Sturmtoben
Niko barg sich zwischen den Beinen seiner Eltern. Die herrenlose Seite der Tageszeitung vor sich hertreibend zerrte der Wind an Jacken und Kapuzen. Regen schlug Angelika ins Gesicht, als sie die Zeit von der Bahnhofsuhr ablas. Irritiert zog sie die Stirn kraus. „Stefan, weg kann die S-Bahn noch nicht sein, oder? . Ich versteh‘ nicht, warum außer uns Niemand da ist.“ „Wer weiß, vielleicht sitzen die schon vorm 'Tatort'.“
Stefan hörte sich verärgert an. „Angelka – wir hätten eher gehen müssen.“ „Und dann? Wären die Kinder ohne Abendessen unterwegs.“ Angelika wandte sich von Stefan ab. Sie wollte den Ärger Stefans nicht auffangen. „Ich geh‘ zu Elias“ kündigte Niko an. Lächelnd sah Angelika ihm nach. Elias saß auf einem der Plastiksitze und winkte fröhlich. „Deswegen wartet Niemand mit uns – die S-Bahn ist des Sturms wegen ausgefallen.“ Oh, nein! Das darf doch nicht wahr sein! Stefan, was machen wir jetzt?“ Angelikas Stimme nahm einen hohen und schrillen Ton an. Eine Laufschrift auf der Anzeigetafel über dem Bahnsteig stellte unmissverständlich klar, dass die S-Bahnen bis auf Weiteres ausfielen. Stefan überlegte. „Also mit der S-Bahn kommen wir nicht nach Hause.“ „Lass, uns den Bus zum Hauptbahnhof nehmen. Vom Hauptbahnhof sollten wi noch wegkommen können, oder nicht? Stefan?“ Fragend sah Angelika zu ihrem Mann auf. „Ich denke schon, ja.“ „Versuchen wir es.“ Angelika verbannte ihre Sorge aus ihre Stimme. Sie bekam Bauchschmerzen bei der Vorstellung, mit den Kindern an festzusetzten. „Elias, Daniel – wir müssen zum Buss gehen. Die S-Bahn kommt nicht so bald.“ Dankbar lächelte Angelika ihren Mann an. Ihm gelang es, die Kinder mit Nachdruck aufzufordern, ohne ihnen Angst zu machen. Niko nahm Elias an die Hand. „Elias, komm doch. Du kannst doch nicht hierbleiben.“ Der Siebenjährige zerrte an seinem Bruder, bis dieser sich ihm mit einem Seufzen anschloss. Unwillkürlich verdrehte Angelika die Augen: Das war typisch für ihren Sohn, der sich erst einmal weigerte, sein Selbstgespräch zu unterbrechen.
„Mama, der Bus ist ja schon da!“ Elias‘ Hand loslassend rannte Niko auf den Bus zu und winkte. Mit Elias an der Hand erreichte Angelika den Bus gerade noch bevor sich die Tür hinter Stefan schloss. Wieder zu Atem kommend wies sie die Kinder an, sich auf den letzten freien Platz zu setzen. Wind und Starkregen trotzend erreichte der Bus schließlich den Hauptbahnhof. Mit je einem Kind an der Hand durchquerte das Ehepaar die überfüllte Bahnhofshalle. Die von der Fahrt müde gewordenen Kinder quengelten und ließen sich nur widerwillig mitziehen. Von allen Seiten wurde Angelika angestoßen, zur Seite geschoben oder angepflaumt. „Stefan, ich will nur nach Hause.“. Die vielen Menschen überforderten Angelika. „Das kommen wir auch. Siehst Du?“ Stefan nahm ihr Niko ab und deutete auf die angezeigten Zugabfahrten. „Der Regionalverkehr ist zwar zusammengebrochen, aber wir dürfen stattdessen den ICE benutzen.“ Erleichtert atmete Angelika auf. „Wenn wir uns sputen, bekommen wir den nach Düsseldorf noch. Kommt mit, Ihr beiden.“ Fest behielt Angelika die kleine Kinderhand in ihrer, obwohl Elias trotz Weglauftendenz keine Anstalten machte, sich loszureißen. Vor ihr bahnte Stefan sich mit Niko einen Weg durch das Gewimmel, auf dem Angelika mit Elias folgen konnte.
„Kommen Sie. Setzen Sie sich.“ Eine indische Familie rückte im Abteil des ICEs zusammen. Ihren Jüngsten nahm Angelika auf den Schoß und hieß Elias, sich zu setzen. Eine Reisende saß zwischen ihnen und bedachte den Jungen mit einem irritierten Blick. Mit dem Oberkörper vor- und zurück schaukelnd brabbelte Elias vor sich hin. Angelika ignorierte den vorwurfsvollen Blick der Dame und sah auf die Anzeigetafel über dem Nachbargleis.
Unruhe machte sich unter den Mitreisenden breit und auch Angelika war verwundert: Längst hätte ihr ICE abfahren sollen. Draußen auf dem Gang drängte sich ein Schaffner an Stefan vorbei in das Abteil. Den Schwerbehindertenausweis ihres Sohnes aus ihrer Tasche kramend, fragte Angelika, warum ihr ICE noch im Bahnhof stand. „Wir haben keinen Lokführer. Er hängt im Regionalverkehr fest.“ Das war eine Antwort, die Angelika im ersten Moment die Sprache verschlug. „Kein Lokführer? Nun, dann kann der Zug in der Tat nicht fahren.“ Allen widrigen Umständen zum Trotz musste Angelika lachen. Es war nicht leicht für sie, mitten in diesem Sturm die Ruhe zu bewahren und abzuwarten. „Bitte? Ich kann Sie nicht verstehen.“ Verzweifelt versuchte Angelika aus dem Gestammel der ihr gegenüber Sitzenden schlau zu werden. „Was braucht Sie? Eine Bescheinigung vielleicht?“ Angelika wandte sich an die Inderin, die eifrig einen Zettel beschrieb. Verneinend den Kopf schüttelnd gab die junge Frau den Zettel zurück. Mit unverständlichen Lauten und Gebärden sprach sie auf ihre Sitznachbarin ein. In gebrochenem Deutsch versuchte diese vergeblich, die verstandenen Worte zusammenzufassen. Inzwischen versuchte ein weiterer Reisender zu intervenieren, aber auch er scheiterte am mangelnden Sprachvermögen. „Vielleicht weiß der Schaffner Rat.“ Auf dem Gang entstand erwartungsvolle Unruhe, als sich die Türen schlossen.
Endlich setzte der Zug sich in Bewegung. Aufgeregt fuchtelte Niko mit einer Hand und zeigte auf die Hochspannungsmasten, die am Fenster vorüberglitten. „Ja, es geht los. Bald sind wir zu Hause.“ Besänftigend strich Angelika ihm über den blonden Haarschopf und hielt gleichzeitig nach dem Schaffner Ausschau. Angelika hoffte im Stillen, dass dieser über genug Erfahrung verfügte, um helfen zu können. Gefühlt dauerte es noch Stunden bis der Schaffner kurz vor Mülheim an der Ruhr das Abteil erreichte. „Bitte, können Sie der jungen Frau nicht helfen? Wir verstehen nicht, was diese benötigt.“ „Sie arbeitet wohl in Düsseldorf, aber ...“ Hilflos zuckte die indische Mitreisende mit den Achseln. „Ich werde mit ihr in Düsseldorf aussteigen, damit ihr geholfen wird. Ich komme wieder, wenn ich den Zug abgepfiffen habe.“
Fassungslos sah die junge Frau dem Schaffner nach. Angelika konnte ihr Enttäuschung und Ärger vom Gesicht ablesen. Tränen standen in den Augen ihres Gegenübers.
Die Stimme der Bandansage kündigte Mühlheim an der Ruhr erst an, als der Zug bereits im Bahnhof stand. „Der Sturm hat bei der ganzen Bahn für Durcheinander gesorgt.“ Angelikas Bemerkung galt ihrem Mann, der in dem Gedränge im Gang kein Durchkommen fand. „Na, los. Wir müssen gleich aussteigen. Geh‘ schon mal zu Papa, ja?“ An der Tür des Abteils nahm ihr Mann seinen Sohn in Empfang. Angelika erhob sich und nahm Elias an die Hand. Dieser unterbrach sein gestenreiches und nur für ihn verständliches Selbstgespräch. Er zerrte so sehr an ihr, dass Angelika ihn schließlich kurz los ließ. Verdutzt sah sie zu, wie Elias zielstrebig auf die taubstumme Frau am Fenster zuging. Es war Angelika ein bisschen unangenehm, wie unvoreingenommen ihr Sohn dieser mit der Hand auf die Brust tippte. Irritiert wandten Mitreisende ihre Köpfe und musterten Elias ebenso mitleidig wie verärgert. Mit vor Überraschung geöffnetem Mund verfolgte Angelika die Gebärden ihres Sohnes. Zu ihrer Verwunderung schien Elias deren Unsicherheit verstanden zu haben. Mit seiner freien Hand zunächst auf sich zeigend, vollführte Elias die Gebärde für „Freund“. Das Gesicht der ihm Fremden strahlte auf: Sie verstand die Gebärdensprache, mit deren Hilfe Elias sprechen lernte. „Elias“ war das einzige lautsprachliche Wort, das der Junge herausbrachte. Angelika staunte, als ihr Sohn die Worte des Schaffners in Gebärdensprache übersetzte. Tränen der Freude rannen der eben noch die Hände ringenden Frau über die Wangen. Während der Zug anfuhr, verließ Angelika mit Elias das Abteil. Es half ja nichts: Bis zum nächsten Halt mussten sie die Tür erreicht haben, um aussteigen zu können. Ein- oder zweimal drehte Elias sich nach dem Abteil um und winkte fröhlich zum Abschied.
Bis sie in Duisburg ausstiegen, ließen Regen und Wind nach. Obwohl die Kinder zunehmend müde wurden und ihr die Ohren voll quengelten, legte sich die Unruhe in Angelika. Bald würden sie es geschafft haben und die Kinder ins Bett bringen können. „Das war ein schönes Erleben, Stefan. Ich bin so dankbar dafür.“ Angelika versuchte, ihre Gefühle zusammenzufassen. „Das war bewegend und so ermutigend, dass ich es bestimmt nicht so bald vergesse.“ Stumm nickte Stefan zu ihren Worten. „So ein Sturm hat eben auch sein Gutes. Hoffentlich konnte der Schaffner wirklich helfen.“ Angelika lächelte in der Erinnerung an die Gesichter der Mitreisenden.