzufrieden. Er sitzt entgegen der Fahrtrichtung, das findet er suboptimal, er bewegt sich nicht gerne rückwärts fort, aber er hat seiner Begleiterin die Wahl gelassen und natürlich hat sie sich für den Platz in Fahrtrichtung entschieden. Sein Magen ist ohnehin angeschlagen von den wilden Berg- und Talfahrten des Schienen-Ersatzverkehrs. – Daran hätte sie auch denken können!

Aber diese Frau scheint überhaupt kein Gespür für Ungemach zu haben, weder für das eigene noch für das ihrer Mitmenschen. Seit Eichstätt nervt sie ihn mit ihrer guten Laune, alles will sie schönreden, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten, wie sie rittlings auf ihrem roten Hartschalenkoffer in überfüllten Zügen quer durch Japan gereist ist, ohne gebuchte Sitzplätze. Na, toll! Das ist auf jeden Fall Geschmacksache und sein Geschmack wäre eine solche Reise nicht. Überhaupt hätte er lieber mit dem Auto fahren sollen, er weiß ja, dass auf die Bahn kein Verlass ist und als dann der Zug in Eichstätt ausgefallen ist und sie mit einem Reisebus fahren mussten, hat ihn das überhaupt nicht gewundert. Klar, dass die Bahn lange genug gewartet hat, damit er seinen Anschluss-Zug nach Hamburg verpasst. Da kann jetzt der ICE rasen wie er will.

Seine Begleiterin, eine Frau um die 50, also gut 15 Jahre älter als er, hat er auf dem Bahnhof Eichstätt kennengelernt. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie auf denselben Zug warteten und zudem noch von derselben Veranstaltung kamen. Während der Tagung ist es ihm gelungen, dieser Öko-Tante aus dem Weg zu gehen, aber nun hat er sie an den Hacken. Egal, was ihnen passiert, sie findet es gut. Und sie versucht auch noch, ihm einzureden, dass es seine eigene Entscheidung sei, dass er sich so schlecht fühlt. – Die hat ja keine Ahnung!

Heute wäre der Tag gewesen. Die Clique in Hamburg hat in der Artischocke gebucht, schon vor Monaten. Nadine und Kurt würden auch dabei sein. Kurt hat sich vor drei Monaten von Nadine getrennt, er ist jetzt mit Annika zusammen. Er, Christian, hat sich alle Details der Trennung angehört, hat manche tränenreiche Nacht mit Nadine durchwacht und ist ihr ein wirklich guter Freund gewesen. Er war schon scharf auf sie, bevor sie mit Kurt zusammenkam. Damals fand sie ihn zu sehr »Macho«. Aber man kann sich ja ändern, er hat es ihr bewiesen und sie hat nicht schlecht gestaunt.

Verstohlen blickt er zu seiner Mitreisenden hinüber, die gerade begeistert die Kühe auf der Wiese betrachtet, als hätte sie im Leben noch keine gesehen. Sie wirkt lebendig und fit, gute Figur – aber ihr Outfit! Kein Make-up, die langen Haare hängen einfach so herunter, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe – in dem Alter! Dennoch, er würde sie wohl nicht von der Bettkante schubsen, man wusste ja: Je oller, je doller und eine, die schon so eine Zugfahrt dermaßen genießen kann, die hat es bestimmt drauf, die kennt alle Tricks. – Aber optisch kein Vergleich zu Nadine! Die weiß was aus sich zu machen: Lange blonde Locken, ein verführerischer rosa Erdbeermund, superenge Pullis, ein Ausschnitt … whow! Wenn er sich nach durchwachter Nacht im Spiegel nicht mehr wiedererkannte, sah sie perfekt aus wie immer, nachdem sie nur kurz im Bad gewesen ist. Ja, Nadine ist eine, mit der man sich sehen lassen kann und für heute abend hat er sich vorgestellt, sie nach dem Essen nach Hause zu fahren und mit zu ihr raufzukommen, wie schon so oft, aber dieses Mal wäre sie leicht angeschlagen gewesen, weil sie Kurt mit Annika gesehen hätte. Und hoffentlich noch kampfbereit genug, um es ihm heimzuzahlen. Da wäre er, Christian, genau der richtige Mann zur rechten Zeit gewesen. Verdammt, verdammt, die richtige Zeit, die hat er jetzt verpasst!

Und gleich, in Würzburg, wird er auch noch die Häme im Blick dieser selbstgefälligen Besserwisserin ertragen müssen, wenn er sein Ticket umbuchen lässt.

Ein Fahrgast ist zugestiegen, ein junger Mann mit fröhlichen braunen Augen, störrischem hellbraunen Haarschopf und einer verbeulten Cordjacke. Er fragt, ob er sich auf einen der beiden freien Plätze des Viererabteils setzen kann, auf denen die beiden ihr Gepäck stehen haben. Klar darf er. Sie verstauen ihren Kram auf einem der Sitze, kein Problem. Er hat nur eine Gitarre dabei, die er vorsichtig zwischen seine Füße stellt. Die Frau lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie beginnen miteinander zu reden. Seltsame Themen: Philosophie, Esoterik – das scheint so ein Frauenversteher zu sein oder zumindest versteht er es blendend, einen solchen zu spielen. Christian beobachtet die beiden in der spiegelnden Fensterscheibe – draußen ist es längst dunkel geworden. Jetzt reden sie über Tantra: Das sind doch die Tricks, mit denen die Gurus ihre Schäfchen in die Kiste kriegen. Vielleicht kann man da ja noch was lernen. Christian ist entsetzt und fasziniert zugleich: Zwei völlig Fremde reden über ein so heikles Thema wie Sex, als wenn sie Reiseerinnerungen austauschen würden.

Da unterbricht die Ansage, dass sie in Kürze in Würzburg sind, das spannende Gespräch und der Knabe mit der Gitarre teilt ihr mit, dass er dort wohne und dass sie gerne mitkommen könne zu ihm, wenn sie keine Lust habe, in der Nacht noch weiterzufahren: »Schienenersatz-Verkehr« sagt er, sie stutzt und beide brechen in schallendes Gelächter aus – die haben ja wohl überhaupt kein Schamgefühl! Sie nimmt dankend an und immer noch giggelnd wie die Teenager verabschieden sich die beiden von ihm und wünschen eine gute Reise.

Seufzend reiht Christian sich in der Bahnhofshalle in die Schlange am Schalter für die Ticket-Umbuchungen ein und versucht, sich nicht vorzustellen, welchen Spaß seine Mitreisenden heute Nacht haben.

[ 1][ 2][ 3][ 4][ 5][ 6][ 7][ 8]***

Er hört nicht das schallende Gelächter der beiden, die es gerade noch bis zum Ausgang geschafft haben:
»Wie konntest du wissen, …« bringt sie mühsam hervor.
»Konnte ich nicht«, japst er, »aber da war so eine Stimmung zwischen euch, die forderte einen Schabernack zur Entspannung. Als du von ›Tantra‹ anfingst und ich seine Reaktion gesehen hab', da ging es wie von selbst.«
 



 
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