Svensson: Auch Götter machen Fehler (Teil 1)

ArneSjoeberg

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Klappentext

„Die Nornen knüpfen das Netz des Schicksals aus vielen Fäden. Die Menschen verstehen nur die wenigsten davon. Leben nennen sie das und sie meinen, dass es für ihre Seelen eine Reise ohne Wiederkehr sei. Das zu glauben ist menschlich. Irren ist es auch.“
Johanna


In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts scheitert eine norwegische Antarktisexpedition, springt im Hafen von Algier ein Matrose der DDR-Handelsmarine über Bord, stirbt ein Osloer Großreeder durch einen Schuss ins Herz und erwacht in einem Armeelazarett ein Kampfschwimmer durch das Eingreifen einer mysteriösen Frau aus dem Schlaf. Es dauert dreißig Jahre, bis er versteht, dass sie der Schlüssel zu all diesen Ereignissen ist und welche Rolle sie ihm zugedacht hat in einem Kampf, in dem es nicht nur für ihn um viel mehr geht als nur um Leben und Tod.


Vorwort

Lieber Mensch,

es gibt da einiges, was ich dir sagen möchte, bevor du die Entscheidung fällst, dieses Buch zu lesen oder auch nicht. Es war der sechzehnte Juli 1945, als auf dem Gelände der White Sands Missile Range in der Nähe der Stadt Alamogordo in New Mexico unter dem Namen Trinity-Test der erste Atombombenversuch stattfand. Die Detonation war so stark, dass selbst Seismographen in der Antarktis die Schockwellen registrierten. Die Menschheit hatte den ultimativen Knüppel gefunden, mit dem sie sich selbst und jedes bekannte Leben auf der Erde vernichten konnte. Daran, dass es noch unbekanntes Leben geben könnte, dachte damals niemand. Warum auch? Wer eine solche Waffe konstruiert, denkt - wenn man das überhaupt Denken nennen kann - über den Tod nach, nicht über das Leben.
Unter der Antarktis liegt auch der Lake Wostok, ein riesiger, unterirdischer Hohlraum, der größte von mehr als 370 bisher bekannten subglazialen Seen unter dem Eisschild Antarktikas. Er und die Karte des Piri Reis aus dem Jahre fünfzehnhundertdreizehn existieren tatsächlich auf unserer Erde. Alles andere in diesem Buch, auch die Tatsache, dass dieses Buch auf einer anderen, nur denkbaren Erde spielt, ist das, was uns Menschen von Tieren und auch den intelligentesten Maschinen unterscheidet: Fantasie.
Ist es eine gute Geschichte? Ich glaube nicht. Eine gute Geschichte startet mit einer Actionszene, jeder weiß sofort, wo es langgeht. Da ist kein Vertun: Die Welt steht am Abgrund zur Nichtexistenz; der nicht sonderlich helle, dafür um so brutalere Schurke zeigt sich und der unzweifelhafte Held besiegt ihn und damit auch das Böse. Schwerverletzt und mit allerletzter Kraft trägt er auf seinen blutverkrusteten, aber immer noch starken Armen die langbeinige, meistens knapp bekleidete Schöne ins Licht. Wieder einmal ist die Welt gerettet, weil das Gute immer siegt, wenn wir ihm nur hinreichend von der Couch aus zujubeln und mit Kartoffelchips werfen. Möge der Teufel alle Zweifler und Aluhüte holen, sie sind Schuld an der Atombombe, dem Klimawandel und den Plastiktüten.
Die Geschichte ist voll von solchen Helden. Alexander von Makedonien nennen wir den „Großen“, weil er große Mengen Menschen umbringen ließ. Die großen Denker Marx und Lenin befeuerten den Kampf nicht existierender Klassen, in dessen Folge Millionen starben. Das Jahrtausendgenie Albert Einstein legte die theoretischen Grundlagen für die Atombombe. Pol Pot rottete die Intelligenz in seinem Land aus (was ihn um die Möglichkeit brachte, selbst Atombomben bauen zu lassen) und in diesem Buch beweist Sergej Rachmantikow, dass die Erde nur eine von Millionen parallelen anderen in einem oszillierenden Universum ist und macht mit dem Größenwahn der Einzigartigkeit menschlichen Lebens Schluss.
Mit aller Hartnäckigkeit hält sich die Legende, dass immer dann, wenn die Menschheit am Scheideweg ihrer Existenz steht, diese Helden erscheinen, um uns den Weg ins Licht einer strahlenden Zukunft zu weisen. Diese Legende ist nicht wahr, denn es waren niemals Außerirdische oder Superhelden, die für unser aller Überleben sorgten, sondern einfache Menschen, deren Heldentum darin bestand, sich ihre Menschlichkeit bewahrt zu haben.
Weil Menschsein unabhängig davon ist, ob man als solcher geboren wird oder in welcher Gestalt. Weil Menschsein bedeutet, wissen zu wollen, statt zu glauben; anderen zuzuhören, statt sie zu verdammen; ihren Schmerz zu spüren wie den eigenen; zu lieben, zu fühlen und zu hoffen - weit über jede Vernunft hinaus. Weil Mensch zu sein heißt, sich aufzulehnen und ein Zweifler zu sein ein Leben lang. Darum ist das hier vielleicht keine gute Geschichte. Nicht deshalb, weil es hier keine nur strahlenden Helden gibt und keine nur finsteren Bösewichter. Auch nicht, weil in diesem Buch Frauen nur Frauen sind und Männer nur Männer und nichts dazwischen. Nein, in dem, was heute für eine gute Geschichte gehalten wird, ist kein Platz mehr für Zweifel.
In diesem Buch geht es um das ungefilterte Leben, um Glück und Unglück, Liebe und Lust, Leben und Tod, abgrundtiefe Verzweiflung und das schmerzvolle Hoffen auf ein scheinbar gegen jede Logik doch vielleicht noch glückliches Ende – um das, was uns zu Menschen macht.
Wenn ich nicht zu viele Fehler gemacht habe, wird dir dieses Buch weh tun und glaubst du, das nicht ertragen zu können, solltest du es besser ungelesen beiseitelegen.
Oder natürlich, du vertraust Johanna: „Das zu glauben ist menschlich. Irren ist es auch.“

Ich würde es tun.


Rainer Sonnberg












“Die Wahrheit ist nicht das, was ihr wollt,
dass sie ist. Sie ist das, was sie ist und ihr
müsst euch ihrer Macht beugen oder eine
Lüge leben.”


Miyamoto Musashi


Kapitel 1


Schwerin 2020, Johannes-Hakonsen-Krankenhaus, Psychiatrie


Es war kurz vor zehn am Abend. Ich öffnete die Wagentür und warf die Aktentasche auf den Beifahrersitz.
„Sie sehen aus, als hätten Sie einen anstrengenden Tag gehabt. Lassen Sie uns einen Kaffee trinken.“
Ich drehte mich herum. Der Mann trug einen hellen, perfekt sitzenden Mantel, war groß, sehnig und das Lächeln um seinen schmallippigen Mundwinkel sah nicht danach aus, als hätte er viel Übung darin. Seine grauen Augen waren die Kältesten, die ich je gesehen habe.
Auch wenn ich ihm noch nie persönlich gegenübergestanden hatte, ahnte ich, mit wem ich das Missvergnügen hatte. Ich stützte mich mit einer Hand am Wagendach ab und erwiderte: „Lupus in Fabula.“
„Wenn man vom Wolf spricht, sitzt er einem schon im Genick. Ich hab ein Latein aufgepasst, Doktor. Hätten Sie es im Leben getan, wüssten Sie, dass man ihn dann nicht auch noch reizen sollte. Wir wollten einen Kaffee trinken.“
„Wollten wir nicht.“
„Oh doch.“ Er nickte zwei Männern in dunklen Jacken zu, die ein paar Schritte abseits standen. Auf mich wirkten sie nicht, als wäre ihre Hauptbeschäftigung das Schneiden von Rosenbüschen. „Sie wissen es nur noch nicht. Meiner Firma gehört Ihre Klinik und Sie wollen doch nicht Ihren Chef verärgern, oder?“
Ich griff nach meiner Aktentasche und warf die Wagentür zu. Freundlich grüßte er die wenigen Angestellten des medizinischen Personals, denen wir noch begegneten, und seine Chipkarte öffnete jede Tür meiner Klinik, sogar die zu meinem Allerheiligsten. Ich registrierte es und es machte mich wütend.
Monika war noch dabei, die Tablets der Stationsärzte mit den Daten der Patienten zu laden. Er sagte freundlich: „Guten Abend.“
„Gewöhnlich klopft man an beim Chef“, erwiderte sie und ließ sich nicht stören.
„Der steht vor Ihnen und ‚gewöhnlich‘ dürfte für mich kaum das passende Attribut sein.“
Er trat ein, als wäre er hier zu Hause. „Sie sind Monika. Ich bin Borg. Damit dürfte unsere Beziehung geklärt sein. Falls nicht, müsste ich näher auf ein goldgerahmtes Foto auf Ihrem Nachtschrank eingehen, dass nicht Ihren verblichenen Ehemann, sondern einen der hier Anwesenden zeigt, und ich bin es nicht. Dass er nichts davon weiß, wird seine Frau nicht interessieren, das Foto schon. Jetzt bringen Sie Ihrem Chef einen Kaffee und dann sorgen Sie dafür, dass wir nicht mehr gestört werden. Falls Ihnen draußen zwei Männer mit bösem Blick begegnen – es sind meine.“
Monika erbleichte. „Sie haben hier nichts zu sagen und wenn Sie hier mit einer ganzen Armee aufmarschieren. Nicht einmal, wenn Sie der liebe Gott wären.“
„Sehen Sie? Überall werde ich erkannt.“ Borg blickte mich an. „Sind Sie bitte so freundlich? Es ist zu spät am Abend, um grob zu werden.“
„Ist schon gut, Monika“, sagte ich. „Bringen Sie uns bitte Kaffee. Danke.“
„Soll ich Tavor mitbringen? Stellt auch bei Megalomanie erstmal ruhig“, fauchte sie.
„Milch und Zucker reicht, danke“, erwiderte ich und schloss die Tür hinter ihr.
Borg saß schon in meinem Sessel und blickte durch das Fenster hinüber zum Nordic-Tower. Er war der Sektionschef Deutschland von NordicSF und der Statthalter Hakonsens hier in Schwerin. Er war auch derjenige, der persönlich Svensson in der Antarktis eine Kugel in den Rücken gejagt und ihn so zur Strecke gebracht hatte. Die Kugel steckte noch immer in Svenssons Rückgrat und blockierte seine Nervenstränge, so dass er nur noch den Kopf und den rechten Arm bewegen konnte. Borg hatte eine Operation untersagt und ihn für alle Welt für tot erklärt. Dass ich Svensson als Elfjährigen gekannt hatte, hatte mir ein paar mehr als nur unangenehme Fragen von seinen Leuten eingebracht, aber ich hatte glaubwürdig genug simulieren können, dass ich nichts wusste. Was Svensson mir erzählt hatte, warum er hier in Schwerin im Alleingang fast den ganzen Konzern Hakonsens im Blut seiner Vorstandsmitglieder ersäuft hatte, hatte er mir als Arzt erzählt. Auch wenn dieses Krankenhaus hier wie so vieles anderes in der Welt Johannes Hakonsen gehörte, war mir das Arztgeheimnis heilig und deswegen hatte ich mich nicht weichklopfen lassen. Ich hatte Borg nie vorher getroffen, aber genug gehört von ihm, dass ich annehmen musste, dass er auch vor einem alten Arzt nicht Halt machen würde, sollte er von diesem Gespräch erfahren. Die Frage war, ob er aus diesem Grund hier war. Ich war mir sicher, dass ich es gleich erfahren würde.
„Sehen Sie“, sagte er, „ich kann Ihnen von da oben auf den Schreibtisch blicken. Von ganz oben. So ist das im Leben.“
„Sie überschätzen Ihre Bedeutung und Sie sitzen nicht ganz oben“, erwiderte ich. „Aber Sie wollen es, das pfeifen in Schwerin die Spatzen von den Dächern. Ich kann Ihnen wohl kaum dabei helfen. Was wollen Sie also hier?“
„Eine Diagnose, Doktor.“
„Dafür braucht es keinen Arzt. Die hat Ihnen Monika eben gestellt. Ich könnte höchstens noch hinzufügen, dass es um Ihre Heilungschancen ausgesprochen miserabel steht.“
Er lachte. Frei und ungekünstelt und es hätte ansteckend sein können, wenn seine kalten Augen nicht gewesen wären. „Warum diagnostizieren die, die unten sind, denen, die es nach oben geschafft haben, nur immer Größenwahn? Ich will es Ihnen sagen: Weil wir im Gegensatz zu ihnen den Mut haben, schwere Entscheidungen zu treffen. Deswegen kann ich Ihnen auch auf Ihren Schreibtisch spucken. Ich kann auf jeden Schreibtisch in dieser Stadt spucken, wenn ich es will.“
Das Lachen endete wie abgeschnitten. „Ich will es aber nicht. Ich will wissen, wieso Svensson mich ein um das andere Mal schlagen konnte.“
Es klopfte. Monika brachte den Kaffee. Sie ihn auf meinen Schreibtisch und verschwand. Borg erhob sich, knöpfte seinen Mantel auf und ging zum Fenster.
„Setzen Sie sich ruhig auf Ihren Platz“, sagte er.
Ich rührte mich nicht. Er nickte. „Natürlich. Sie müssen ja Ihr Gesicht waren. Aber vor wem? Es sind nur wie beide hier. Sie und ich wissen, dass ich letztlich bekomme, was ich will. Also setzen Sie sich bitte hin Doktor. Ich bin es nicht mehr gewohnt, etwas zweimal sagen zu müssen.“
Ich nahm Platz und goss mir einen Kaffee ein. Ich war müde.
Borg setzte sich auf einen der beiden Stühle vor meinem Schreibtisch. „Ich weiß, dass Sie alles gesammelt haben, was Sie über Svensson finden konnten, dass Sie ein Buch darüber schreiben wollen. Was Ihnen fehlt, ist mein Part dabei und das, was in der Antarktis geschehen ist. Meinen Teil habe ich ihnen auf diesen Stick gesprochen.“
Er schob einen Speicherstick zu mir herüber. Ein abgegriffenes Buch in rotem Ledereinband folgte.
„Das Buch hier ist das Expeditionstagebuch Thore Wejndahls. Ich habe es bereits für Sie übersetzen lassen. Die Datei ist ebenfalls auf dem Stick. Außerdem alles, was Sie über das wissen müssen, was in der Antarktis geschehen ist. Ich denke, zwei Wochen sollten für das Manuskript reichen. Doktor Niehusen weiß bereits, dass Sie ab Morgen Urlaub haben und er sie vertreten muss. Habe ich etwas unberücksichtigt gelassen?“
„Die Paragraphen im Strafgesetzbuch über Nötigung und Erpressung?“
„Lassen Sie mich bitte nicht an Ihrer Intelligenz zweifeln. Bevor Svensson hier das Blutbad angerichtet hat, hat er mit Ihnen eine ganze Nacht lang gesprochen. Es musste Ihnen doch klar sein, dass ich das weiß. Ebenso, dass jedes Gericht der Ansicht sein wird, dass Sie seine Morde hätten verhindern können, ärztliche Schweigepflicht oder nicht. Ich muss nicht einmal grob werden, um Sie für den Rest des Lebens aus dem Verkehr ziehen zu lassen.“
Sein Lächeln hätte einen Tigerhai neidisch machen können. Ich griff nach meiner Kaffeetasse. Meine Hand zitterte ein wenig, doch nicht aus Angst. Aus dem Alter, in dem Männer wie Borg mir welche hätten einjagen können, war ich hinweg. Es war Wut über meine Ohnmacht. Die gleiche Wut, die mich immer packte, wenn ich einem Menschen helfen wollte, es jedoch nicht konnte.
„Das Manuskript wird Ihnen nicht gefallen“, knurrte ich.
„Tja, dann sollte ich Ihnen wohl noch sagen, dass Svensson angefangen hat, zu malen. So richtig mit Leinwand und Pinsel. Immer nur zwei Motive. Frau mit langen roten Haaren, ich vermute, es ist Marianna, auch wenn sie kaum zu erkennen ist. Wahrscheinlich hätte er sie lieber schnitzen sollen, mit dem Messer war er immer richtig gut. Und mich malt er auch.“
„Warum erzählen Sie mir das?“
Borg stand auf. Es war eine kraftvolle Bewegung voller Energie. „Weil auf seinen Bildern Marianna Engelsflügel hat und ich die Fratze eines Dämons mit Teufelshörnern. Bevor Sie mir das Manuskript zukommen lassen, sollten Sie vielleicht etwas tiefgründiger über diese Symbolik nachdenken. Ich weiß nicht, ob sie für Marianna passt. Für mich auf jeden Fall. Gute Nacht, Doktor.“ Er ging.
Ich blieb lange sitzen. Ich treffe nie Entscheidungen im Zorn. Doch er wollte und wollte mich nicht verlassen. Ich griff nach dem roten Buch und blätterte es durch. Nicht nur das Leder des Einbands sah aus, als hätte es einiges mitgemacht. Innen waren Eselsohren, eingerissene Seiten, überschrieben Absätze und ich konnte fühlen, wie es geschrieben worden war.
Ich schob Borgs Stick in meinen Laptop, scrollte die Übersetzung bis fast zum Ende durch und blieb bei einem Absatz hängen.
Gott hat die Menschen geschaffen, ihn anzubeten. Obrigkeit, Kirche und Krieg, sie immer daran zu erinnern und die Hölle, auf dass die Seelen jener, die den Kopf nicht beugen wollen, in ihrem Feuer ewige Pein erleiden. So macht man es die Leute glauben, und nichts davon ist wahr. Die Hölle ist nicht heiß, sondern kalt; so sehr, dass die arme Seele, die sich dahin verirrt, nicht abgefackelt, sondern schockgefrostet wird. Dieses Reich der Verdammnis existierte lange, bevor es auf der Erde jemanden gab, der genug Hirn gehabt hätte, an einen Herrn über ihm zu glauben. Es ist die Antarktis und Robert Falcon Scott schrieb über sie in sein Tagebuch: „Großer Gott! dies ist ein schrecklicher Ort.“
Stürme wie ich sie nirgendwo sonst gesehen habe, rasen über ihren kilometerhohen Eispanzer in einer sechsmonatigen Nacht, die so rabenschwarz ist wie das Herz eines Kredithais und in der die Temperaturen in Bereiche fallen, in der Flüssigkeitsthermometer einfach nur zerplatzen. Schützt du dich vor der Kälte, schickt sie dir einen Blizzard auf den Hals; gehst du vor dem Sturm in Deckung, reißt sie das Eis unter deinen Füßen auf; stehst du auf festem Grund, rollt sie häusergroße Felsen heran und hast du das alles überlebt, spielt der Kompass verrückt und du findest den Weg zurück nicht mehr. Sie verzeiht keine Fehler und zu glauben, sie besiegt zu haben, ist einer. Scott war auf dem Rückmarsch vom Südpol, hatte schon das Basislager vor Augen, da schlug sie ein letztes Mal zu und schickte einen Schneesturm. Er erfror jämmerlich, nur ganze achtzehn Kilometer von der Rettung entfernt.
Das kann keine Natur sein, niemals kann ich das glauben, erst recht nicht nachdem, was in den letzten Tagen hier geschehen ist. Irgendwo hier lauert ein tückischer Verstand und jede Nacht höre ich seinen Ruf wie Odysseus den Gesang der Sirenen. Er ruft nach mir, will ein neues Kräftemessen mit mir, will eine neue Chance, mich umzubringen. Warum nicht auch die anderen? Hakonsen? Johanna? Nur ich ... oder wollen sie ihn nicht hören?
Es ist die letzte Nacht, die ich so noch ertragen kann. Dann werde ich mich ihm stellen. Morgen früh, von Angesicht zu Angesicht ...

Ein Kälteschauer rann mir den Rücken herab und ich klappte den Laptop wieder zu. Ich hatte den norwegischen Expeditionsleiter nicht gekannt und wusste nicht mehr über die Antarktis, als ich in der Schule gelernt hatte. Hingegen kannte ich von Berufswegen die Menschen besser, als mir manchmal lieb war. Wir waren hilflos, wenn wir der Natur ohne Technik gegenüberstanden; kommunikations- und gefühlsunfähig ohne unsere Smartphones mit Rechtschreibprüfung und Smileys und panisch, wenn wir bei einer Überlandfahrt einen Atemzug ohne Pollenfilter machen mussten. Wenn wir auf die Urkräfte der Natur trafen, sahen wir überall Heimtücke und es konnte es gut sein, dass Thore Wejndahl in seinen letzten Stunden den Gegner vermenschlicht hatte, mit dem er sein ganzes Leben lang als Antarktisführer gerungen hatte. Wir und die gleiche Natur, die uns hervorgebracht hatte – wir waren keine Freunde mehr und ich fragte mich, ob es auf den anderen Erden auch so war.
Vor über fünfzig Jahren, neunzehnhundertfǘnfundsechzig, hatte Sergej Rachmantikow, ein junger sowjetischer Astrophysiker, auf einem Symposium in Moskau gesagt, dass Wissenschaft nicht bedeutet, auf alles eine Antwort zu haben, sondern die richtigen Fragen zu stellen, selbst dann, wenn sie unpopulär sind und bisherige, als unabänderlich geltende Wahrheiten in Frage stellen. Man hielt es für den Allgemeinplatz eines Profilierungssüchtigen und er bekam, natürlich, höflichen Beifall. Doch er hatte nur die Frage vorbereitet, um die es ihm wirklich ging und die lautete: Auf welcher der denkbaren Erde leben wir?
Nachdem er sie gestellt hatte, klatschte niemand mehr, Totenstille herrschte im Saal, bis die ersten begriffen, dass seine Frage implizierte, dass es mehr als eine Erde geben könnte. Dann lachten sie los, andere fielen ein, wie ein Lauffeuer breitete es sich aus, bis schließlich der ganze Saal dröhnte vor Lachen und Rachmantikow wie ein geprügelter Hund mit gesenktem Kopf das Podium verließ.
Zehn Jahre lang vergrub er sich in Selentschukskaja im Kaukasus an seinem Arbeitsplatz, dem damals größten Spiegelteleskop der Erde. Dann veröffentlichte er seine zweite Doktorarbeit, in der er auf brillante Art und Weise seine eigene Frage beantwortete: Niemand weiß, wie viele Erden existieren, denn alles, was ist, oszilliert; Universen durchdringen sich in Raum und Zeit und bilden ein Multiversum, in dem die Existenzausprägungen der Sterne, Planeten, ja sogar jedes Elementarteilchens und Energiepartikels im gleichen Raum zur gleichen Zeit existieren können, aber nicht müssen und die Anzahl dieser Erdausprägungen sich indirekt proportional zur Schwingungsfrequenz dieses Multiversums verhält. Er bewies, dass die Anzahl der existierenden Erden berechenbar ist, unter der Voraussetzung, dass diese Schwingungsfrequenz gemessen werden konnte und dass sie in jedem Fall größer ist als eins.
Seine Arbeit strotzte vor Formeln und Berechnungen, die nur die wenigsten verstanden, aber sie hielt jeder Kritik stand und schlug ein wie eine Bombe, nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der gesamten Welt der Wissenschaft.
In dem einzigen Interview, dass er danach gab, sagte er: „Ist es nicht schön, zu wissen, dass wir Menschen definitiv nicht allein sind, nicht die unwiederholbare Krönung der Schöpfung sind und unsere intelligenten Brüder und Schwestern keine glupschäugigen Schleimmonster, sondern Menschen wie wir? Alles, was wir tun müssen, ist das Tor zu ihnen zu finden und ich bin davon überzeugt, dass es irgendwo hier auf unserer Erde befindet. Ich glaube nicht, dass wir uns sehr unterscheiden. Nicht einmal, dass wir uns unterschiedlich entwickelt haben. Auf jeder unserer Schwestern wird es auch ein Moskau geben und einen Baikalsee.“
Doch das Tor dahin auf unserer Erde zu finden, hatte er anderen überlassen müssen. Nur wenige Tage nach diesem Interview war er an einer Hirnblutung gestorben.
Hatte er recht gehabt? Das Tor war nie gefunden worden und aus der anfänglichen Euphorie war nach und nach Ernüchterung geworden, bis sich irgendwann nur noch wenige Wissenschaftler mit der Suche danach beschäftigt hatten. Der Bau von Raketen und die Erforschung des Weltraums waren einträglich für die, die damit ihr Geld verdienten, einträglicher als durch ein simples Tor zu einer anderen Welt zu gehen. Vielleicht wollte man es auch gar nicht, denn wenn Rachmantikow recht gehabt hatte, könnte es vielleicht unter diesen Erden eine geben, in der die Antarktis Thore Wejndahls ein blühender Garten war; eine Welt, auf der die Menschen gelernt hatten, im Einklang mit der Natur zu leben, statt sie zu zerstören wie wir es taten und in der es keinen Weltkrieg gegeben hatte – es wäre für die kleinen und großen Potentaten unserer Zeit eine Katastrophe, bräche doch ihre Lüge von der besten aller Welten, in der wir leben sollten, für alle sichtbar zusammen.
Vielleicht gab es sogar eine Erde, auf der Schwerin keine Großstadt war, sondern nur ein Provinznest. Was dann doch ziemlich schwer vorstellbar war, wenigstens für mich. Meine Heimatstadt war zwar nicht das Zentrum des Universums, aber seitdem NordicSF hier vor zwanzig Jahren aufgetaucht war, quoll sie aus allen Nähten und wohin ich auch schaute, überall wuchsen neue Häuser so schnell empor wie Birkenschösslinge zwischen verlassenen Bahngleisen.
Irgendwo fiel leise eine Tür ins Schloss. Es war kurz nach zehn abends, wahrscheinlich lösten sich die Schwestern gerade ab. Ich schaltete die Schreibtischlampe aus und reckte mich. Ich sollte besser nach Hause gehen, meine Gedanken machten ohnehin Bocksprünge. Durch das Halbdunkel des Flurs ging ich zum Automaten und drückte den Knopf für einen Kaffee. Der Becher fiel in die Halterung und leise zischte das kochende Wasser in der Maschine; beruhigende Geräusche voller Normalität, in meiner kleinen Stationswelt hier in der psychiatrischen Klinik keine Selbstverständlichkeit. Der Ausgabearm fuhr heraus, ich entnahm den Becher, stellte mich ans Fenster und blickte über den nachtdunklen Schweriner See.

Die Lichter der Skyline der Stadt überstrahlten den Glanz der Sterne, ganz vorne der monströse Tower von NordicSF, der Ort, an dem Ragnar Borg jetzt das Sagen hatte und nicht weit davon entfernt der Koloss der Europabank mit dem gigantischen Hologramm der Europafahne darüber. Neun Sterne für neun, ja, was eigentlich? Staaten nannten sie sich nicht mehr, Staaten hatten Grenzen, deswegen waren auch nur noch neun geblieben, weil die anderen ihre dicht gemacht und gesagt hatten, ihr könnt uns mal – also neun irgendwas zum Geldschöpfen und Steuern einsacken.
Es war lange her, dass ich einmal geglaubt hatte, dass dieser Anblick ein Sinnbild meiner Welt war; geglaubt hatte, dass nur Menschen in ihr lebten, die liebten und hassten; manchmal auch zornig wurden oder dumme Dinge taten; die gesund oder krank waren, arm oder reich, jung oder alt und nichts weiter. Dass es hinter dem schönen Schein noch eine andere Welt gab, in der Menschen kalten Herzens das Blut von Ihresgleichen vergossen oder – noch schlimmer - vergießen ließen, hatte ich lange nicht wahrhaben wollen, bis ich ihnen begegnet war. Seit dreißig Jahren tauchte ich ab in die Tiefen menschlicher Seelen und noch immer konnte ich nicht akzeptieren, dass ich dabei manchmal in einer Jauchegrube schwimmen ging; konnte ich nicht verstehen, dass es Menschen gab, die sich selbst weder als grausam noch als brutal ansahen, obwohl für sie der Unterschied zwischen dem Fällen eines Baumes und dem Töten eines Widersachers nur in der Höhe der Summe bestand, die sie aus ihrer Portokasse dafür bezahlen mussten, und in der Wahl des richtigen Werkzeugs.

Etwas stach mir in die Hand und ich blickte nach unten. Ich hatte den leeren Kaffeebecher zerquetscht. Zu viel Arbeit, zu viele Stunden hier, zu viele Jauchegruben in den letzten Jahren – es wurde wirklich Zeit für mich, Feierabend zu machen. Auf mich wartete eine Aufgabe und auch, wenn ich sie nicht so gewollt hatte – schreiben würde ich das Buch und wenn es das Letzte war, was ich tat, denn niemand außer mir konnte diese unglaubliche Geschichte erzählen.
Ich holte mir noch einen Becher Kaffee für die Fahrt nach Hause, hinterließ der Nachtschwester ein paar Zeilen und machte mich auf den Weg zu meinem Wagen.
Wolken zogen vor den Mond, als ich aus der Tür trat, die bioluminiszenten Leuchtstreifen im Gehweg erhöhten sanft ihre Lichtintensität und die schiefe Sommerlinde am Ende des Wegs zum Ausgang der Klinik, unter der ich meistens, außer wie jetzt im Sommer natürlich, meinen Wagen parkte, wies mir mit ihrem Duft den Weg. Jemand hatte letztes Jahr ein Herz und einen Pfeil, der es durchbohrte, in ihre Borke geritzt, die Rinde war vernarbt, das Herz sah aufgequollen aus und an der Stelle, an der es der Pfeil getroffen hatte, war es in zwei Teile zerbrochen. Trotzdem hatte das verletzte Herz den schiefen Baum nicht davon abhalten können, zu blühen, wie er es schon seit vielen einhundert Jahren immer im Sommer getan hatte und seine Pollen machten aus der lauen Mittsommernacht ein Sinnesfeuerwerk. Wie der sanfte Abschiedskuss einer Geliebten - tief atmete ich ihn ein und wieder fragte ich mich, auf welchen krummen Pfaden meine Gedanken heute Nacht unterwegs waren.

„Sie arbeiten zu lange.“ Eine Stimme ertönte hinter mir und mit einem satten Geräusch klatschte mein Kaffeebecher auf die Bodenplatten, Spritzer landeten auf meinen Füßen und ich verhielt mitten im Schritt.
„Womit bewiesen wäre, dass mein Gewissen weiblich ist.“ Es war das erstbeste, was mir einfiel.
„Ein Mensch mit Gewissen. Ich bin begeistert.“
Ihre Stimme war deutlich und akzentuiert, mit einer Vibration in den Untertönen, die in schlaflosen Nächten dafür sorgt, dass man sich wünscht, sie weiter zu hören, weil es eine Stimme war, die die Seele streichelte. Dunkel, fast rauchig. Eine schöne Stimme, was den Spott darin nur umso ätzender machte. Sie ähnelte einer Stimme, die ich schon einmal gehört hatte.
Ich drehte mich um. „Das bezweifle ich. Aus dem Alter, in dem es Frauen für sinnvoll erachtet haben mochten, mir aufzulauern, bin ich heraus. Wenn ich es genau bedenke, hat mir nie eine Frau aufgelauert.“
Nur Patientinnen, aber das war ein kalkulierbares Berufsrisiko als Stationsarzt der Psychiatrie und damit konnte ich umgehen. Damit, dass mir eine Frau mitten in der Nacht hinter einem Baum auflauerte, eher weniger. Sie war dunkel gekleidet, wirkte kräftig und größer als ich. Was nichts bedeuten musste, ich war nur mittelgroß und der tägliche Stress sorgte dafür, dass ich schlank blieb. Ihr Alter mochte irgendwo zwischen dreißig und vierzig liegen. Es war nicht hell genug, als dass ich mich auf eine genauere Schätzung eingelassen hätte. Ohnehin schien sie eine von jenen Frauen zu sein, bei denen jeder Mann bei einer Altersschätzung nur ins Fettnäpfchen treten konnte. Dunkle, wahrscheinlich rote Locken fielen ihr ungebändigt fast bis zur Hüfte herab, ihr herzförmiges Gesicht war bleich. Im Mondlicht wirkte es wie aus Marmor gemeißelt und die wie bei einer Orientalin leicht schrägen Augen schimmerten in einem so intensiven Grün, das jede Raubkatze neidisch geworden wäre. Das Gefühl, sie zu kennen, wurde intensiver, doch es musste so lange her sein, dass ich mich nicht erinnerte.
Scheinbar locker stand sie vor mir und doch wehte ein Hauch von Angespanntheit zu mir herüber. Wie eine Angestellte der Klinik wirkte sie nicht und wie eine Patientin schon gar nicht. Natürlich konnte ich mich irren - ich hatte auch schon einmal einen Pfleger an seinem ersten Tag für einen Patienten gehalten und zur Tanztherapie schicken wollen. Immerhin verzichtete er am nächsten Tag dann auf Jesuslatschen und Dreadlocks und erschien sogar pünktlich zum Dienst.
Sie hatte sich mit dem Rücken an den Baum gelehnt, ein Knie angewinkelt und malträtierte mit dem Absatz einer Stiefelette den Stamm. Wäre ich die Rinde gewesen, ich hätte geschrien.
„Haben Sie sich eine Meinung gebildet?“ Sie ließ die Arme fallen und stieß sich mit den Schultern vom Stamm ab. „Dann lassen Sie uns ein Stück gehen.“
Wenn ich beim Schachspielen etwas nicht mag, dann sind es Eröffnungszüge, die in keiner Bibliothek stehen. „Aber gerne. Ich wollte Sie ohnehin fragen, ob ich Sie nicht zu Ihrer Station begleiten soll. Wenn der Nachtschwester auffällt, dass sie fehlen, bekommen Sie Ärger.“
So schnell, dass ich nicht einmal sah, wie sie die zwei Schritte zu mir machte, packte sie mich bei den Aufschlägen meiner Jacke. „Ich könnte Sie schlagen.“
Sie fuhr sich dabei mit der Zunge über die Lippen, als würde sie Lust empfinden oder würde sie empfinden, wenn sie es tat. Unauffällig warf ich einen Blick nach links und rechts, doch nirgendwo rührte sich etwas.
Vorsichtig erwiderte ich: „Wahrscheinlich. Ich bin ein alter Mann, viel Spaß würden Sie daran wohl kaum haben. Lust vermutlich noch weniger.“
Wieder huschte ihre Zunge über die Lippen wie eine kleine rosafarbene Schlange. „Was wissen Sie schon von Lust?“
Wenig, dafür umso mehr von den Abgründen, in die sie Menschen zerren konnte. Ich hatte täglich mit ihnen zu tun, aber das ging sie nichts an. Gar nichts ging sie hier etwas an. Sie hatte einen erstaunlichen Griff und ihn keine Sekunde gelockert.
Mit aller Ruhe, die ich aufbringen konnte, sagte ich: „Lassen Sie mich bitte los.“
Zögerlich gab sie mich frei, glättete mit der Hand meine Jackenaufschläge und wiederholte: „Gehen sie ein Stück mit mir. Dann werden Sie verstehen. Bitte.“
„Nein.“
Ich ging um den Wagen herum und öffnete die Tür. Sie seufzte. Es klang nicht sonderlich echt, das Folgende schon: „Ich bin eine Freundin von Svensson.“
„Er hatte keine.“
„Wissen Sie das oder glauben Sie das?“
Ich wusste tatsächlich von einer Freundin, sie war bei mir Patienten gewesen und auch wenn sie dieser Frau geähnelt hatte – sie war es nicht. Doch etwas war in ihrer Stimme, dass mir sagte, dass es keine Lüge war.
Sie wartete ein paar Schritte entfernt. „Beschleunigen Sie Ihre Denkprozesse etwas, Doktor und dann kommen Sie. Ich meine es ernst.“
Einen Moment zögerte ich noch, dann warf ich meine Tasche in den Wagen. Was blieb mir anderes übrig? Ich hätte schreien können oder weglaufen, aber irgendetwas sagte mir, dass beides keine gute Idee war. Die Kraft, mit der sie meine Jackenaufschläge gepackt hatte, war erheblich gewesen. Ich hatte die Begegnung mit Borg überstanden, die Frau hier konnte kaum schlimmer sein.
Sie hakte sich bei mir ein und nach einigen Minuten, in denen sie mich stumm zwar sanft, aber bestimmt in Richtung des Parks gesteuert hatte, sagte sie: „So ist Marianna auch mit Svensson spazieren gegangen, als er sie hier besuchen kam. Danach hat er Ihnen alles erzählt. Sie war eine besondere Frau.“
Ich erwiderte nichts und sie lächelte mit schmalen Lippen. „Sie schweigen. Das ist auch eine Antwort. Er hat also mit Ihnen gesprochen und Sie haben Borgs Leuten nichts davon gesagt.“
„Vorher. Bevor er in die Antarktis ging. Eine Geschichte von Blut und Tränen, in der nicht einmal er, der sie doch vorangetrieben hatte, einen Sinn erkannte. Nur seine Endstation und die unsichtbare Hand eines zu ihm nicht gerade gnädigen Schicksals.“
„Es war weder das Schicksal, noch unsichtbar, aber man sieht immer nur das, was man sehen will. Selbst er ...“
Wir kamen an einer alten Holzbank vorbei, die einzige im ganzen Park, wenn ich mich noch recht erinnerte. Man hatte sie wohl übersehen, als Borg und NordicSF hier alles modernisiert hatten. Nicht einmal die Bänke hatten sie vergessen, überall standen sie herum – hässliche braune Dinger aus Plastik mit Wärmefäden unter der Sitzfläche, die sich einschalteten, sobald sich ein Patient darauf niederließ und mit einem Solarpaneel, das dafür die Energie lieferte, wenn die Sonne schien.
„Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Doktor.“ Sie blieb stehen. „Ich kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Wir waren es immer, die Angst vor euch hatten und als ihr vor fünfzigtausend Jahren das Feuer für euch entdeckt habt, wussten wir, dass es Zeit war für uns, zu gehen.“
Ich habe Unglaubwürdigeres von meinen Patienten gehört als diesen Satz. Wenigstens bewirkte er, dass sich wieder etwas von dem Arzt meldete, der ich doch war. Der nicht urteilt, der nur Gefährte ist auf der Suche nach dem Ausgang aus dem Irrgarten einer kranken Seele und hofft, dass der Patient auch die Kraft findet, durch diesen hindurch zu gehen, wenn er nach Wochen oder Monaten endlich gefunden ist. Wie es aussah, musste ich für sie nach einem Scheunentor Ausschau aushalten.
Sie ließ mich los, setzte sich auf die Bank und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. „Kommen Sie, setzen Sie sich ein bisschen zu mir. Mögen sie düstere Legenden?“
Nein, mochte ich nicht, ich war gerade einer begegnet in meinem Dienstzimmer. Nicht jetzt, nicht außerhalb der Dienstzeit, in der ich genug davon hörte, die nicht nur düster, sondern schwärzer als die Nacht waren und eigentlich überhaupt nicht. Ich mochte jetzt zu meinem Auto gehen, nach Hause fahren und eine Tablette gegen Wahnvorstellungen von Frauen, die einen ahnungslosen Psychologen mitten in der Nacht in einen dunklen Wald entführten, nehmen. Aber es sah so aus, als würde ich damit noch ein bisschen warten müssen.
Ich setzte mich neben sie und wenn ich ein bisschen zu theatralisch dabei stöhnte, so ignorierte sie es wenigstens.

Eine Weile schwieg sie, als müsste sie Kraft sammeln, dann sagte sie: „Ich habe ein bisschen recherchiert. Ihre Art, mit Verrückten wie mir umzugehen, genießt einen gewissen Ruf. Lassen Sie mich sehen, ob er richtig ist. Also, vor langer Zeit lebten die Affen in den Bäumen und die Menschen auf der Erde. Die Affen ernährten sich von Früchten und kleinen Tieren und wurden von Gefühlen geplagt; die Menschen ernährten sich von der Energie des Wassers und des Windes, ihr Denken war so geradlinig und klar wie das Strahlen der Sonne; Mitleid, Schmerz, Furcht, Gier, Hass und Liebe - so etwas kannten sie nicht, ja, sie verstanden es nicht einmal. Trotzdem war ihnen tiefe Ehrfurcht vor jedem Leben, egal, ob Pflanze, Tier oder Affe, in die Gene geprägt. Aber den Affen genügten die Bäume nicht, sie stiegen herab, lernten, aufrecht zu gehen und das Feuer zu bändigen und die Affen, die am lautesten brüllen konnten, machten sich zu Oberaffen und bestimmten über die Affen, die nur eine leise Stimme hatten. Immer mehr wurden sie und die Menschen flohen vor den Affen, die nicht einmal Respekt vor dem Blut ihrer eigenen Art hatten, auf eine einsame Insel. Doch ihre Hoffnung auf Frieden währte nur ein paar tausend Erdumläufe um die Sonne. Die Oberaffen ließen Schiffe bauen und egal, wie viele von ihnen das Meer auch verschlang – die Affen eroberten eine Insel nach der anderen und kamen immer näher. Die Menschen schufen sich biologische Maschinen, die sie versorgten und verschwanden von der Oberfläche der Erde. Alles, was den Affen blieb, waren Legenden über Götter, über die Großen Alten, die aus einer fernen Welt gekommen waren – was nicht stimmte - und deren Untergang. Die Menschen richteten ihr Interesse auf Dinge, die größer waren als sie und schlossen die Affen aus ihrer Wahrnehmung aus. Das war ihr erster Fehler und er sollte sich bitter rächen. Langweile ich Sie, Doktor?“
Es war gut, dass sie mich aus ihren Phantasien herausriss. Satz für Satz war es mir schwerer gefallen, bei mir selbst zu bleiben. Ihre leise Stimme hatte etwas Suggestives und mich zusammen mit dem Rauschen des Windes in den Kronen der Bäume fortgetragen in ihre Welt, ihr Innerstes. Das ist in meinem Beruf ein unverzeihlicher Fehler. Ihre Frage holte mich wieder zurück und fast war ich ihr dankbar dafür. Hatte sie es mit Absicht getan?
„Wenn es so wäre, würde es etwas ändern?“, antwortete ich.
„Nein. Worte ändern nichts.“ Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, dann legte sie wieder auf ihr Knie. Es war eine schöne Hand, mit langen Fingern, ohne Falten und hervortretenden Adern auf dem Handrücken und mit kurzen schlanken Nägeln. Junge Mädchen, die nie hart gearbeitet haben, besaßen solche Hände. Ich sah ihr die Kraft nicht an, mit der sie mich vorhin gepackt hatte.
„Worte haben noch nie etwas geändert“, wiederholte sie. „Nur Taten, im Guten wie im Bösen und manchmal ist es nicht einfach, dazwischen zu unterscheiden. Die Oberaffen ließen immer größere Waffen bauen und die Menschen taten etwas, was ihrer Natur zuwiderlief: Sie mischten sich ein. Viele Affen starben deswegen und es stürzte die Menschen in einen tiefen Konflikt mit sich selbst. Ihre Kenntnis der kosmischen Gesetze war weit fortgeschritten, aber sie anzuwenden, hatte sie nie interessiert. Macht hatte sie nie interessiert, Zeit nichts bedeutet, Eile hatten sie nicht gekannt - sie waren stille Beobachter dessen gewesen, was ist, was war und was sein wird; kalte, machtlose Götter, die auf einmal begreifen mussten, dass ihre Zeit abgelaufen war und so lernten sie dann zum Schluss doch noch ein Gefühl kennen: Angst.“

Sie verstummte und ich wartete, ob es noch eine Fortsetzung gab. Doch sie schaute nur mit leerem Blick über den See. Ich sah so einen Blick nicht zum ersten Mal, zeitliche und räumliche Desorientierung konstatierte ich für mich. Das Schlüsselwort hatte sie gesagt: Angst. Nicht die ihrer ominösen Götter, die schob ihr Unterbewusstsein nur vor. Es war ihre eigene Angst, die sich so manifestierte.
„Glauben Sie an Schicksal, Doktor?“, fragte sie.
„Nein.“
„Die Menschen auch nicht. Sie wussten, dass es existiert und sie ergaben sich darin.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie gaben sich einfach auf. Doch bevor sie das taten, erschufen sie ein Wesen, das aussah wie ein Affe und gaben ihr all ihr Wissen und einen Auftrag: Das zu vernichten, was sie selbst unter die Affen gebracht hatten. Dann löschten sie das Wissen um ihre Herkunft in ihrem Gehirn und verdammten sie zu einem Leben unter den Affen.“
Es war nicht schwer, zu erkennen, was sie mir sagen wollte. Manchmal denke ich auch, dass ich von Affen umgeben bin, auch wenn mich dann sofort das schlechte Gewissen plagt und ich mich schnell wieder zur Ordnung rufe. Das ist eine typische menschliche Eigenschaft, es sei denn, sie wird bestimmend wie bei ihr. Dann ist es keine Eigenschaft mehr, sondern eine Erkrankung der Seele. Meistens ist sie heilbar.
Langsam stand ich auf und sagte mit der gleichen Stimme, mit der ich schon viele tausend Male in solchen Momenten gelogen hatte: „Ich denke, wir sollten gehen. Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen, dann kommen Sie morgen bei mir vorbei und ich bin sicher, dass wir ihnen helfen können.“
„Setzen Sie sich wieder hin. Sie würden es sich niemals verzeihen, nicht bis zum Ende zugehört zu haben. Oder haben Sie Natalja Ermakowa etwa vergessen?“
Ein wenig Spott klang sie, so, als wüsste sie genau, dass sie mich mit dem letzten Satz an einem Haken hatte, der seit dreißig Jahren in meinem Fleisch steckte. Tatsächlich hatte der Name meine Erinnerung endlich wach gerufen, obwohl ich nicht einmal zwei Sätze mit der russischen Ärztin damals gewechselt hatte. Die Frau hier neben mir hätte ihre Tochter sein können, die Ähnlichkeit war frappierend.
Ich setzte mich wieder hin und kaum berührte mein Po die Bank, begann sie zu reden. Doch sie tat es in einer unpersönlichen Form, nicht so, als wäre sie selbst dabei gewesen, sondern als läse sie aus einem Buch vor. Menschen mit einer tief verletzten Seele tun das, wenn sie es nicht ertragen können, über sich selbst zu erzählen. Weil sie dann dem Schrecken, der sie zum Reden zwingt, noch einmal gegenüberstehen.
Doch etwas war in ihrer Stimme, dass den Lauf der Zeit änderte, dreißig Jahre schrumpften zu einem Augenblick. Was einmal war, wurde Zukunft und das, was morgen geschehen würde, war Vergangenheit. Schon bald hörte ich auf, mich zu fragen, woher sie das alles wissen konnte, es wurde unwichtig und wichtig wurde, dass das, was sie erzählte, auch ein Teil von mir war. Meine Erinnerungen mischten sich mit ihren Bildern, manchmal erzählte ich in Gedanken statt ihrer und es wurde wieder der fünfundzwanzigste November 1988. Es war Nacht und die Ostsee war eisig kalt.

Sie erzählte, bis der Morgen dämmerte. Ohne Pause, ohne jedes Nachdenken zwischendurch, so, als riefe sie etwas Gespeichertes ab oder läse vor. Ich fand es beängstigend. Noch mehr das, was sie erzählt hatte.
Sie schaute mich an, und ihr Blick sagte mir, dass sie noch nicht wieder in der Gegenwart war. Leise fragte ich: „Hatte Johanna eine Tochter?“
„Nein. Und bevor sie fragen, wer dann ich bin: Ein Affe, Doktor, nichts weiter als ein Affe. Mit Gefühlen, die ich nie gewollt habe und die mir das Leben bei euch zur Hölle gemacht haben. Ihr wisst gar nicht mehr, dass es die Hoffnung ist, die euch so einzigartig macht. Nichts weiter als das haben wir noch.“
Ich erinnerte mich an das, was Svensson als Letztes zu mir gesagt hatte: Es sind zu viele Zufälle, kein Vertun. Wenn etwas geschieht, dann deswegen, weil es irgendjemand so geplant hat, und das, was zufällig scheint, ist nichts weiter als das Eintreten der Notwendigkeit. Irgendwo ist eine Hand, die das alles steuert. Ganz sicher!
Ich fragte mich, ob es ihre gewesen war. Ich hätte sie fragen können, doch ich wusste, dass sie mir keine Antwort darauf geben würde. Selbst wenn sie dazu bereit gewesen wäre – ihre Antwort hätte mich wahrscheinlich an allen Naturgesetzen zweifeln lassen. Ich stand auf und schwer zog sie sich an meiner Hand empor. Bis zu meinem Wagen sprachen wir kein Wort mehr. Ich drückte ihren Arm, warum, wusste ich nicht, dann ließ ich sie los.
Sie sagte: „Sie sind Arzt und wollen kranke Seelen heilen. Verstehen Sie, dass der Körper nichts weiter ist als nur ein Gefäß? Dann beten Sie, dass Svensson es versteht, denn sonst wird niemand mehr Borg aufhalten können, die Affen werden siegen und die Menschen untergehen. Werden Sie ihn besuchen und ihm das sagen?“
Ich brauchte lange für meine Antwort. Um sie zu geben, musste ich alles vergessen, was ich zu wissen geglaubt hat. Ich erwiderte: „Seit fast einem Jahr sieht er niemand anderen als Borg, der für ihn der Teufel ist. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ihn ein Engel besucht.“
Sie ließ mich los und ging ohne ein Wort des Abschieds davon.


Kapitel 2

Zweiunddreißig Jahre zuvor, 25. November 1988, 01:05 Uhr; Ostsee; 10 Seemeilen vor Warnemünde.

Der Wind sprang auf Nord-Nord-West, frischte von Minute zu Minute mehr auf und das nur knapp dreizehn Meter lange Schnellboot „Seehecht“ der Volksmarine schüttelte sich wie ein nervöses Rennpferd vor dem Start unter dem Anprall der Ostseewellen.
„Ob irgendwann mal auf den Wetterbericht Verlass sein wird?“ Manfred Elsner knurrte missmutig.
„Werden wir wohl nich mehr erleben, Genosse Korvettenkapitän. Machen Sie sich Sorgen?“
Gischt klatschte gegen die niedrige Plexiglasscheibe, Spritzer flogen darüber hinweg und der Steuermann zog den Kopf ein. Elsner hob den Feldstecher und starrte durch das Glas, als suchte er in der Dunkelheit vor dem Boot die Antwort. Schließlich setzte er es wieder ab und schüttelte den Kopf.
„Das ist Oldenburg da unten. Für den ist Nachtaufklärung bei rauer See wie Sonderurlaub. Der Mann weiß nicht einmal, wie sich ‚Fehler‘ schreibt. Wenn, dann würde ich mir höchstens deswegen Sorgen machen.“
Der nächste Brecher traf den Bug des Schnellbootes und drückte ihn tief ins Wasser. Elsner schlug den Kragen der Wetterjacke hoch. „Halten Sie das Boot auf Position. Ich gehe mal nach hinten.“
„Position halten. Jawoll.“ Elsner drehte sich abrupt um und kämpfte sich auf dem stampfenden Boot zum Heck.
Den Blick, den ihm der Steuermann mit zusammengezogenen Augenbrauen zuwarf, sah er nicht mehr.

In unregelmäßigen Abständen flammten hinter Unterleutnant zur See Christian Oldenburg die Handscheinwerfer der anderen beiden Kampftaucher seines Teams auf und leuchteten den Meeresgrund an. Wie schwarzer Samt umgab ihn das Wasser, oben und unten hatten jede Bedeutung verloren wie alles andere auch. Er warf einen kurzen Blick auf die fluoreszierenden Zeiger seines Kompasses am rechten Unterarm, schaltete seinen Handscheinwerfer ebenfalls ein und gab den beiden Obermaaten Werner und Andres ein Zeichen, zu ihm aufzuschließen.
Nach einigen Minuten schälte das Licht einen torpedoförmigen Metallzylinder vor ihnen aus der Dunkelheit. Christian hob die rechte Hand, ballte die Faust und alle drei Taucher erstarrten zur Bewegungslosigkeit. Seltsam nackt, ohne jeden Bewuchs oder Muschelbefall ragte das Ungetüm halb aus dem Schlick des Meeresgrundes und eine stumme Drohung schien von ihm auszugehen. Es sah aus wie eine Kreuzung aus einer Fünfhundertkilogramm-Fliegerbombe und einem Torpedo. Die Luftleitbleche, die sie nach dem Abwurf stabilisierten und dafür sorgten, dass sie mit dem Zünder zuerst auf den Boden prallte, waren für eine Bombe zu klein und für einen Torpedo zu groß. Für eine Grundmine besaß er weder die optimale Form noch die Sensoren, die den Sprengstoff in ihm zur Explosion bringen konnten. Zumindest waren keine zu sehen, was aber nichts bedeuten musste.
Magnetzünder konnten auch unter dem vom Meerwasser zerfressenen Gehäuses sitzen und wenn die drei Männer Pech hatten, auch noch funktionieren. Sie tauchten außerhalb der üblichen Schifffahrtslinien des Rostocker Überseehafens, die Ostsee war hier knapp dreißig Meter tief und ein glücklicher Zufall konnte es gewollt haben, dass der Waffe noch kein Schiffsrumpf nahe genug gekommen war, um sie zur Detonation zu bringen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass die drei auf ein Modell gestoßen waren, das noch nirgendwo anders gefunden worden war. Was entweder bedeutete, dass sie hier tatsächlich auf eine noch unbekannte Waffe gestoßen waren, oder dass es diejenigen, die vor ihnen woanders auf ein gleiches Modell gestoßen waren, zusammen mit ihr zerrissen hatte.
Sie waren ein eingespieltes Team. Mehr als einen kurzen Blickkontakt brauchten sie nicht, Christian hielt seine Position und sicherte, die beiden anderen näherten sich mit vorsichtigen Flossenschlägen der Waffe.

Der Steuermann gestikulierte wild mit den Armen und Elsner kämpfte sich auf dem wild hin und her stampfenden Schnellboot wieder nach vorne.
„Was gibt es?“, schrie er gegen den immer noch weiter auffrischenden Wind.
„Wasserschloss ruft,“ brüllte der Steuermann und hielt Elsner das Sprechgeschirr hin. Zwischen Elsners blonden Augenbrauen erschien eine steile Falte. Er wusste, dass sich der Stab der Volksmarine so gut wie nie in einen laufenden Einsatz der KSK-18 einschaltete.
„Roter Hecht hört“, schrie er ins Mikrophon.
„Wasserschloss hier. Brechen Sie sofort den Einsatz ab!“, kam unmittelbar die Antwort.
„Wiederholen Sie!“
„Abbruch! Abbruch! Abbruch!“
Er blickte den Steuermann an, als wüsste der mehr als er. Sie besaßen nicht die moderne Ausrüstung der Amerikaner oder Franzosen, die unter Wasser lustige Schwätzchen über verschlüsselte Kanäle bei ihren Gefechtseinsätzen führen konnten und das wusste auch Wasserschloss.
Elsner drückte die Sprechtaste: „Nicht möglich. Wiederhole: nicht möglich. Kein Funkkontakt.“
Einen Moment war nur Prasseln in der Leitung, dann tönte eine andere Stimme aus dem Lautsprecher: „Wasserschloss Eins hier. Persönlich! Holen Sie Ihre Männer aus dem Wasser! Sofort! Egal wie! Sie dürfen ihr Ziel nicht erreichen. Ende.“
Elsner musste nicht auf den Chronometer an seinem Handgelenk schauen, um zu wissen, dass es dafür zu spät war. Er wusste, dass, wenn Oldenburg nicht eine Seejungfrau erschienen war und ihn zum ersten Mal überhaupt von dem festgelegten Unterwasserkurs abgebracht hatte, dann waren er und seine Männer genau jetzt über der Fundstelle. Aber der Chef der Volksmarine war persönlich am Funk und das allein hätte um diese Zeit jedem Seeoffizier eine Gänsehaut über den Rücken gejagt.
Der Korvettenkapitän hob das Fernglas und blickte in die Richtung, in der er sein Unterwasserteam vermutete. Gut eine Seemeile entfernt davon leuchteten die Positionslampen eines Frachters und Elsner malte mit den Kiefern, als bisse er auf eine Nuss. Mit einer entschlossenen Bewegung setzte er das Glas ab und befahl dem Steuermann: „Zielkoordinaten. Volle Kraft und alles, was wir haben. Beten Sie, dass Oldenburg unsere Schraubengeräusche hört und mitdenkt!“
Der Steuermann gab Vollgas, die mächtige Maschine riss den Bug des Schnellboots aus dem Wasser und ließ es in den nächsten Wellenberg krachen. Der nächste Brecher krachte gegen den Rumpf, dann noch einer und noch einer – die Seehecht nahm Geschwindigkeit auf.
Was Elsner tat, war nicht mehr als eine Verzweiflungsaktion. Es war ihm strikt untersagt, die Hoheitsgewässer der DDR zu verlassen, aber das Team von Oldenburg operierte unter Wasser fast eine Seemeile außerhalb der Seegrenzen der DDR. Wenn das Schnellboot zur Fundstelle fuhr, würde mindestens das jetzt in der Nähe vorbeifahrende Schiff es auf dem Radar haben. Elsner konnte nur hoffen, dass an dessen Heck die Fahne der DDR-Handelsmarine oder die der Sowjetunion flatterte.

Das hochfrequente Kreischen unter voller Kraft rotierender Schiffspropeller drang durch das Wasser und es war Obermaat Werner, der den entscheidenden Fehler beging. Vielleicht war es die Routine, die auch die größte Gefahr, wenn man ihr immer wieder begegnet, gewöhnlich macht und ihn unaufmerksam werden ließ. Vielleicht war es seine Freundin Monika, die in vier Stunden am Kontrolldurchlass in Kühlungsborn darauf warten würde, dass er endlich seinen Erholungsurlaub antreten konnte oder es war nichts weiter als Enttäuschung darüber, ergebnislos aus dem Wasser zu müssen – er drehte sich von der Waffe weg zu Christian herum und eine seiner Schwimmflossen streifte die Waffe. Es war nicht mehr als ein Hauch, eine winzige Veränderung des Wasserdrucks, die auch die empfindlichste Grundmine nicht aus ihrem Schlaf gerissen hätte. Diese hier schon. Öliger, gelber Rauch schoss aus ihr hervor, hüllte die beiden Taucher ein, die ihr am nächsten waren und Ausläufer zuckten auch auf den dreißig Fuß entfernten Christian zu, erreichten ihn aber nicht.
Es dauerte nur Sekunden, bis die starke Grundströmung den Nebel um die beiden Obermaate wieder auseinanderriss. Scheinbar war nichts geschehen, wie Roboter bewegten sie ihre Schwimmflossen und hielten mit gleichmäßigen Schlägen ihre Position im Wasser. Christian richtete den Scheinwerfer auf seine rechte Hand und formte mit Zeigefinger und Daumen einen Kreis. Als er keine Reaktion bekam, wartete er ein paar Atemzüge, dann wiederholte er die Frage.
Die beiden Froschmänner krümmten sich zusammen, rissen ihre Kampfmesser aus der Scheide an der Wade, dann wirbelten ihre Beine los und wie zwei schwarze Torpedos rasten sie auf Christian zu.









„[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. ...
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.“
Johann Wolfgang von Goethe


Kapitel 3


Meine persönliche Katastrophe begann an einem Montagmorgen vor dreißig Jahren um acht Uhr. Alle Katastrophen beginnen an einem Montagmorgen um acht, manchmal brechen sie nur erst später aus. Ich wusste damals noch nicht, dass mit den Wölfen heulen noch lange nicht hieß, dass man nicht trotzdem von ihnen gebissen wurde.
Mein Vater war Professor für innere Medizin an der Berliner Charité, meine Mutter eine Augenärztin mit zwei Doktortiteln. Mit dem Elternhaus wäre ich in jedem anderen Land die Nummer eins auf der Liste der Bewerber für einen Psychologie-Studienplatz gewesen. Aber um die Gefährlichkeit dynastischer Intelligenz wusste man im Arbeiter- und Bauernstaat DDR nicht erst seit Pol Pot und so war meine Herkunft gleichbedeutend mit dem letzten möglichen Platz auf der Liste der Anwärter. Doch es gab in jedem System Hintertüren und ich wusste, dass keine Armee der Welt ohne wenigstens ein paar intelligente Leute auskam, wobei das für mich schon ein Widerspruch in sich war – Armee und Intelligenz.
Ich verpflichtete mich als Berufssoldat, „vergaß“ dabei meinen Cousin jenseits des Eisernen Vorhangs zu erwähnen und bekam mein Studium. Vier Jahre später hatte ich meinen Diplompsychologen, trug die Uniform eines Leutnants der NVA mit der Äskulapschlange auf den Schulterstücken und versah meinen Dienst im Militärlazarett in Bad Saarow in der Nähe von Berlin. Ein Thema für meine Dissertation hatte ich auch nebst dem zukünftigen Doktorvater. Ich war in der Spur und wenn mein Vater ab und zu bei unseren seltenen abendlichen Gesprächen auf seiner Datscha am Müggelsee mit hochgeschobener Brille die Stirn runzelte und mich nachdenklich ansah, spornte mich das nur noch mehr an. Ich wusste, dass Herr Professor Doktor Gneidsen es noch nie gemocht hatte, wenn jemand dabei war, ihn zu überflügeln, und nahm an, dass er darin auch für seinen Sohn keine Ausnahme machte.
Es war ein Montagmorgen und wie an jedem Wochenanfang nahm sich Oberstleutnant Witwer für seine wöchentliche Dienstbesprechung exakt sechzig Minuten, um den militärischen Schlamperladen, wie er es nannte, auf Vordermann zu bringen und die Ärzte im Offiziersrang „einzunorden“. Was nichts anderes bedeutete, als das er in einem Tonfall und einer Lautstärke, nach der auch ein Tauber hätte Tango tanzen können, seinen Unmut darüber zum Ausdruck brachte, dass Bakterien, Krankheiten und Verletzungen sich trotz seines aufopferungsvollen Kampfes immer noch genau so wenig an den Dienstplan hielten wie gewisse Offiziere des medizinischen Personals. Dass er mich dabei ansah, dürfte kaum ein Zufall gewesen sein. Ich hatte mit Autorität, die auf nichts anderem als der Anzahl der Sterne auf den Schulterstücken beruhte, so meine Probleme und dass ich jetzt selbst welche trug, wenn auch nur in Silber und nicht in Gold wie Witwer, änderte nichts daran. Sie waren für mich nur eine ungeliebte Notwendigkeit, damit ich vorankam im Leben, und kein Glaubensbekenntnis.
„Leutnant Gneidsen!“
Seine sonore Stimme klang für seine Verhältnisse viel zu freundlich. Aus seinem Gesicht konnte ich nichts ablesen – er sah ruhig und sicher aus, und vielleicht sogar ein wenig gelangweilt: ein großer, grauhaariger Mann in einer perfekt sitzenden Uniform mit Bügelfalten zum Brotschneiden, den eine so unbedeutende Sache wie ein frischgebackener Leutnant und Diplompsychologe von wichtigen Aufgaben abhielt.
„Ja, bitte?“, erwiderte ich, ein junger Arzt aus der Inneren neben mir stöhnte leise auf und ich presste die Lippen aufeinander. Eine halbe Sekunde zu spät, die beiden verhängnisvollen Worte waren schon heraus. Die korrekte Erwiderung hätte lauten müssen: „Hier, Genosse Oberstleutnant.“ Auf diese Anrede hatte Witwer laut der militärischen Hackordnung ein Anrecht und er war nicht derjenige, der darauf verzichtete.
Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und schenkte mir sein bestes kaltes, professionelles Lächeln – selbst die gusseiserne Leninstatue auf dem Dreesch in Schwerin blickte bei Minus vierzig Grad freundlicher.
„Sie haben also ein Problem mit meiner Autorität, Genosse Gneidsen“, stellte er fest und jetzt klang seine Stimme wie das Knurren eines hungrigen Wolfes. „Wir sind hier eine militärische Einheit. Nur, falls Sie das immer noch nicht begriffen haben und unterliegen damit wie jede andere auch der Gefechtsbereitschaft. Ich bin dafür verantwortlich. Wenn für die Regimenter und Bataillone rund um Berlin Alarm ausgelöst wird, verlegen sie in ihre Wechselkonzentrierungsräume(*FN* Wechselkonzentrierungsraum (WKR) erklären*FN*), Verletzte sind dabei vorprogrammiert, bevor auch nur ein Schuss gefallen ist. Menschen, deren Leben davon abhängt, dass wir hier an jedem Tag des Jahres, egal ob Wochenende, Ostern oder Weihnachten, innerhalb von zwei Stunden mit fünfundachtzig Prozent unseres Personalbestandes bereit sind, Leben zu retten. Das, Leutnant Gneidsen, nennt man in der NVA Gefechtsbereitschaft!“
Wort für Wort hatte seine Stimme einen sauberen Steigerungslauf hingelegt. Jetzt kam das Finale furioso mit allem, was seine Lungen hergaben: „Haben Sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, als Sie gestern Abend unerlaubt den Standortbereich verlassen und ihre Eltern in Berlin aufgesucht haben? Sie haben mit dem Leben von Menschen gespielt, Leutnant Gneidsen! Menschen, die die gleiche Uniform tragen, auf die auch Sie geschworen haben!“
Seine dunklen Augen schleuderten Blitze auf mich, gegen die ein Ultraviolettlaser eine Streichholzflamme war. Gefechtsbereitschaft war der Fetisch der NVA, der Heilige Gral und der weltweite Sieg des Kommunismus in einem. Was nach meiner, hier leider nur unbedeutenden Meinung, völliger Blödsinn war. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, bei der Bundeswehr, klappte man am Freitag spätestens um siebzehn Uhr die Bürgersteige für das ganze Wochenende hoch. Kein Rad drehte sich da mehr, weil keiner da war, der hätte auch nur die Waffenkammer aufschließen können. Wenn die NVA am Wochenende losschlug, würden die Jungs drüben sich am Montag wundern, dass eine Fahne mit Hammer und Sichel im Ährenkranz über ihrem Kasernentor flatterte - der schnellste und unblutigste Krieg der Menschheitsgeschichte hätte nur ein Wochenende gedauert. Gefechtsbereitschaft – einfach lachhaft im Zeitalter der Satellitenaufklärung, fand ich. Leider lag diese Erkenntnis jedoch für eingefleischte Militaristen wie Oberstleutnant Witwer außerhalb ihres kognitiven Horizontes.
Ruhiger sagte der jetzt: „Ich habe mich mit dem Politoffizier beraten. Er ist der Meinung, dass es für eine aktenkundige Bestrafung noch zu früh ist und ich stimme ihm da zu. Schließlich wollen wir Sie nicht verdammen, sondern einen guten Offizier aus Ihnen machen.“
Unauffällig atmete ich aus. Der Korb schien noch einmal an mir vorbeigegangen zu sein und das Witwer mich im Angesicht meiner Kollegen niedergemacht hatte, würde mir bei ihnen eher zum Vorteil gereichen. Dass ich kein guter Offizier, sondern ein guter Arzt werden wollte und dass das eine das andere ausschloss, würde der Kommisskopp vor mir sowieso nie begreifen.
Witwer griff nach einem Zettel auf seinem Schreibtisch und hielt ihn mir hin. „Das ist ein Passierschein für die geschlossene Abteilung. In einer Stunde melden Sie sich wieder hier im Besprechungsraum und erhalten dann neben einer Einweisung in die Sicherheitsbestimmungen für den Zutritt zu diesem Bereich detaillierte Informationen. Morgen früh um acht Uhr melden Sie sich dort beim Stationsarzt. Am Freitag um fünfzehn Uhr erwarte ich einen Bericht von Ihnen über den Patienten nebst einem fundierten Therapieansatz. Major Brost?“
Doktor Brost – er war der Stationsarzt – erwiderte nach einer deutlich hörbaren Pause, von der wahrscheinlich nicht nur ich wusste, warum er sie machte: „Äh ... hier, Genosse Oberstleutnant.“
Die Augenbrauen Witwers zuckten in die Höhe, aber er ließ sich nichts anmerken. „Major, morgen früh um acht Uhr meldet sich Leutnant Gneidsen bei Ihnen zum Dienst. Sorgen Sie dafür, dass es mit ihm keine Probleme auf Ihrer Station und mit den Wachen gibt. Wegtreten!“

Draußen klopfte mir der junge Arzt auf die Schulter, der eben noch neben mir gestöhnt hatte. „Nehmen Sie es nicht so tragisch und schlafen Sie eine Nacht darüber, Kollege Gneidsen. Da mussten wir alle durch. Außerdem“, er zwinkerte mir verschwörerisch zu, „kommt ja wohl vor der Therapie erst die Anamnese und die kann sich in ihrem Fachgebiet durchaus ein paar Wochen hinziehen, so viel ich weiß. Aber das kann so ein Komisskopp gar nicht wissen.“ Er streckte mir die Hand hin. „Holger Weinberg. Ich bin Arzt im Praktikum in der Chirurgie. Und Zivilist.“
Er sagte es, als wäre es eine Auszeichnung, keine Uniform tragen zu müssen und vielleicht war es das auch. Ich reichte ihm die Hand. „Winfried Gneidsen, Seelenklempner.“
Er lächelte zurückhaltend. „Klempner ist gut. Die Rohrzange werden sie wohl auch brauchen.“
„Ich dachte eher, den Gummihammer.“ Demonstrativ warf ich einen Blick auf die Tür zu Witwers Dienstzimmer.
Aus seinem Lächeln wurde ein Grinsen. „Ich meinte nicht für den Hausdrachen. Für ihre Patienten. Sie sind neu hier, vermutlich wissen Sie gar nicht, in welche Schlangengrube er Sie gerade geworfen hat.“
Er trat dicht an mich heran und senkte die Stimme: „Geschlossen heißt: Posten vor der Tür, Gitter vor den Fenstern, kein Zutritt ohne Erlaubnis, keine Besucher ... Straftäter in Uniform ... Mörder, Vergewaltiger, unerlaubter Schusswaffengebrauch, Republikflucht ... Ich hätte lieber die Bestrafung genommen statt des Passierscheins.“
Wahrscheinlich sah ich nicht gerade begeistert aus, denn er lachte laut auf. „Keine Sorge, im Moment liegt nur ein Patient auf Station. Der soll allerdings ein Doppelmörder sein ...“
Mir fiel nichts ein, mit dem ich seinen Redefluss stoppen konnte. Ich murmelte ein undeutliches „Danke für die Info“, drehte mich um und stieß mit einer Frau zusammen.
„Verrrzeihung“, sagte sie, stützte sich mit einer Hand an meiner linken Brust ab und taumelte einen Schritt zurück. Dass sie mir dabei den Passierschein aus der Brusttasche gefischt hatte, bemerkte ich nicht. Um die Vierzig, wirkte sie eher attraktiv als hübsch, mit einem intelligenten Gesicht voller Charakter, Entschlossenheit und einem Hauch untertriebenen Make-ups. Ein Zopf tizianroter Locken fiel ihr über die Schulter und in ihren leicht geschlitzten raubkatzengrünen Augen funkelte kühler Spott.
„Ich muss mich entschuldigen.“ Ich bückte mich und hob den blauen Hefter auf, der ihr aus der Hand gefallen war. „Winfried Gneidsen.“
Tief und für meinen Geschmack länger, als man es bei einem Fremden tut, schaute sie mir in die Augen. Dann nahm sie mir die Mappe aus der Hand, ging zwei Schritte, den Blick immer noch auf mich gerichtet, dann warf sie den Kopf, dass ihr Zopf flog und schritt den Flur entlang davon. Ich blieb zurück mit der Erinnerung an lange rote Haare mit dem herben Duft eines Frühlingsmorgens, Augen voll distanzierter Kühle und mit meiner Verblüffung.
„Na, ich wünschte, meine Frau würde mich einmal so anblicken.“ Holger Weinberg schaute ihr hinterher. „Sie scheinen ja hervorragende Kontakte zu haben.“
„Ich habe sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich hat sie mich verwechselt.“
„Sie nehmen mich auf den Arm. So schaut man keinen fremden Mann an.“
Das sagte ich mir auch, aber tatsächlich war ich ihr noch niemals begegnet. Das Gesicht hätte ich garantiert nicht vergessen, auch wenn ich nicht hätte sagen können, was es so außergewöhnlich machte. „Wenigstens Sie scheinen die Dame ja zu kennen. Wer ist sie?“
Er schnalzte mit der Zunge. „Nur dem Namen nach, leider: Natalja Ermakowa. Hat gleich zwei Doktortitel, einen als Onkologin, einen in Transfusionsmedizin, heisst, sie kennt wahrscheinlich jedes rote und weiße Blutkörperchen in Ihrem Körper mit Vornamen. Ist gestern Abend direkt aus Moskau in Schönefeld angekommen für eine Konsultation mit meinem Chefarzt morgen Nachmittag. Die beiden haben schon an der Lomonossow Universität zusammengearbeitet. Ich glaube, sie ist wegen Ihrem Mörder gekommen.“
„Zuerst einmal ist er ein kranker Mensch, der Hilfe ...“
Ich brach ab. Es hatte keinen Sinn. Seine Augen glitzerten genau so wie in dem Moment, als er sich über die geschlossene Abteilung ausgelassen hatte und es war wieder einer jener Momente, in denen ich mir wünschte, es möge für Leute wie ihn und Witwer eine Pille geben, die dafür sorgen könnte, dass sie Zugriff auf die Areale in ihrem Gehirn bekamen, in denen Mitgefühl, zwischenmenschliche Intelligenz und wenigstens ein bisschen Selbstreflexion vor sich hin schnarchten.

Exakt eine Stunde später, auf die Minute genau, klopfte ich an die Tür des Besprechungszimmers. Sie war nur angelehnt und auf das „Kommen Sie ruhig herein“, von drinnen drückte ich sie auf. Ein schmaler Mann mit Stirnglatze und einem weißen Baumwollhemd saß an Witwers Schreibtisch und blätterte in einem Aktenordner. Vor ihm stand eine Tasse, die Untertasse daneben, eine zweite Tasse auf dem Platz gegenüber und in der Mitte des Tisches eine Thermoskanne. Ein graues Sakko hing halb heruntergerutscht von der Stuhllehne hinter ihm und Witwer hätte wahrscheinlich einen Wutanfall bekommen, hätte er das Chaos gesehen.
„Guten Tag.“ Ich trat ein und lehnte die Tür nur so an, wie ich sie vorgefunden hatte.
Ohne den kahlen Kopf von seinen Papieren zu heben, wies der Mann mit der linken Hand auf den Platz am Tisch ihm gegenüber. „Ich bin gleich für Sie da, Genosse Gneidsen. Machen Sie bitte die Tür zu und gießen Sie sich eine Tasse Kaffee ein. Ich bin Bernard Müller.“
Er schien Worte zu mögen, sprach leise, nicht allzu schnell, sehr deutlich und verschluckte keine Endungen. Ein Mann, der offenbar Wert darauf legte, dass man ihn verstand.
Ich goss mir Kaffee ein, lauschte dem leisen Gluckern in diesem Raum, in dem heute Morgen noch die verbalen Fetzen geflogen waren und dachte: Wenn Witwer hereinkommt, wird sich das mit der Stille sehr schnell erledigt haben. Unwillkürlich drehte ich den Kopf in Richtung Tür.
„Er wird nicht kommen. Sie müssen mit mir vorliebnehmen.“
Müller schob die Papiere, in denen er bis eben gearbeitet hatte, zu mir herüber. „Die Akte Ihres Patienten. Faszinierende Lektüre. Aber vorher sollte ich wohl noch etwas klären.“
Das war eine gute Idee, fand ich. Zum Beispiel, was er hier machte. Er trug weder eine Uniform, noch wirkte er wie ein Angehöriger des medizinischen Dienstes. Die Hand hatte er mir ebenfalls nicht gereicht, stattdessen in der Akte geblättert. Ich glaubte nicht, dass er es einfach nur vergessen hatte. Ein Händedruck bricht Eis, schafft Vertrauen und manchmal sogar zwischenmenschliche Wärme, mehr, als es ein freundliches Gesicht wie seines konnte, auch wenn ihm das Lächeln durchaus stand. Es wirkte nur ein kleines bisschen zu professionell? Oder war es ein „ich weiß etwas, was du nicht weißt?“ Doch ich wollte nicht päpstlicher sein als der Papst – ich wusste, dass ich jetzt auch dem Steinbeißer Witwer gegenübersitzen könnte, wahrscheinlicher allerdings hätte ich da gestanden.
„Wie geht es Ihrer Familie?“
Das fragte man keinen Fremden und ich ging innerlich in Deckung. Unschuldig schaute Müller mich aus pflastersteingrauen, eng beieinanderliegenden Augen an. Ich mochte sie nicht.
„Gut, denke ich. Meine Eltern würden es mir kaum sagen, wenn es ihnen schlecht ginge.“
Freundlich wippte er mit dem Kopf auf und nieder. „Natürlich. So sind sie, die Eltern. Kümmern sich immer um ihre Kinder. Ich dachte übrigens eher an ihre entferntere Verwandtschaft.“
„Ich habe keine.“ Ein EKG hätte jetzt eine leicht erhöhte Herzfrequenz gezeigt.
Er lächelte. „Von der sie wissen ... wollen.“
Jetzt hätte das EKG die Skala gesprengt. Müller wusste von meinem verleugneten Cousin in Westberlin und damit war mir ziemlich klar, warum er sich so einfach im Besprechungszimmer des Lazarettkommandanten einquartieren konnte. Leute wie er konnten sich überall, wo sie wollten, einquartieren und taten es auch.
Er kniff sein linkes Auge ein wenig zusammen und es sah aus, als zielte er über einen Gewehrlauf. „Ja, Sie denken richtig. Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute schafft.“
Ich konnte nichts dagegen tun – ich verzog das Gesicht und er lachte auf. „Bitte entschuldigen Sie. Mein ‚Faust‘ ist ein bisschen eingerostet. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich nie studiert.“
„Scheint mir eher ein generelles Verständnisproblem für Goethe zu sein,“ knurrte ich. „Mephisto wollte zwar das Böse und hat doch Gutes ...“
„Es scheint mir ein generelles Verständnisproblem bei Ihnen zu sein, junger Mann.“ Rüde fuhr er mir dazwischen. „Mich interessiert nicht, mit welchen Tricks Sie sich Ihr Studium erschlichen haben. Mich interessiert nur, dass Sie wissen, wo Sie stehen, und das tun Sie doch jetzt, oder?“
Er nickte dazu und es animierte zum Mitmachen. Darum tat er es wahrscheinlich auch. Leute wie er mochten eine Ausbildung in so etwas bekommen haben, eine, die nicht Bestandteil einer Psychologievorlesung für Normalsterbliche wie mich war. Ich nickte auch und wir waren nichts weiter als zwei Männer, die sich freundlich zunickten, als sei alles in bester Ordnung. Nur, dass man ihm den Knüppel der Macht in die Hand gegeben hatte und er deshalb sagen konnte: Friss Vogel, oder stirb.
Was er dann auch tat, wenn auch ein bisschen freundlicher: „Seien Sie bitte so nett, und werfen Sie einen Blick in die Akte ihres Patienten. Leider kann ich sie Ihnen nicht überlassen und was Sie darin lesen, werden Sie für sich behalten müssen. Sie werden es gleich verstehen.“
Immer schön freundlich, der Herr ... Ich schaffte es tatsächlich, meinen Mund zu halten. Es dauerte etwas, bis ich mich in dem Aktenordner zurechtfand. Handschriftliche Einträge wechselten sich nicht immer chronologisch ab mit maschinengeschriebenen Blättern. Es war keine Patientenakte mit medizinischen Daten, eher ein Lebenslauf, geschrieben von anderen über jemanden, dessen Name überall entweder sorgfältig geschwärzt oder durch „Die Person“ ersetzt worden war. Seit ihrem elften Lebensjahr war „Die Person“ beobachtet worden, selbst intimste Familiendetails waren aufgelistet und was das Schlimmste war – man hatte nicht nur beobachtet, sondern auch lenkend in das Leben dieses Menschen eingegriffen. Er hatte es wahrscheinlich für Zufälle gehalten, doch in Wahrheit hatte sich sein Leben in einer Bahn entwickelt, die mit viel Geschick oder Erfahrung von jemand anderem vorgezeichnet worden war. Mit jedem Wort, das ich las, fühlte ich mich in einem Sumpf versinken, von dem ich niemals geglaubt hätte, dass er in meinem Land existierte.
Ich legte die Papiere so vorsichtig auf den Tisch, als seien sie Nitroglycerin und vielleicht waren sie das auch. Nur weil ich sie gelesen hatte, fühlte mich genau so schuldig, wie es diejenigen waren, die das Leben des Jungen gesteuert hatten und wenn das die Absicht der Leute hinter Müller gewesen war, hatte er den Plan übererfüllt.
Er hatte sich Kaffee eingegossen, war dann aufgestanden und im Raum hin und her gegangen, aber ich hatte gespürt, dass er mich keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Jetzt nahm er wieder Platz, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, stieß die Fingerkuppen von linker und rechter Hand gegeneinander und blickte mich mit einem Ausdruck von Mitgefühl an. Wenn es echt war, sollte es besser dem jungen Mann gelten, dessen Akte zwischen uns lag und nicht mir. Wenn Müller es nur vorspielte, war er ein Genie darin.
„Ich kann wirklich verstehen, was Sie jetzt denken“, begann er. „Man fühlt sich besudelt, nahezu mitschuldig, weil man in einem Land lebt, in dem das notwendig ist, damit Kinder unbeschwert lachen und Menschen wie Sie in Ruhe studieren können. Wie sein Vater hatte auch der Junge unglaubliche Talente und es wurde geradezu fahrlässig damit umgegangen. Doch leider kommt es noch schlimmer und an der Stelle kommen Sie ins Spiel.“
Er ballte seine Hände zu Fäusten und legte sie vor sich auf den Tisch. „Vor zwei Wochen gab es ein großes Fischsterben vor Warnemünde. Bei der Suche nach der Ursache stieß man auf eine vermeintliche Fliegerbombe. Ein Trupp Kampfschwimmer, drei Männer, die eine Ausbildung absolviert haben, wie sie nicht einmal die amerikanischen Navy Seals durchstehen, gingen ins Wasser. Erfahrene Männer, die Dinge hinter sich haben, die Sie sich nicht einmal vorstellen können. Und doch tauchte nur einer wieder auf. Blutend aus mehreren Messerstichen, schaffte er es noch bis ins Boot und brach dann zusammen. Die anderen beiden fand man viel später, beide waren durch genau einen absolut präzisen Stich eines Tauchermessers ins Herz bzw. die Leber getötet worden. Alles sieht nach einer Auseinandersetzung zwischen den drei Kampftauchern aus, die unser Mann durch seine Ausbildung überlebt hat. Das einzige, was nicht dazu passt, ist sein Gesundheitszustand. Keiner der Stiche in seinem Körper war lebensgefährlich und doch verfällt er von Tag zu Tag mehr. Wenn den Ärzten nicht ein Wunder gelingt, wird er sterben. Ich brauche Antworten, und nur er kann sie mir geben, denn außer ein paar unidentifizierbaren Metallteilen, die zu jeder x-beliebigen Seemine passen könnten, wurde am Grund der Ostsee nichts gefunden. Aber er schweigt. Seitdem sie ihn zurück an Bord geholt haben, hat er kein Wort mehr gesprochen.“
Seine Knöchel waren rot angelaufen, so fest hatte er sie zusammengepresst, als er sprach und er lockerte seinen Griff auch nicht, als er hinzusetzte: „Zu spät! Wir sind zu spät von der geplanten Operation informiert worden!“
Das war sein Problem, es interessierte mich nicht. Ich ahnte, was er von mir wollte, auch wenn ich es nicht glauben konnte. „Sie wollen, dass ich ihn zum Reden bringe? Das ist nicht Ihr Ernst ...“
„Doch, das ist es.“ Mit einem Ruck schob Müller den Stuhl zurück. „Haben Sie schon einmal etwas vom Konzept der nuklearen Abschreckung gehört?“
Natürlich hatte ich das. Seit den Fünfzigern flogen die Amerikaner mit ihren B-52 und Kernwaffen an Bord rund um die Erde, wie sie lustig waren. Es war der Knüppel, mit dem sie alle zum Stillhalten zwangen. Korea, Vietnam – sie konnten machen, was immer sie wollten und niemand traute sich, ihnen auf die Finger zu hauen. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass der Atomtod jederzeit über unseren Köpfen präsent war.
Er blickte mich fragend an, ich nickte nur und er ging zum Fenster, wendete mir den Rücken zu, blickte hinaus und sagte nachdenklich: „Menschen haben eine erstaunliche Fähigkeit, sich an Schlimmes zu gewöhnen. Offenbar verliert jede Drohung ihren Schrecken, wenn sie nur lange genug anhält, ohne jemals wahrgemacht zu werden. Auf beiden Seiten wird nach postnuklearen Waffen geforscht, deren Wirkung noch vernichtender, noch abschreckender ist als eine Kernexplosion.“
Er drehte sich wieder zu mir. „Es war neunzehnhundertachtundfünfzig, als ein strategischer Bomber mit einer besonderen Waffe an Bord abhob und Kurs auf die Ostsee nahm. Noch während er in der Luft war, kam es in dem Labor, in dem sie entwickelt worden war, zu einem Unfall. Dort und im größten Teil der angrenzenden Kleinstadt brachten sich die Bewohner gegenseitig um, mit allem, was sie gerade in die Hände bekamen. Man kriegte es mit der Angst zu tun und beseitigte alle Spuren. Die Forschung wurde eingestellt und alle Unterlagen beseitigt nebst denen, die daran gearbeitet hatten. Aus einem unerfindlichen Grund stürzte ebenfalls das Flugzeug ab. Es wurde geborgen, die Waffe aber trotz intensivster Suche nie und irgendwann geriet das Ganze in Vergessenheit. Tatsächlich hatte niemand eine Ahnung, was sie damals entwickelt haben. Geblieben ist nur der Name X-44 und unser Wissen um den abgestürzten Bomber.“
Bis hierhin hatte er ohne jede Emotion gesprochen, ganz so, als läse er einen Reisebericht von einem Kamelritt durch die Wüste vor. Doch er war nicht ruhig, im Gegenteil. Blanke Wut glühte in seinen Augen. „Ich muss wissen, was da unten geschehen ist! Warum gehen drei Männer, die zusammen durch dick und dünn marschiert sind, plötzlich aufeinander los? Aber was macht er? Schweigt und das bringt ihn vor ein Erschießungskommando. Sie müssen ihm da raus helfen!“
Er war gut, wirklich. Er stützte sich mit den Fäusten vor mir auf die Tischplatte und starrte mir, die Augen zu Schlitzen verengt, ins Gesicht.
„Und wie?“, fragte ich.
„Bringen Sie ihn zum Reden!“
Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, warum er mir die Akte zu lesen gegeben hatte. Jetzt wusste ich es. Es war eine subtile Machtdemonstration gewesen und eine Drohung für mich, für meine Eltern, wahrscheinlich sogar für meine Kinder, sollte ich einmal welche haben. Ich hatte sie verstanden und trotzdem hätte ich aufstehen müssen und gehen. Damit, dass ich es nicht tat, verriet ich genau die, die ich vorgab, schützen zu wollen: Meine Eltern und meine Kinder.
Mit eingezogenem Kopf murmelte ich: „Ich kann das nicht. Ich bin kein Verhörspezialist, nur Psychologe.“
Wahrscheinlich hatte ich schon zu oft mit dem Dinosaurier Witwer zu tun gehabt – ich erwartete, dass Müller mich anschrie, doch ich hatte ihn unterschätzt. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Ich weiß. Sie sollen ihn auch nicht verhören. Sie sollen sein Freund werden, denn er hat jetzt keinen mehr, nicht einmal seinen Vater. Der abgestürzte Bomber war eine TU-95 und der Flugplatz, von dem er gestartet ist, liegt im Ural. In der Sowjetunion wurde eine Massenvernichtungswaffe entwickelt und hergestellt, die gegen jede Charta verstößt und schlimmer ist als jede Kernwaffe. Wenn das herauskommt ... in der jetzigen politischen Situation ... Niemals wird man das zulassen ... wenn er auch nur ein Sterbenswörtchen von sich gibt gegenüber Dritten, treten Kräfte auf den Plan, gegen die nicht einmal wir etwas ausrichten können. Ich kann hier nicht einmal meinen eigenen Leuten vertrauen. Es klingt furchtbar, aber man wird ihn umbringen, wenn man herausbekommt, dass er mit X-44 kontaminiert ist. Ich tue im Moment alles Menschenmögliche, damit genau das nicht passiert.“
Ich glaubte ihm kein Wort, doch ich schwieg, blieb sitzen und versank mit jeder Sekunde tiefer in dem Abgrund, den Müller unter mir auftat. Nach ein paar Sekunden fuhr er sich mit der Hand über die Augen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
„Es ist tatsächlich so – Sie müssen sich um ihn kümmern. Er darf nicht einmal wissen, dass es mich gibt, die Gründe dafür will ich Ihnen nicht sagen, ich habe Sie schon viel zu tief hineingezogen und das tut mir leid für Sie. Wie dem auch sei – verbringen Sie so viel Zeit mit ihm wie möglich. Er muss es begreifen. Achten Sie auch auf das Personal, ob da neue Leute dabei sind. Ich werde eine Lösung finden für ihn, damit er wieder ein normales Leben führen kann, aber ich brauche Zeit dafür. Verschaffen Sie sie mir. Ohnehin muss er erst einmal überleben. Das wird auch von Ihnen abhängen.“
Er stand auf, warf sich das Sakko über und raffte die Akte zusammen. „Meine Arbeit wartet nicht und ob sie es glauben oder nicht - Ihr Patient ist nicht einmal das wichtigste Problem auf meinem Schreibtisch.“
Eine leise Stimme versickerte im großen Raum: „Für all das hätten Sie mir die Akte nicht zu lesen geben müssen.“ War es meine?
Er nickte wieder. Es schien seine liebste Beschäftigung zu sein. „Sie haben Potential, Genosse Gneidsen. Ich wollte nicht, dass Sie eine falsche Entscheidung treffen. In jedem System macht die Seite, auf die man sich stellt, den Unterschied aus. Sie können mit den Wölfen heulen, gegen sie ankläffen oder sich vor ihnen verstecken. Wie weit Sie mit Letzterem kommen, haben ich Ihnen gezeigt und Sie haben es verstanden. Sie haben studiert und mir damit eine Menge voraus, auch wenn es Ihnen Flausen in den Kopf gesetzt hat. Aber wenn Sie beim Studium auch nur ein bisschen aufgepasst haben, wissen Sie, dass Gut und Böse nur eine Frage des Standpunktes sind, der wiederum abhängig ist von dem Anteil an Macht, den wir Ihnen zugestehen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, hat Marx gesagt und ich sage: Gut und Böse sind weder taugliche Kategorien zur Bewertung der objektiven Realität, noch Ihres Lebens. In dem ist nur eines wirklich und das mit absoluter Sicherheit: Täter und Opfer. Das gilt für jeden Staat der Welt, jenseits und diesseits des Atlantiks, vor und hinter dem eisernen Vorhang und für jedes System, seit die Affenhorden von den Bäumen gestiegen sind. Es war ihre Entscheidung, was davon Sie sein wollen. Ich habe Ihnen nur geholfen, die richtige zu fällen.“
Er warf mir noch einen prüfenden Blick zu, als wollte er sich überzeugen, dass ich ihn auch richtig verstanden hätte, dann ging er ein wenig gebeugt mit leisen Schritten zur Tür - ein Beamter, selbstlos, nur das Beste für alle wollend und niedergedrückt unter der Last seiner Verantwortung für das Wohlergehen des Staates und seiner Bürger.
Und die Erde ist eine Scheibe. Ich hätte mich anspucken mögen in diesem Moment und vielleicht deshalb fiel ich dann doch noch aus der Rolle, die er mir zugedacht hatte, als ich leise sagte: „Wäre es dann nicht das Beste für Sie, wenn er einfach so einschläft, ohne noch einmal die Augen zu öffnen?“
Er musste Ohren wie ein Luchs haben. Wahrscheinlich von Berufswegen. „Könnte man annehmen“, sagte er bedächtig, schaute auf die Spitzen seiner schwarzen Lederschuhe und wippte darin vor und zurück. „Wenn es mir egal wäre, ob er tatsächlich auf dieses X-44 gestoßen ist oder es nicht doch noch irgendwo da draußen in der Ostsee lauert und es dann vielleicht noch mehr Tote gibt. Wenn es mir egal wäre, ob er nur ein Opfer der Umstände geworden ist oder ob wir mit unserer Ausbildung aus dem unberechenbaren Kind einen zwar hochfunktionalen, aber psychopathischen und letztendlich nicht mehr kontrollierbaren Killer gemacht haben. Was meinen Sie, Herr Diplom-Psychologe Leutnant Winfried Gneidsen? Ist es mir egal?“
Er schaute bedeutungsvoll auf den dicken Ordner unter seinem Arm, dann mir in die Augen. „Achten Sie auf Ihre Gedanken, Genosse. Menschen wie Sie sind die Zukunft unseres Landes und ich will nicht hoffen, dass Ihre Akte bei uns eines Tages auch so dick ist wie diese hier. Jede Gittertür hat immer zwei Seiten, aber der Schlüssel passt nur auf einer. Verlieren Sie das so wenig aus den Augen wie wir Sie.“
Geräuschlos schloss er die Tür hinter sich.

Ein paar Minuten grübelte ich noch, dann verließ ich den Besprechungsraum. Einen Moment überlegte ich, ‚der Person‘ gleich einen Besuch abzustatten, aber Witwer war sehr deutlich gewesen heute Morgen und ich wollte mir nicht schon wieder einen Bannstrahl des Drachen einfangen. Er hatte gesagt, morgen früh um acht und bis dahin konnte ich auch noch warten. Ohnehin hatte ich heute Nachmittag noch einen Termin mit meinem Doktorvater in Berlin.
Die Tür neben dem Besprechungszimmer wurde geöffnet und wieder sah ich der Frau in die Augen, die mich vor einer Stunde angerempelt hatte. Immer noch hatte sie den gleichen kühlen Ausdruck im schönen Gesicht und auch den blauen Hefter hatte sie noch in der Hand. Ein Stethoskop hing jetzt zwischen ihren Brüsten und es stand ihr so gut wie anderen Frauen eine Halskette. Obwohl ich eigentlich aus dem Alter für Doktorspiele heraus sein sollte, hätte ich mich nicht sonderlich gewehrt, hätte sie meine Herztöne abhören wollen. Wahrscheinlich waren sie leicht beschleunigt.
Sie nickte mir zu, als wären wir alte Bekannte, dann ging sie an mir vorbei und ich drehte mich nicht um. Sie hätte es kaum missverstehen können, aber dagegen, dass ich dem Echo ihrer Schritte auf den Steinfliesen lauschte, bis sie verklangen, konnte sie nichts tun.


Kapitel 4

Der Lada rumpelte über ein Schlagloch, dem Müller nicht schnell genug hatte ausweichen können und er murmelte: „Tut mir leid. Die Federn haben schon einiges mitgemacht.“
Sven Oldenburg erwiderte: „Meinen Sie wirklich, dass mich das jetzt interessiert? Was ist mit meinem Sohn?“
Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit er am Flughafen Schönefeld in den Lada gestiegen war. Er machte auf dem Beifahrersitz ein Gesicht wie ein Beamter, der gerade seine Kündigung las. Er wirkte immer so auf den ersten Blick, mit seiner schicken grauen Anzughose, dem dazu passenden Hemd mit Binder, dem Brillengestell aus Draht und den peinlich genau auf links gescheitelten Haarüberbleibseln auf seinem großen Kopf. Nur die abgetragene braune Lederjacke um seine breiten Schultern passte nicht dazu. Er wirkte immer, als sei er kurz vor dem Einschlafen, die Augen nie ganz offen, die Mundpartie entspannt und den Kopf leicht vorgebeugt. Wer sich die Mühe machte, ihm in die Augen zu schauen, sah etwas anderes: kornblumenblauen Augen mit ein wenig Grau darin, hellwache Intelligenz und ein Blick, der in Sekundenschnelle alles erfasste und sich dabei nie lange an einem Punkt aufhielt. Doch Sven ließ selten jemand dicht genug an sich heran, dass der das bemerken konnte und wenn er es nicht vermeiden konnte, versteckte er seine Augen hinter halb gesenkten Lidern.
Auf seinem Schoß lag ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Paket. Es war Otto Nordenskjölds „Antarctic - zwei Jahre in Schnee und Eis am Südpol.“ Das Buch war seinem Sohn Christian auf den Fuß gefallen, als er mit vier Jahren in einem Wutanfall gegen das Bücherregal seiner Großmutter getreten hatte. Sechs Monate lang hatte der es kaum aus der Hand gegeben und sich damit das Lesen beigebracht. Danach hatte er es nicht mehr gebraucht – er hatte es im Kopf gehabt, Seite für Seite, Wort für Wort.
Müllers Nachricht hatte Sven in Oslo erreicht, mitten in einer Besprechung mit dem Botschafter. Sven hatte den Mann, der ihm - offiziell zumindest - vorgesetzt war, einfach stehen lassen, dem Fahrer des Botschaftswagens Ampelfarbenblindheit befohlen und so noch die Mittagsmaschine nach Berlin-Schönefeld erwischt. Dass er damit Müllers Zeitplan – der hatte ihn erst vierundzwanzig Stunden später erwartet – torpediert hatte, wusste er nicht.
Müller schwieg ein paar Kilometer lang, als müsste er sich sammeln, dann sagte er: „Es geht ihm unverändert. Unverändert schlecht muss ich wohl sagen. Es tut mir wirklich leid, aber sie können wenig tun für Ihren Sohn. Sein Immunsystem ist zusammengebrochen und zerstört statt Krankheitserregern jetzt die eigenen roten Blutplättchen. Niemand weiß, warum. Wenn der Prozess fortschreitet, werden irgendwann die Organe versagen, weil das Blut nicht mehr genug Sauerstoff zu ihnen transportieren kann. Evans-Syndrom heisst das, aber nicht mal da sind sich die Ärzte sicher.“
Konzentriert blickte Müller durch die Frontscheibe nach vorne. „Sie tappen im Dunkeln. Alle möglichen Tests haben sie durchgeführt, aber in seinem Körper ist nichts, was dafür verantwortlich gemacht werden kann und so viel wir wissen, ist er mit nichts in Berührung gekommen, was das hätte hervorrufen können. Am wahrscheinlichsten scheint außergewöhnliche Stressbelastung bei Dunkelheit und unter Wasser. Die Ausbildung ist hart bei den Kampfschwimmern ... “
Zwei Ausfahrten zu früh setzte Müller den Blinker, fuhr von der Autobahn ab und Svens Augenbrauen gingen eine Winzigkeit in die Höhe. Müller ließ einen roten Traktor vorbei, obwohl er hätte gefahrlos noch vor ihm auf die Landstraße einbiegen können, dann sprach er weiter. „Es war ein Kampfeinsatz, wie er schon viele hinter sich gebracht hat. Nichts Besonderes für einen Mann mit seiner Ausbildung und Erfahrung. Sie sollten eine Bombe unter Wasser finden und identifizieren. Dann wurde das Wetter ziemlich schlecht, sie haben sie aus dem Wasser holen wollen, aber nur er kam wieder nach oben.“
Links und rechts huschten Apfelbäume vorbei, dann kamen ein paar Häuser. Kinder standen an einer Haltestelle und warteten darauf, dass der Bus sie von der Schule nach Hause fuhr. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und roten Schleifen winkte, vielleicht aus Langeweile, vielleicht auch, weil sie einfach nur freundlich sein wollte und weil sie noch nichts von den Gedankenkisten der Großen wusste. Sie sah eher aus, als würde sie sich noch Märchen von ihrer Großmutter erzählen lassen, in denen der Teufel immer ein Lügenbold war. Er konnte gar nicht anders, es sei denn, er konnte mit der Wahrheit mehr Schaden anrichten. Dass die Erwachsenen den Dingen immer irgendwelche Schilder umhängen mussten, damit sie sie in Gedankenkisten einsortieren konnten, selbst dann, wenn sie nichts darüber wussten, würde ihr hoffentlich das Leben beibringen. Die Schublade, in die Müller und die Ärzte Christian Oldenburg gepackt hatten, hieß Evans-Syndrom.
Das Ortsausgangsschild flog vorbei und Sven sagte: „Sie müssen ihn da herausholen.“
Die Antwort kam, als hätte Müller sie parat gehabt. „Da sind die besten Ärzte für ihn. Ich habe sogar um eine Blutspezialistin aus Moskau gebeten und das mit Herausholen geht nicht so einfach, selbst wenn er gesund würde. Das stand übrigens in meiner Nachricht an Sie.“
„Weil da die dicksten Mauern sind? Türen mit Schlössern, Fenster mit Gittern?“
Müller zuckte die Schultern. Er ließ den Wagen in einen Waldweg rollen, stellte den Motor ab und legte, sich Sven zudrehend, einen Arm auf die Rückenlehne. „Also Klartext, Oberleutnant Oldenburg! Erstens haben Sie gegen meine eindeutige Weisung durch Ihre überstürzte Abreise für Fragen in Oslo gesorgt. Fragen, die wahrscheinlich jetzt schon bei mir auf dem Schreibtisch liegen und die ich nicht beantworten kann, ohne den Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik in Norwegen, dessen Sekretär Sie sind, anzulügen. Er mag zwar vermuten, dass Sie nicht nur seine Konferenzen und Kontakte organisieren, weil Sie so viel außerhalb der Botschaft unterwegs sind, aber genau bei dieser Vermutung wollen wir es auch belassen. Zweitens lassen die Ärzte Ihren Sohn zur Zeit schlafen, damit sich der Prozess in seinem Organismus verlangsamt und jede Störung dabei gefährdet das Leben Ihres Sohnes. Wollen Sie das? Ich denke, bestimmt nicht. Morgen kommt er erst langsam wieder zu sich, vor morgen Abend ist kein Besuch bei ihm möglich. Darum bringe ich Sie Drittens jetzt in das Wohnheim des medizinischen Personals, Sie schlafen sich dort aus, sammeln Kräfte und morgen Nachmittag können Sie Ihren Sohn sehen. Das haben Sie zu akzeptieren!“
„Einen Scheiß habe ich.“
Sven nahm das Buch von seinen Knien, legte es im Fußraum des Lada ab und zog den Reißverschluss seiner Lederjacke auf. Überdeutlich laut klang das Geräusch durch den Innenraum. Wie ein Boxer, der sich lockert, kreiste er einmal den Kopf, drehte sich ebenfalls Müller zu und sagte, und er bekam kaum die Zähne auseinander dabei: „Ich rede dann auch mal Klartext, Major ... Müller. In dreißig Sekunden rollt dieses Auto und es hört erst damit auf, wenn es vor dem Lazaretttor steht. Wenn Sie dann noch hinter dem Lenkrad sitzen wollen, sollten sie jetzt losfahren.“
„Oberleut ...“
„Jetzt!“
Nur ein Wort und es klang wie ein Schuss. Einen Moment trommelte Müller mit der Hand auf das schwarze Leder der Lenkradumhüllung, dann zuckte er die Schultern, startete den Motor und fuhr weiter.
Als wäre nichts geschehen, sagte er nach einer Weile in fast lockerem Plauderton: „Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verletzen, aber Sie müssen den Tatsachen ins Auge sehen, auch wenn sie schmerzen. Ihr Sohn hat seine zwei Genossen umgebracht und wird sich dafür zu verantworten haben, wenn er wieder gesund wird. Bis dahin wird er die beste Pflege bekommen, es wird keine Verhöre geben und niemand wird ihn mit Fragen belästigen, dafür könnte ich sorgen. Sollte er es überleben, tue ich mein Möglichstes, um ihn aus der Sache herauszuholen. Ich kann so manche Tür öffnen, das wissen Sie.“
„Den Stoß in den Rücken nicht zu vergessen, damit man auch durchgeht. Ich kann die Stelle noch fühlen.“ Svens Lachen klang wie das Brodeln in einem Vulkanschlund. Ein baldiger Ausbruch stand bevor.
Müller hatte kein Ohr dafür. „Sie sind übermüdet, Genosse Oldenburg und stehen unter Stress. Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem schlafenden Sohn, so, wie Sie es wollten und dann sehen wir, was wir für ihn tun können.“
„Echt jetzt? Noch mehr als in den letzten Jahren? Mir kommen die Tränen.“ Der Vulkan baute Druck auf.
„Genosse Old...“
„Schnauze halten!“ Explosion. Wie ein Hammer schlug Svens Faust auf dem Armaturenbrett ein und hinterließ eine tiefe Delle darin. Als sei nichts weiter geschehen, fischte er im Fußraum nach Christians Buch, legte es sich wieder auf den Schoss, ließ die Lider sinken und lehnte seinen Kopf an das Seitenfenster. Kurz darauf entspannte sich sein Gesichtsausdruck und seine Atemzüge wurden langsamer und tiefer.
Müller hatte ohne sichtbare Reaktion Svens Ausbruch über sich ergehen lassen. Mit unbewegtem Gesicht warf er einen kurzen Blick auf Sven. Es sah aus, als sei er tatsächlich eingeschlafen und Müller schaute wieder auf das Asphaltband vor dem Wagen. Doch nach einigen Kilometern, als er sich auf die Abfahrt konzentrieren musste, veränderte sich sein Gesicht und zeigte einen Ausdruck, zu dem Witwer gesagt hätte: Gesicht zur Faust geballt.
Sven schloss die Augen ganz.

Es war kurz nach 6 Uhr am Abend, Fütterungszeit. Das Klappern von Geschirr und von Türen, die auf- und wieder zugeschlagen wurden, hallte über den Flur und über allem lag der Geruch von Essen. Schwestern und Pfleger schoben Wagen mit Essenportionen über den Gang und mit Interesse sah der Soldat Günter Henninger dem Treiben zu. Auch wenn es ihn nichts anging, so bedeutete es wenigstens Abwechslung in seinem vierstündigen Postendasein, in dem er nur eine Aufgabe hatte: Jedem den Zutritt zu dem Bereich hinter der abgeschlossenen Tür hinter sich zu verwehren, der nicht über einen vom Lazarettkommandanten unterschriebenen Passierschein verfügte.
Er stand nicht das erste Mal hier Wache, kannte die Gesichter des medizinischen Personals, das hier aus- und einging und das Kontrollieren ihrer Passierscheine war für ihn eine Routine, die er schon im Unterbewusstsein erledigte. Ohnehin hielten ihm die meisten den Passierschein nur im Vorbeigehen vor das Gesicht und die, die mehrmals an ihm vorbeimussten, gar nicht mehr. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass er auf ihren Zuruf ihren Namen und die Ein- und Ausgangszeit in sein Wachbuch eintrug. Es gab die Vorschriften und es gab das Leben – zwischen beidem lagen auch hier Welten und wenn er auch in seinen ersten sechs Monaten Grundwehrdienst nicht so viel gelernt hatte, wie es seine Vorgesetzten gerne gehabt hätten, hatte er wenigstens das begriffen.
Die Frau, die jetzt auf ihn zukam, wirkte nicht, als würde sie jemals einen Wagen mit Essen für die Patienten geschoben haben. Offen und damit unvorschriftsmäßig wehten die Schöße des Arztkittels um ihre wohlgeformten, nackten Beine; der graue Wollrock darunter endete eine Handbreit über den Knien und die weiße Seidenbluse spannte sich verräterisch über ihren Brüsten. Zwei Kugelschreiber wippten in der Tasche über ihrer linken Brust bei jedem schnellen Schritt und der hüftlange rote Zopf auf ihrem Rücken schlug den Takt dazu. In der linken Hand balancierte sie auf einem kleinen Tablett Utensilien für eine Blutentnahme, in der rechten hielt sie ein Stück Papier.
Mit mit einem schnellen Hüftschwung wich sie einem Wagen voller schmutzigen Geschirrs aus, nickte den beiden Schwestern zu und erst einen Schritt vor ihm stoppte das Stakkato ihrer Absätze auf dem abgenutzten Parkettboden.
Sie hielt ihm einen Passierschein hin. „Zum Patienten Oldenburrg, Komplikation, schnell.“ Ungeduldig wippte sie mit den Füßen.
Der Blick, den er auf das Dokument warf, war wesentlich kürzer als der, mit dem er sie angesehen hatte, als sie den Gang entlang auf ihn zu gestürmt war. Er übertrug die Daten des Passierscheins in das Besucherbuch, dann gab er ihn ihr zurück. „Sie dürfen passieren, Doktor Gneidsen.“
Sogar die Tür hielt er ihr auf. Sie ging hindurch und er schickte sich an, ihr zu folgen. Sie stoppte. „Sie wohin wollen?“
„Ich muss mitkommen. Ist Vorschrift außerhalb der offiziellen Dienstzeit.“
„Sie werden nurrr von acht bis sechzehn Uhr krrrank?“
„Äh ...“
„Dann vielleicht Sie sollten Oberrstleutnant Witwerr anrufen. Sein Bürro hat Passierrschein ausgestellt. Err kann errzählen Ihnen überr Verrtrraulichkeit Arrzt Patient.“
Er trampelte von einem Fuß auf den anderen. Hier war es ruhig und trocken, Schwestern teilten Lächeln aus und manchmal stellten sie ihm sogar einen Kaffee hin. Sein Wachvorgesetzter hätte ihn in den Hintern getreten, wenn er ihn mit der Frage belästigt hätte, ob eine Ärztin mit einem vom Lazarettkommandanten persönlich unterschriebenen Passierschein alleine Zutritt zur geschlossenen Abteilung außerhalb der Dienstzeit zu gestatten war.
„Ich lasse die Tür zum Gang hier offen“, sagte er schließlich. „Lassen Sie die Krankenzimmertür nur angelehnt und rufen Sie, wenn Sie mich brauchen bitte.“


wird fortgesetzt

Teil 2
Teil 3
Teil 4
 
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ahorn

Mitglied
Hallo ArneSjoeberg,
dein mit Punkten sehr spartanischen versehenden Klappentext habe ich verdaut. Das Vorwort, dessen Sinn, zumindest, was die Sache mit den guten Geschichten, schlechten Autoren oder so betrifft, irgendwie verstanden. Damit kann ich mich endlich, auf den Text freuen.

Es war kurz vor zehn am Abend. Seufzend öffnete ich die Wagentür und warf die meine Aktentasche hinein. Als ich mich wieder aufrichtete, um einzusteigen, sprach mich ein Mann an.
Einfach klarer, handlungsbezogener Satz, genau das Rechte, für einen geschmeidigen Anfang.
Bloß warum - dieses frage ich mich als Leser jedes Mal, wenn ich dieses lese – in der ersten Person. Ich habe es bis dato nie begriffen, weshalb sich ein Autor dieses ohne Not antut. Es kann gut gehen, jedoch gleichsam in die Grütze gehen. Beraubt der Möglichkeiten der dritten Person, quält er sich ab, und, dieses ist noch dramatischer, wenn er es schafft, kriegt der Leser nichts mit. Lesegewohnheiten.
Mal sehen, wie du es wuppst.
Zum Inhalt.
Er öffnet seine Wagentür, wirft seine Taschen hinein – das Seufzen, überlese ich, macht sowieso keinen Sinn. Dann richtet er sich auf. :oops:
Wat is dat föör eener? Wenn ich meine Wagentür öffne, dann stehe ich meist aufrecht. Es wird noch wunderlicher.
Als Begründung, dass er sich aufrichtet, gibt er an, dass er einsteigen will. o_O

Ich hatte ihn nicht kommen hören. Das war nicht unbedingt ein Wunder, ich hatte einen harten Arbeitstag hinter mir und war mit den Gedanken noch in der Klinik.
Er liebt scheinbar fadenscheinige Ausreden. Erst recht an stellen, an denen ihn niemand anpinkelt. Wen interessiert es, ob er jemand hört oder nicht. Dafür denkt er nicht, wenn er nicht arbeitet.
Gut. Ich verstehe dich. Du willst dem Leser verklickern, dass er einen harten Tag hatte. Vielleicht beim Seufzen.

Er trug einen hellen, perfekt sitzenden Mantel, war groß und wirkte zäh und sehnig.
Plumps. Hereingefallen in die erste Person Falle.
Dein Protagonist ist handelnder sowie erzählender.
Der Erzähler in einem Text ‚dritte Person‘ sollte objektiv sein. Der Protagonist kann machen, was er will.
Ist er in diesem Text handelnder oder Erzähler?
Erzähler!
Hell, perfekt, groß, zäh, sehnig.
Subjektiv.
Wie würde man den Satz in der dritten Person zeichnen, wenn man nicht ins Detail gehen will.
Gegenüber ihm war er groß ... auf ihn wirkte er zäh und sehnig ... er fand, sein heller Mantel saß perfekt ...
Pronomen!

Ein gewinnendes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, doch seine grauen Augen waren die Kältesten, die ich je gesehen habe hatte.
Gewinnendes Lächeln? Geht das nicht ein wenig genauer?


Ich stützte mich mit einer Hand am Wagendach ab und erwiderte: „Lupus in Fabula.“
Beim ersten Lesen dachte ich, was für einen ausgefallenen Namen trät den der. Dann fand ich das ‚in‘. Obwohl es zu Klugscheißen reicht, bin ich kein Lateiner. Lupus ist klar. Grundwissen jedes Klugscheißers. In ist in. Fabula – fabulieren. Aber bitte, mal Hand aufs Herz. Wie viele deiner Leser bekommen, dies mit? Schreib es hinter.
Ich hörte meinen mir verhassten Lateinlehrer: „Lupus in Fabula“, der Wolf der Erzählung.

Sie Auf mich wirkten sienicht, als wäre ihre Hauptbeschäftigung das Schneiden von Rosenbüschen. „Oh doch. Sie wissen es nur noch nicht. Ich kann sehr überzeugend sein. Außerdem gehört Ihre Klinikmeiner Firma Ihre Klinik und Sie wollen doch nicht Ihren Chef verärgern, oder?“
ich griff nach meiner Aktentasche, warf die Wagentür zu und ging schweigend mit.
Auf schweigend kannst du verzichten, denn die Szene geht weiter und seggen tut he jo nichts.

Freundlich grüßte er die wenigen Angestellten des medizinischen Personals, denen wir noch begegneten und der Chip in seinem Unterarm öffnete jede Tür meiner Klinik, sogar die zu meinem Allerheiligsten.
Vollbremsung!
Schwerin 2020 – Chip im Unterarm. :eek:
Das Einzige, was deinem Protagonisten einfällt, ist sein Allerheiligstes. Keine erklärenden Worte des Erzählers. Sind die da alle gechipt? Ist das eine Sekte? Was sagt die Gewerkschaft, der Betriebsrat oder der Datenschutzbeauftragte dazu?

„Gewöhnlich klopft man an beim Chef“ KOMMA erwiderte sie und ließ sich nicht weiter stören , bei dem, was sie tat.
Er trat ein, als wäre er hier zu Hause. „Sie sind Monika. Ich bin Borg. Damit dürfte unsere Beziehung geklärt sein PUNKT und f Falls nicht, müsste ich Doktor Gneidsen hier erzählen, dass ein goldgerahmtes Foto von ihm bei Ihnen zu Hause auf dem Nachtschrank steht und dass Sie nicht wollten, dass er es jemals erfährt. Jetzt seien Sie bitte so nett und bringen Ihrem Chef einen Kaffee und d PUNKT Dann sorgen Sie dafür, dass wir nicht mehr gestört werden. Falls Ihnen draußen zwei Männer mit bösem Blick begegnen – es sind meine.“
Das Foto des Chefs. Straftat. Mehr Druck gebe es damit:
„Die Frau ihres Chefs soll bestimmt nicht erfahren, dass ...“
Wenn es dagegen eher komisch gemeint ist, wäre eine Interaktion der Beteiligten hilfreich. ;)

Monika erbleichte erst, warf mir einen Blick zu und wurde rot. Sie fauchte: „Sie haben hier nichts zu sagen und wenn Sie hier mit einer ganzen Armee aufmarschieren. Nicht einmal, wenn Sie der liebe Gott wären.“

„Sehen Sie? Überall werde ich erkannt.“ Er blickte mich an. „Sind Sie bitte so freundlich? Es ist zu spät am Abend, um noch grob zu werden.“
„Milch und Zucker reicht, danke“, erwiderte ich und schloss die Tür hinter ihr. ZEILENUMBRUCH Borg saß schon in meinem Sessel und blickte durch das Fenster hinüber zum Nordic-Tower.
Er war der Sektionschef Deutschland von NordicSF und der Statthalter Hakonsens hier in Schwerin. Er war auch derjenige, der persönlich Svensson in der Antarktis eine Kugel in den Rücken gejagt und ihn so zur Strecke gebracht hatte. Die Kugel steckte noch immer in Svenssons Rückgrat und blockierte seine Nervenstränge, sodass er nur noch den Kopf und den rechten Arm bewegen konnte. Borg hatte eine Operation untersagt und ihn für alle Welt für tot erklärt. Dass ich Svensson noch als Elfjährigen gekannt hatte, hatte mir ein paar mehr als nur unangenehme Fragen von seinen Leuten eingebracht, aber ich hatte glaubwürdig genug simulieren können, dass ich nichts wusste. Dass Svensson mir erzählt hatte, warum er hier in Schwerin im Alleingang fast den ganzen Konzern Hakonsens im Blut seiner Vorstandsmitglieder ersäuft hatte, hatte er mir als Arzt erzählt. Auch wenn dieses Krankenhaus hier wie so vieles anderes in der Welt Johannes Hakonsen gehörte, war mir das Arztgeheimnis heilig und deswegen hatte ich mich nicht weichklopfen lassen. Ich hatte Borg nie vorher getroffen, aber genug gehört von ihm, dass ich annehmen musste, dass er auch vor einem alten Arzt nicht haltmachen würde, sollte er von diesem Gespräch erfahren. Die Frage war, ob er aus diesem Grund hier war.
Ich bin baff. Sprachlos. Ein ganzes Kapitel gepresst in einen Absatz.

- Fortsetzung folgt -
Außerdem muss ich ja noch lesen, wie es weitergeht. ;)
Scheint spannend zu werden.

Gruß
Ahorn
 

ArneSjoeberg

Mitglied
Hallo Ahorn,

Vorbemerkung 1:
Es gibt Schreibratgeber, Schulen und Studium. Sie alle kosten verda... viel Geld. Deine Kritik ist nichts davon, und doch halte ich sie für unbezahlbar. Auf die Punkte, die du zum Thema Satzbau, Orthographie und Grammatik genannt hast, gehe ich nicht weiter an. Ist Grundsätzliches, da habe ich Nachholebedarf, danke dir dafür. Stehen schon im Manuskript :)

Vorbemerkung 2:
Ich habe eben mein Profil überarbeitet und hineingeschrieben, welche Intentionen ich mit diesem Buch verfolge. Nur kurz – mit 61 werde ich keinen Verlag mehr finden. Trotzdem muss dieses Buch auch handwerklich so perfekt sein, wie es nur geht. Aus diesem Grund werde ich auch, sollte ich es tatsächlich schaffen, Geld für einen guten Lektor in die Hand nehmen. Ich spare schon bereits dafür.

Vorbemerkung 3:
Die Befreiung von der Suche nach einem Verlag befreit mich auch von der Rücksichtnahme auf eventuelle Lesergeschmäcke und Genres (nicht, natürlich, von handwerklicher Perfektion). Ich liebe Bücher und Filme, die beim zweiten und dritten Mal noch Zusammenhänge erkennen lassen, die beim ersten Mal nicht so deutlich hervortraten. Übrigens wäre das korrekte Genre des Romans irgendwo in der Richtung: romantic fantastic Science Fiction Trhiller. Oder so ähnlich.

Zu einigen von dir genannten Punkten.
1. Perspektive

Sollte es mir gelingen, dich lange genug im Buch zu halten, wirst du verstehen, warum ich so vorgehen muss. Ich brauchte einen unzuverlässigen Erzähler, warum, erschließt sich erst später. Mehrere Zeitebenen, mehrere Handlungsstränge und mit einem durchgehenden allwissenden Erzähler kann ich hier keine Spannung aufbauen. Das Buch geht über einen Zeitraum von 35 Jahren :) Deswegen benötige ich einen nicht allwissenden Erzähler, der sowohl aus der Ich-Perspektive als auch teilweise auktorial durch die Geschichte führt, hinzu kommt noch ein weiterer Erzähler (einer der Antagonisten) in der Ich-Perspektive.

2. Wo spielt der Roman?
Im Vorwort steht folgender Satz:
„Alles andere in diesem Buch, auch die Tatsache, dass dieses Buch auf einer anderen, nur denkbaren Erde spielt, ist das, was uns Menschen von Tieren und auch den intelligentesten Maschinen unterscheidet: Fantasie.“
Gneidsen denkt über Folgendes nach:
„Auf jeder unserer Schwestern wird es auch ein Moskau geben und einen Baikalsee.“
„Vielleicht gab es sogar eine Erde, auf der Schwerin keine Großstadt war, sondern nur ein Provinznest.“
Natürlich könnte ich es lang und breit erklären, doch jede Erklärung tötet die Handlung und die Spannung. Ein guter Roman sollte sich selbst erzählen. Den Pitch „Edmond Dantes (Dumas) erlebt sein Solaris (Lem) und trifft die stummen Götter (Sjöberg)“ ist so schon irre schwierig umzusetzen, um nicht zu sagen verrückt. Ich will nicht in absolute Fantastik abgleiten, sondern einen Roman in einer bekannten Welt schreiben, in der obendrein noch meine Heimatstadt Schwerin die Hauptrolle spielen soll, die ich über alles liebe, obwohl oder weil ich viele Teile der Welt gesehen habe.

3. Ganzes Kapitel in einem Absatz
Ich hasse Rückblenden. Du hast keine Vorstellung davon, wie schwer es mir gefallen ist, den ganzen Roman als eine einzige Rückblende (bis auf das letzte Kapitel) zu schreiben. Sieben Jahre habe ich an diesem Problem gegrübelt, doch mir ist keine andere Lösung eingefallen. Das bedingt auch, dass ich in diesem ersten Kapitel auf Dinge Bezug nehmen muss, die erst viel später klar werden. Dass auch noch, ohne den Leser zu verlieren.

Schlussbemerkung
Ich habe nichts studiert, was mit Schreiben zu tun hat und es vergeht kein Monat, in dem ich diese Geschichte nicht verfluche; nicht wütend darüber bin, dass ich als Anfänger so etwas Kompliziertes auf dem Tisch habe und es mich kaum eine Nacht durchschlafen lässt. Aber ich habe keine Wahl – ich habe mir diese Geschichte nicht ausgesucht. Sie hat mich ausgesucht, so wie Johanna Christian für seine Aufgabe ausgesucht hat und mir bleibt nichts anderes, als sie so gut wie möglich zu erfüllen.

Danke für Deine Zeit und Mühe und danke, dass du mir die Gelegenheit gegeben hast, meine eigenen Gedanken zu klären. Schon deswegen hat sich das Eintragen in dieses Forum gelohnt. Ich glaube, Ihr seid hier etwas ganz Besonderes.
 

ahorn

Mitglied
Hallo ArnoSjoeberg

Mit 61 werde ich keinen Verlag mehr finden.
Warum nicht? Man ein Autor hat erst als ‚Rentner‘ sein erstes Werk veröffentliche. Die Frage ist eher, ob bei der Schwemme von vielen Autoren ein Verlag dein Werk liest.

Die Befreiung von der Suche nach einem Verlag befreit mich auch von der Rücksichtnahme auf eventuelle Lesergeschmäcke und Genres.
Ich kann dir nur zustimmen. Immerhin halte ich es genauso. Es befreit.

Mehrere Zeitebenen, mehrere Handlungsstränge und mit einem durchgehenden allwissenden Erzähler kann ich hier keine Spannung aufbauen.
Da muss ich die widersprechen, wenn du das allwissend streichst. Ich kann diesen Typen nicht leiden, daher spreche ich eher vom Erzähler, dessen einzige Aufgabe ist, Handlungen zu beschreiben. Den Rest, soweit Protagonisten in Kapiteln agieren, übernehmen diese. Somit schreibe ich, obwohl ich in der 3. Person schreibe, in der 1. Person.

Ich hasse Rückblenden. Du hast keine Vorstellung davon, wie schwer es mir gefallen ist, den ganzen Roman als eine einzige Rückblende
Ist nicht jeder Roman eine Rückblende? Erzählperspektive – Zeit.
Deswegen kann ich mich mit dem Begriff nicht anfreunden. Auch wenn ein Kapitel vor der Zeit des Vorkapitels spielt, ist der Leser im da und nicht im Gestern.

ich habe nichts studiert, was mit Schreiben zu tun hat und es vergeht kein Monat, in dem ich diese Geschichte nicht verfluche; nicht wütend darüber bin, dass ich als Anfänger so etwas Kompliziertes auf dem Tisch habe und es mich kaum eine Nacht durchschlafen lässt.
Zustimmung auf ganzer Linie. ;) Bin Autodidakt und kämpfte seit vier Jahren mit meinem Hauptwerk, dabei habe ich den zweiten Teil bereits am Wickel. Ich muss jedoch zugestehen, dass mir die Arbeit in der LeLu bis jetzt inspiriert, geholfen hat. Gerade die intensive Beschäftigung mit anderen Werken.

Damit lege ich los!
Deine Geschichte wird geschmeidiger. Dennoch die eine oder andere Anmerkung.

„Sehen Sie“, sagte er, „ich kann Ihnen von da auf den Schreibtisch blicken und Sie mir nicht. Weil ich da ganz dort oben sitze. Ganz oben so ist das im Leben.“
„Aber Sie wollen es, das pfeifen in Schwerin die Spatzen in Schwerin von den Dächern. Ich kann Ihnen wohl kaum dabei helfen. Was wollen Sie also hier?“
„Dafür braucht es keinen Arzt. Die hat Ihnen Monika eben gestellt. Ich könnte höchstens noch hinzufügen, dass es umIhre Heilungschancen ausgesprochen schlecht miserabel stehten.“
Leises Lachen ist Kichern, und lautes Kichern ist Lachen, jedoch was ist lautes Lachen. Du beschreibst es im nächsten Satz, dann lasse ab vom laut.

Es war ein echtes unverfälschtes Lachen, frei und KOMMA ungekünstelt und es hätte mich ansteckend angesteckt sein können, wenn seine kalten Augen nicht gewesen wären.
Abrupt wurde er ernst.
Unterstellung. ;)
Schreibe, was du siehst, nicht was du glaubst.
Seine Mimik schien sich zu versteinern, einzufrieren etc. Dies war das Teichen für mich das er Ernst, das es ihm Ernst ...
„Ich will esaber nicht. Ich will wissen, wieso Svensson mich ein um das andere Mal schlagen konnte.“

Es klopfte PUNKT Monika kam mit dem Kaffee herein.
Monika kam mit dem Kaffee herein. Wird gerne geschrieben. Jedoch würde ich eher annehmen, dass der Kaffee nicht mir ihr herein kam.
Monika brachte den Kaffee.

Wortlos stellte sie ihn auf meinen Schreibtisch ab und verschwand wieder.
Diesmal ist sie wortlos. Ich höre auch nichts. Abstellen da er keine Füße hat.
Sie stellte diesen/ihn auf meinen Schreibtisch ab, verschwand.

Hier könnte ein Nachsatz folgen, der seine Empfindung widerspiegelt.
KOMMA ohne einen Blick, ohne ein Wort an mich zu richten.

Borg erhob sich, knöpfte seinen Mantel auf und stellte sich ans Fenster.
Begab sich ans Fenster. :)

ich rührte mich nicht und e PUNKT Er nickte.
„Natürlich. Sie müssen ja Ihr Gesicht wab]h[/b]ren. Aber vor wem? Es sind nur wie beide hier und PUNKT Sie und ich wissen, dass ich letztlich bekomme, was ich will. Also setzen Sie sich bitte hin Doktor. Ich bin es nicht mehr gewohnt, etwas zweimal zusagen zu müssen.“
Ich setzte mich auf meinen Platz und goss mir einen Kaffee ein. Ich war müde.

„Ich weiß, dass Sie alles gesammelt haben, was Sie über Svensson finden konnten und KOMMA dass Sie ein Buch darüber schreiben wollen. Aber was Ihnen fehlt, ist mein Part dabei und das, was in der Antarktis geschehen ist. Meinen Teil habe ich ihnen auf diesen Stick gesprochen.“
Er schob mir einen Speicherstick über den Tisch zu mir, PUNKT käme besser ein abgegriffenes Buch in rotem Ledereinband folgte.
Dass sie am Tisch sitzen ist klar. Durch die Luft wird er sicherlich nichts schieben.
„Das Buch hier ist das Expeditionstagebuch Thore Wejndahls. Ich habe es bereits für Sie übersetzen lassen PUNKT die Datei ist ebenfalls auf dem Stick. Außerdem alles, was Sie über das wissen müssen, was in der Antarktis geschehen ist. Ich denke, zwei Wochen sollten für das Manuskript reichen. Doktor Niehusen weiß bereits, dass Sie ab Morgen Urlaub haben und er sie vertreten muss. Habe ich etwas unberücksichtigt gelassen?“
„Lassen Sie mich bitte nicht an Ihrer Intelligenz zweifeln. Bevor Svensson hier das Blutbad angerichtet hat, hat er mit Ihnen eine ganze Nacht lang gesprochen , eine ganze Nacht lang. Es musste Ihnen doch klar sein, dass ich das weiß. Ebenso, dass jedes Gericht der Ansicht sein wird, dass Sie seine Morde hätten verhindern können, ärztliche Schweigepflicht oder nicht. Ich muss nicht einmal grob werden, um Sie für den Rest des Lebens aus dem Verkehr ziehen zu lassen.“
Er lächelte mit perfekten, ein wenig zu großen Zähnen.
Womit lächelt er? Sicherlich kann er beim Lächeln seine Zähne sehen, aber ..?

Sie erinnerten mich an einen Tigerhai und PUNKT ich griff nach meiner Kaffeetasse.
Es war nicht ausgeschlossen, dass meine Hand ein wenig zitterte.
Wenn er es nicht weiß, wer den dann?

Nicht vor Angst PUNKT da er seine Frage beantwortet hat. Dann kommt seine Begründung. Aus dem Alter, in dem Männer wie Borg mir welche hätten einjagen können, war ich heraus hinaus – hinweg. Es war Wut über meine Ohnmacht.
Die gleiche Wut, die mich immer noch packte, wenn ich einem Menschen helfen wollte, es jedoch nicht konnte und PUNKT Vor dem Schicksal kapitulieren musste.
Er ging und PUNKT Ich blieb lange sitzen.
Nicht nur das Leder des Einbands sah aus, als hätte es einiges mitgemacht, auch PUNKT innen waren Eselsohren, eingerissene Seiten, überschrieben Absätze und fast konnte ich fühlen, wie es geschrieben worden war.
Etliche Seiten waren eingerissen oder besaßen Eselsohren. Einige Absätze waren überschrieben. Ich konnte fühlen, wie es geschrieben worden war.

- Fortsetzung folgt -

Gruß
Ahorn
 

ArneSjoeberg

Mitglied
Hallo Ahorn,

Ich muss jedoch zugestehen, dass mir die Arbeit in der LeLu bis jetzt inspiriert, geholfen hat.
Das erlebe ich gerade. Irgendwie funktioniert das nicht mit dem "im stillen Kämmerlein" schreiben ...

Aber Sie wollen es, das pfeifen in Schwerin die Spatzen in Schwerin von den Dächern.
Du wirst viele solche Sätze bei mir finden. Ich frage mich selbst, wo das herkommt.


Begab sich ans Fenster.
hm, hier grübel ich. "Stellte sich ans Fenster" ist ein gängiger Ausdruck. "Begab" scheint mir zu förmlich. Irgendwie - wie sagt man dazu? Ich glaube Stilebene ...

Ich konnte fühlen, wie es geschrieben worden war
Dann nicht besser gleich: "Ich fühlte ..."? Mit diesem "konnte" in allen möglichen Zusammenhängen hab ich immer ein Problem. Gefühlt hast du allerdings recht ...

Ist keine Kritik an deiner Kritik :) Ich denke quasi laut ...

Danke. du machst dir so viel Mühe ...
 
Zuletzt bearbeitet:

ahorn

Mitglied
Hallo ArneSjoeberg,

der Anfang deines Romans ist weitaus geschmeidiger geworden.
Bevor ich meine Sichtweise auf den Text weiterführe, ein paar Kleinigkeiten zum ersten Teil.

... dass sie der Schlüssel zu all diesen Ereignissen ist und welche Rolle sie ihm zugedacht hat i [color= blue]PUNKT I[/color]n einem Kampf, ...
Eine gute Geschichte startet mit einer Actionszene, jeder weiß sofort, wo es langgeht und d PUNKT Da ist kein Vertun:
..., wenn wir ihm nur hinreichend von der Couch aus zujubeln und mit Kartoffelchips werfen.
..., weil er große Mengen Menschen umbringen ließ ; d PUNKT Die großen Denker Marx und Lenin befeuerten den Kampf nicht existierender Klassen, in dessen Folge Millionen starben; d PUNKT Das Jahrtausendgenie Albert Einstein legte die theoretischen Grundlagen für die Atombombe; PUNKT Pol Pot rottete die Intelligenz in seinem Land aus (w PUNKT Was ihn um die Möglichkeit brachte, selbst eine Atombomben bauen zu lassen ) und ...
– um das, was uns zu Menschen macht.
Da fehlt was.
... öffnete ich die Wagentür und warf die meine Aktentasche hinein. Ich hatte habe ihn nicht kommen gehören.
Er zog die seine Brauen in die Höhe und drohte ...
„Dann sollte man nicht den Fehler machen, ihn auch noch zu reizen. Kommen Sie Doc, wir wollten einen Kaffee trinken. Am besten bei Ihnen im Dienstzimmer.“
„Wollten wir nicht.“
Er nickte zu zwei Männern in dunklen Jacken hinüber zu , ...
Hört sich zwar auch nicht besser an, find ich jedoch logischer.
Chip in seinem Unterarm ????
„Gewöhnlich klopft man an beim Chef“ KOMMA erwiderte sie ...
... Nervenstränge, sodass er nur noch den seinen Kopf und den ...
Dass ich Svensson noch als Elfjährigen gekannt hatte, ...
dass Was Svensson mir erzählt hatte, ...
Ich hatte Borg nie vorher getroffen, aber genug von ihm gehört von ihm, sodass ich annehmen musste annahm, dass er auch vor einem alten Arzt nicht haltmachen würde, ...
.., dass es für Ihre Heilungschancen ausgesprochen schlecht stehen.
Es klopfte PUNKT Monika kam mit dem Kaffee herein.
Es sind nur wie[/b][/b]beide hier und Sie und ich wissen, ...
Er schob einen Speicherstick über den Tisch zu mir, e PUNKT Ein abgegriffenes Buch in rotem Ledereinband folgte.
... scrollte die Übersetzung durch bis fast zum Ende durch und blieb bei einem Absatz hängen.

Gruß
Ahorn
 

ArneSjoeberg

Mitglied
Hallo Ahorn,

ich habe Hausaufgaben immer gehasst. Nichts desto trotz habe ich sie ernst genommen, auch wenn ich sie immer erst zum letztmöglichen Zeitpunkt gemacht habe. Prokrastination heißt das, glaube ich :) Diese hier jetzt zu machen, war ein Vergnügen.

Danke Dir
Arne
 

ahorn

Mitglied
Hallo ArneSjoeberg,
ich muss sagen, dein Roman fesselt.


Ich würde den Text aus dem Bericht eher in kursiv schreiben, damit der Leser weiß, dass dieser nicht vom Doktor stammt.
Gott hat die Menschen geschaffen, ihn anzubeten. Obrigkeit, Kirche und Krieg color=blue]kreiert[/color], color=blue]um[/color] sie immer daran zu erinnern und d color=blue]PUNKT D[/color]ie Hölle erschaffen, auf dass die Seelen jener, die den Kopf nicht beugen wollen, in ihrem Feuer ewige Pein erleiden. ZEILENUMBRUCH
Stürme KOMMAwie ich sie nirgendwo sonst gesehen habe, rasen über ihren kilometerhohen Eispanzer in einer sechsmonatigen Nacht , PUNKT eine Nacht, die so rabenschwarz ist wie das Herz eines Kredithais und in der die Temperaturen in Bereiche fallen, in der Flüssigkeitsthermometer einfach nur zerplatzen. Schützt du dich vor der Kälte, schickt sie dir einen Blizzard auf den Hals; gehst du vor dem Sturm in Deckung, reißt sie das Eis unter deinen Füßen auf; stehst du auf festem Grund, rollt sie häusergroße Felsen heran und hast du das alles überlebt , s PUNKT Spielt der dein Kompass verrückt und du KOMMA dann findest duden Weg zurück nicht mehr zurück. Sie verzeiht keine Fehler PUNKT ZEILENUMBRUCH und z Zu glauben, sie besiegt zu haben, ist einer. ZEILENUMBRUCH Scott war auf dem Rückmarsch vom Südpol , PUNKT Er hatte schon das Basislager vor Augen, da schlug sie ein letztes Mal zu und schickte einen Schneesturm. Er erfror jämmerlich, nur ganze achtzehn Kilometer von der Rettung entfernt.
Ein Kälteschauer rann mir den Rücken herab und ich klappte den meinen Laptop wieder zu.
Wenn Wenn-o-Manie Treffen wir auf die Urkräfte der Natur trafen, dann sehen sahen wir überall Heimtücke und e Es konnte es kann gut sein, dass Thore Wejndahl in seinen letzten Stunden den Gegner vermenschlicht hatte, mit dem er sein ganzes Leben lang als Antarktisführer gerungen hatte. Wir und die gleiche Natur, die uns hervorgebracht hatte – w PUNKT Wir waren keine Freunde mehr und ich fragte mich, ob es auf den anderen Erden auch so genauso war.
vor über fünfzig Jahren, neunzehnhundertfǘnfundsechzig 1965, hatte Sergej Rachmantikow, ein junger sowjetischer Astrophysiker, auf einem Symposium in Moskau gesagt, dass Wissenschaft nicht bedeutet, auf alles eine Antwort zu haben, sondern die richtigen Fragen zu stellen , s PUNKT Selbst dann, wenn sie unpopulär sind und bisherige, als unabänderlich geltende Wahrheiten in Frage stellen.
Nachdem er sie gestellt hatte, klatschte niemand mehr , PUNKT Totenstille herrschte im Saal, bis die Ersten begriffen, dass was seine Frage implizierte , dass e PUNKT Es könnte mehr als eine Erde geben könnte. Dann da lachten sie die Ersten los , andere fielen ein, w PUNKT Wie ein Lauffeuer breitete es sich aus, bis schließlich der ganze Saal dröhnte vor Lachen und Rachmantikow wie ein geprügelter Hund mit gesenktem Kopf das Podium verließ.
In dem einzigen Interview, dass er danach gab, sagte er:
Doch das Tor dahin auf unserer Erde dorthin zu finden kann man schlecht überlassen suchen, hatte er anderen überlassen müssen.
Das Tor war nie gefunden worden und a fand niemand PUNKT Aus der anfänglichen Euphorie war wurde nach und nach Ernüchterung geworden, bis sich irgendwann nur noch wenige Wissenschaftler mit der Suche danach beschäftigten .
Das Plusquamperfekt macht in diesem Zusammenhang keinen Sinn, da alles aus des Doktors Sicht in der Vergangenheit ist und Staffelung durch nachdem oder bevor nicht vorgenommen wird.

Vielleicht wollte man es auch gar nicht , d PUNKT Ddenn wenn Rachmantikow recht gehabt hatte hätte, könnte es vielleicht unter diesen Erden eine geben, in der die Antarktis Thore Wejndahls ein blühender Garten war ; e Eine Welt, auf der die Menschen gelernt hatten, im Einklang mit der Natur zu leben, statt sie zu zerstören wie wir es taten und i In der es keinen Weltkrieg gegeben hatte – e Es wäre für die kleinen und großen Potentaten unserer Zeit eine Katastrophe, bräche doch ihre Lüge von der besten aller Welten, in der wir leben sollten, für alle sichtbar zusammen.
Vielleicht gab es sogar eine Erde, auf der Schwerin keine Großstadt war, sondern nur ein Provinznest.
Großstadt? ;)

Gruß
Ahorn
 



 
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