Svensson: Kategorie 5

ArneSjoeberg

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Svensson: Auch Götter machen Fehler Teil 3

Teil I hier
Teil II hier

Thore ließ die anderen alleine weitermachen und holte sich seinen Feldstecher. Einen Grund dafür hatte er nicht, aber etwas kribbelte in seinem Nacken und er kannte sich lange genug, um zu wissen, dass etwas die Aufmerksamkeit seines Unterbewusstseins geweckt hatte. Er richtete das Glas auf die Abhänge, schätzte ihre Neigungswinkel, suchte nach potentiellen Gefahrenquellen, dann schwenkte er weiter nach oben auf den Bereich knapp unter dem Berggipfel, in dem sich Licht und Schatten gerade berührten. Die Luft dort oben flimmerte wie die Augusthitze über schwarzem Asphalt und das gefiel ihm überhaupt nicht. Es gab weder Asphalt da oben noch Sommerhitze, sondern nur tödliche Kälte. Bereits hier, auf knapp dreitausendfünfhundert Meter Höhe biss die dünne, eisige Luft wie mit winzigen Glassplittern in die Lungen und machte jeden Atemzug zu einer Qual. Jeder, der sie über einen längeren Zeitraum ohne Schutz einatmete, konnte sich ganz fix eine Lungenblutung einfangen. Eintausend Meter höher, auf dem Gipfel bei viertausendfünfhundert Metern Höhe würde es ihnen vorkommen, als atmeten sie flüssiges Helium. Aber trotz dieser mörderischen Kälte existierten offenbar immer noch Temperaturunterschiede und dafür konnte es nur einen Grund geben: Die nicht ganz so kalte Luft über den tieferen Regionen, die dem Sonnenlicht ausgesetzt waren, floß um den Berg herum, stieg an seinen schattigen Flanken nach oben und die eisige Luft vom Gipfel sank herab. Die Luftschichten trafen aufeinander und verwirbelten. Diese Luftschlieren sah Thore durch sein Glas und er ahnte, was dabei herauskommen konnte.
„Das fehlt uns jetzt noch“, sagte er laut.
Joachim Detjen steckte seinen Kopf aus dem Forschungszelt. „Was?“
Thore wusste nicht viel über den Deutschen. Zehn Tage vor dem Auslaufen war er zum Team dazugestoßen und hatte sich während der Überfahrt auf dem Schiff ziemlich rar gemacht. Er war nicht viel kleiner als Thore, aber genau so breit und besaß eine Bärenkonstitution. Ständig waren seine Augen in Bewegung und nie ruhte sein Blick lange auf einem festen Punkt, es sei denn, es war das Gesicht eines seiner seltenen Gesprächspartner. Nie hatte er während des Marsches über die Strapazen gestöhnt und wo eine helfende Hand gebraucht worden war, war er meistens nicht weit gewesen; seine Kraftreserven schienen unerschöpflich. Vor allem aber hatte er sich von Hakonsen nicht herumschubsen lassen und war ihm aus dem Wege gegangen, wo er nur konnte. Etwas, dass Thore gewundert hatte, denn Detjen gehörte zum wissenschaftlichen Team, dessen Chef Hakonsen war.
Thore reichte ihm den Feldstecher. „Sieh selbst.“
Eine Weile blickte Detjen durch das Glas, dann sagte er: „Jetzt verstehe ich auch den Seismographen. Ist ja interessant. Vor ein paar Minuten war da noch alles ruhig. Hab da nämlich auch gesucht. Gefällt mir nicht. Ich schau besser nach, dass nichts zu Bruch gehen kann von unserer Ausrüstung. Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller, wenn das ein Sturm wird. Hakonsen, fasst du mit zu?“
Seit Minuten starrte der wissenschaftliche Leiter durch seinen Feldstecher auf die Bergspitze und hatte das nur ab und zu unterbrochen, um hin und her zu hüpfen, damit er nicht vollständig auskühlte. Auf die Frage von Detjen reagierte er nicht einmal.
„Hatte ich mir schon gedacht“, murmelte Detjen, gab Thore das Fernglas zurück und verschwand im Zelt.
Thore atmete tief ein, verfluchte die eisige Luft, die ihm dabei in die Lungen biss und brüllte: „Aufhören! Alles festmachen. Was nicht aufgebaut ist, wieder einpacken und verschnüren. Wir warten erst ab, was sich da oben zusammenbraut.“
Sein Ruf bewirkte das Gegenteil. Die Männer hielten inne, bei dem, was sie taten und starrten ebenfalls zum Berg. Thore wollte sie gerade zusammenstauchen, da hob ein Säuseln wie von einem weit entfernt vorbeifahrenden Zug an und aus dem unsteten Flimmern an seiner Spitze formte sich eine Windhose. Anfangs noch gerade so zu erkennen, gewann sie an Kraft und Größe und nach wenigen Minuten hatte sich auf halber Höhe zwischen ihnen und dem Berggipfel das gebildet, was fünfzehntausend Kilometer weiter nördlich die Keimzelle eines tödlichen tropischen Wirbelsturms gewesen wäre: ein Tornado. Den Fuß wie einen Saugnapf am Boden, entwickelte sich darüber ein schmaler Schlauch, der sich nach oben zu einem riesigen Trichter erweiterte und irgendwo weit über der Bergspitze im wolkenlosen Himmel verschwand. Mit jeder Drehung wurde der Schlauch dicker, verlor er mehr von seiner Durchsichtigkeit und wuchs mit atemberaubendem Tempo immer höher in den Himmel. Der Tornado saugte Dreck auf und er färbte die Strahlen der kraftlos hindurchscheinenden Sonne wie dunkelrotes Blut. Aus dem entfernten Säuseln wurde ein tiefes Orgeln und Thore brüllte: „Beeilung.“
Es ging ihm durch Mark und Bein, sogar die Zähne schmerzten und trotzdem riss er noch einmal den Mund auf: „Alles festmachen und dann seht zu, dass ihr in Deckung geht.“
Die tosende Luft riss ihm die Worte vom Mund, aber offenbar hatten sie von alleine begriffen, was da auf sie zukommen konnte und packten endlich an; stopften ihre Ausrüstung wieder in die Rucksäcke und rissen die halb aufgebauten Zelte nieder oder machten sie ganz fest.
Nur Sörensen stand wie erstarrt. Er schaute zum Berg und dann in Richtung der Felsen am Rand des Plateaus. Eine gute halbe Meile war es bis dahin. Er rannte los. Mit Panthersätzen hetzte Thore ihm hinterher, riss ihn zu Boden und brüllte ihm ins Ohr: „Willst du draufgehen?“
Sörensen wehrte sich nicht und es war besser so, Thore hätte ihn niedergeschlagen. Noch rotierte die Windhose nur um sich selbst, pechschwarz mittlerweile und so riesig, dass sie ein Viertel des Himmels verdeckte. Wenn sie sich losriss und der Zufall es wollte, dass in ihre Richtung kam, hatten sie nur hier auf der freien Fläche eine Chance. Einmal hatte er erlebt, was ein katabatischer Sturm anrichten konnte, der in freiem Gelände Platz gehabt hatte, Energie aufzubauen und dann in ein Felslabyrinth gerast war. Zusammengequetscht wie Pulverdampf durch einen Gewehrlauf war die Luft durch jeden Spalt im Gestein geschossen und hatte alles niedergerissen, was ihr im Weg gewesen war.
Ein fast linearer Blitz krachte aus der Bergspitze in die Windhose und als wäre es ein Signal gewesen, wurde das Dröhnen so gewaltig, dass Thore die Knochen im Leib vibrierten. Der Tornado riss sich vom Berg los und raste so gerade, als sei er auf Schienen unterwegs, mit wahnsinniger Geschwindigkeit geradewegs auf das Lager zu. Erst jetzt rollte der Donner heran und wie die Welle eines Tsunamis über ihn hinweg. Die Felsplatte unter ihm bebte von der Wucht der Schallwellen und Thore ließ sich neben Sörensen fallen.
Die Windhose raste heran, lauter als ein startender Jumbojet und die Luft, die sie mitbrachte, war wie eine Faust so hart und tödlich kalt. Sie zerrte Thore vom Boden hoch, ließ ihn wieder herunterkrachen, wirbelte Ausrüstungsgegenstände in die Höhe; riss Zelte aus ihren Verankerungen und fegte die Männer, die sich nicht so schnell wie er hingeworfen hatten, von den Füßen. Doch so rasend schnell, wie sie über das Lager hereingebrochen war, verschwand sie auch wieder und heulte weiter in die Täler hinter ihnen hinab.
Thore lag auf dem Boden, die fürchterliche Kälte der Steine unter ihm biss sich durch seinen Parka, aber er war noch am Leben, ja, nicht einmal verletzt war er und er konnte es nicht begreifen. Gerade wollte er sich vom Boden hochdrücken, als der begann, unter seinen Fingern zu vibrieren, Sekunden später zitterte der ganze Untergrund wie Wackelpudding und ein ungeheueres Poltern setzte ein, ein Donnern, als stürzte der ganze Berg ein und Thore begriff, auch wenn er nichts sah in dem Staub, den der Tornado hinterlassen hatte. Eine Gerölllawine ging ab und seine Ohren sagten ihm, dass sie wie bereits die Windhose zuvor auch die Richtung zum Lager nahm. Mit brennenden Augen starrte er dahin, wo er den Berg vermutete, überlegte, wohin er rennen sollte, hob einen Fuß, setzte ihn wieder ab, weil es plötzlich von allen Seiten auf ihn zuzurasen schien und er wusste, dass das, was da auf ihn zukam, schneller war als jeder Expresszug. Dann schoß die Dreckwolke heran, Vorbote eines jeden Erdrutsches und der mit ihm einhergehenden Vernichtung, und nahm ihm die letzte Sicht. Es war Thores Stolz, der ihm verbot, sich hinzuwerfen, aber es war sein Unterbewusstsein, das ihn die Augen schließen und den Kopf mit den Armen schützen ließ.
Doch wieder ging der Tod an ihm vorbei. Das Grollen wurde weniger, erst kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher; wurde zu einem Poltern, aus dem das Rollen einzelner Brocken zu hören war und dann stoppte das Verderben irgendwo vor ihm. Ein paar der kleineren Steine rollten noch ein Stück, zumindest hörte es sich so an; etwas krachte gegen seinen Fuß, dann trat wieder Ruhe ein. Minuten vergingen, bis sich der aufgewirbelte Staub legte; Minuten, in denen er nicht wagte, sich zu bewegen, weil ihn noch immer die Todesangst in ihren Krallen hielt.
Schließlich öffnete er die Augen. Das, was ihn am Fuß getroffen hatte, war ein kopfgroßer Stein gewesen und dessen Genossen lagen zwischen ihm und dem Berg. Je weiter weg, umso mehr und größer waren sie, und wo eben noch eine sanfte Steigung den Anfang ihrer Route zum Gipfel gebildet hatte, hatte sich ein riesiges Geröllfeld aufgetürmt. Gesteinsbrocken und Schutthaufen häuften sich über eine Strecke von mehreren einhundert Metern zwischen dem Lager und dem Pass, an einigen Stellen hoch wie mehrstöckige Häuser und es war nahezu ein Wunder, dass sie nicht begraben worden waren.
Tief atmete er aus, dann wieder ein. Noch einmal, noch ein drittes Mal, dann richtete er sich zu voller Größe auf und brüllte: „Hat es einen erwischt?“
Eine Antwort bekam er nicht, aber überall erhoben sich die Männer. Einige von ihnen schüttelten die Köpfe und wahrscheinlich dachten sie das gleiche wie er: Es gab vier Himmelsrichtungen, aber sowohl der Tornado als auch die Lawine hatten sich ausgerechnet die ausgesucht, in der sich ihr Lager befand.
Auf den ersten Blick hatte die Windhose keinen großen Schaden angerichtet, selbst das Zelt der Wissenschaftler schien fast unversehrt zu sein. Allerdings war nicht sicher, ob sie eben das Minimum oder das Maximum erlebt hatten und ob sie bei einer Wiederholung wieder nur mit ein paar blauen Flecken davon kommen würden. Für einige Zeit hatten sie vielleicht Ruhe, die Luftschichten hatten sich vermischt und bis sie sich erneut aufluden und eine neue Windhose entstehen konnte, sollte eine Weile vergehen. Trotzdem musste er das Lager weiter nach unten in die Täler verlegen. Hakonsen würde wie ein Derwisch toben, aber das war nichts wirklich Neues.
„Ich habe gefragt, ob einer was abgekriegt hat!“, brüllte er noch einmal.
Niemand meldete sich und dann waren sie wohl noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.
Hakonsen kam herangeschlendert, als gäbe es nichts Wichtiges und stellte sich neben Thore. „Sie bluten übrigens im Gesicht.“
Thore fasste sich in seinen Vollbart. Verblüfft musterte er die rosa Eiskristalle auf seinem Handschuh und erst jetzt spürte er den Schmerz in seiner Wange. Mit jeder Sekunde tat es mehr weh.
Er knurrte: „Scheiße, das wird eine Narbe. Egal, wir müssen hier weg. Das nächste Mal wird es vielleicht nicht so gut abgehen. Wir sind alle hundemüde. Heißt, wir bauen heute nur provisorisch die Zelte auf. Morgen suchen wir uns einen Platz weiter unten in einer Gegend, in der wir besser geschützt ...“
„Wir können hier nicht weg!“, fiel ihm Hakonsen ins Wort.
„... sind und gut wäre, wenn so etwas wie eine Höhle in der Nähe wäre, in der wir unsere Vorräte lagern können und als Schutz für uns. Nicht weiter weg als fünf Minuten von dem neuen Lager. Solange hat der Sturm gebraucht, bis er seine volle Kraft hatte. Jetzt sorgt für Ordnung, dann geht schlafen. Wenn etwas zu Bruch gegangen ist, sagt mir Bescheid. Legt los.“
Sie ließen sich nicht zweimal bitten und machten sich an die Arbeit. Nur Hakonsen rührte sich nicht. Thore klappte seine Kapuze zurück und zog seinen Gesichtsschutz nach unten. „Überspann den Bogen nicht. Beim nächsten Mal knallt es.“
Hakonsen reckte Nase und Kinn vor. „Wir können hier nicht weg. Im Gegenteil, wir müssen noch näher heran. Unbedingt! Ruud Ängström hat Ihnen gesagt, dass Sie alle Entscheidungen, die unsere Arbeit betreffen, vorher mit mir zu besprechen haben. Diese fällt darunter. Wir sind am Berg, meinem Forschungsobjekt. Ich habe jetzt die Leitung. Habe ich!“
Noch einmal beherrschte Thore sich, aber er wusste, dass der Punkt, in dem Erschöpfung und Frustration in blanke Wut in ihm umschlagen würden, nicht mehr weit war. „Mach die Augen zu, dann siehst du, was du leitest. Wir verlegen das Lager oder ich ramm dich unangespitzt in die Felsplatte. Ende der Diskussion.“
Er drehte sich um und wäre fast gegen Joachim Detjen gelaufen.
„Darauf solltest du einen Blick werfen.“ Der deutsche Seismologe reichte Hakonsen ein langes Papierband. „Das hat der Seismograph ausgespuckt.“
„Was ist das?“
Detjen hielt es ihm direkt vor die Augen und Hakonsen musste einen Blick darauf werfen, ob er wollte oder nicht. Er nahm sich ein paar Sekunden, dann fauchte er: „Mikroerdbeben. Na und? Hier ist eben eine Gerölllawine heruntergekommen.“
„Es begann davor. Als noch alles ruhig war, sogar ein paar Minuten vor dem Sturm, bevor wir die Schlieren am Berg entdeckt hatten. Ich wollte ihn überprüfen, da schlug er schon aus. Stärke zunehmend, ansteigende Intensitätskurve, ähnlich wie die ansteigende Rotationsgeschwindigkeit der Windhose. Als hätte sie die Energie nicht aus der Temperaturdifferenz, sondern aus den tiefen Bodenbewegungen gezogen. Kein Zusammenhang?“
„Kein signifikanter. Die Windhose hatte ihren Fuß am Boden und ein Teil ihrer Energie hat sich in den Felsuntergrund entladen. Das sind die Vibrationen, die der Seismograph gemessen hat. Hätte sie es nicht getan, wären wir jetzt wahrscheinlich tot. Richtig tot. Das sagen die Aufzeichnungen jemandem, der sie korrekt interpretieren kann. Was Sie daraus konstruieren, ist seismologische Metaphysik, Herr Kollege. Außerdem sind wir weder ausgerüstet für derartige Untersuchungen noch hier, um antarktische Phänomene aufzuklären.“
„Also ist es eins.“
„Drehen Sie mir die Worte nicht im Mund um! Nicht umdrehen!“
Fast tat der Deutsche Thore ein bisschen leid. Vor etlichen Jahren hatte Hakonsen zusammen mit Wennigsen und Bergander begonnen, alles an Material auszuwerten, was er über den sechsten Kontinent in die Hände bekommen hatte; jedes Satellitenfoto; jede Luftbildaufnahme; jeden Ausdruck eines Seismographen. Nach dem, was in der Akte stand, die Olsbue geschickt hatte, war Hakonsen ein absoluter Experte für die Geologie der Antarktis. Am Anfang hatte er darüber noch publiziert und was er über die Bewegungen der Erdkruste und die Plattentektonik unter dem sechsten Kontinent veröffentlicht hatte, gehörte zur Standardlektüre in Universitäten, obwohl er da erst dreißig gewesen war. Vor vier Jahren hatte er sich dann ganz plötzlich mit dem Geld von Ängström einen Forschungskomplex eingerichtet. Gary Winston war dazugekommen, er war Spezialist für hochenergetischen Schall gewesen und dann noch Sigurd Haggard, ein Geophysiker. Egal, wie gut Detjen auch war und wie viel Erfahrung er auch mitbringen mochte - Thore wusste, dass der Deutsche für Hakonsen ein Fremdkörper war.
„Er meint es nicht so, Joachim.“
Ein wenig schleppend und nicht so leichtfüßig wie sonst, kam Johanna Hakonsen aus dem Forschungszelt. Thore kannte sie als eine kräftige, etwas herbe Schönheit, die in den letzten Wochen so manche Auseinandersetzung durch ihre bloße Anwesenheit entschärft hatte. Jetzt lagen ihre Augen ohne Glanz tief in den Höhlen, ihr schmales Gesicht war eingefallen und der Wassermangel ließ ihre Wangenknochen spitz hervortreten. Thore hatte erst abgelehnt, sie mitzunehmen, aber mit einem Foto vom Gipfel des Mount Everest, mit dem Dach der Welt im Hintergrund, von ihr selbst aufgenommen, hatte sie ihm jedes Argument aus der Hand geschlagen. Was ihn mehr beeindruckt hatte – ihre Leistung oder das Strahlen aus ihren leicht schrägen, katzengrünen Augen - darüber wollte er nicht nachdenken.
Ihr Mann sah sie scharf an. „Es existiert keine wissenschaftliche Theorie, meine Liebe, nach der kaum messbare Erderschütterungen Stürme dieser Größenordnung auslösen oder auf eine anderweitig metaphysische Art befruchten können und das ist ja wohl die Hypothese meines geschätzten Kollegen hier. Noch dazu zeigt das Band exakte zeitliche Abstände der Ausschläge und nur Primärwellen, keine Sekundärwellen. Hätte Herr Detjen bei mir Geologie studiert, wüsste er, dass so etwas in der Natur nicht vorkommt. Wo sagten Sie doch gleich, haben Sie ihr Fachwissen erworben? Aber wie schlecht auch immer Ihre Ausbildung gewesen sein mag - auf die naheliegende Idee, die korrekte Funktion des Seismographen zu überprüfen, die offenbar nicht mehr gegeben ist, hätten Sie auch mit einem simplen Schulabschluss kommen können. Hätten Sie.“
Man sagte von ihm, dass er als Geologe ein Genie war. Das mochte sein. Als Mensch war er jedenfalls ein Arschloch, fand Thore. So bitterböse wie Hakonsen schaute man weder einen Kollegen noch seine Ehefrau an. Sie, Detjen und Haggard waren die Einzigen, die ihm noch geblieben waren. Die andere Hälfte seines Teams hatte der Teufel geholt. Er hätte sich besser Hakonsen schnappen sollen.
Plötzlich fiel Thore etwas ein und seine Nackenhaare stellten sich auf. „Wo ist Sigurd?“
Hakonsen zuckte die Schultern. „Was sehen Sie mich an?“
„Aber du …“, sagte Joanna und verstummte unter dem Blick ihres Mannes. Diesmal lag blanker Hass darin und Thore wiederholte: „Wo! Ist! Haggard!“
Hakonsen reckte das Kinn vor. „Er wollte ein paar Proben sammeln gehen. Wird schon wieder auftauchen.“
„Du hast ihn gehen lassen?“
„Er ist mein Mitarbeiter und wir haben keine Zeit. Jede Minute zählt. Was geht Sie das überhaupt an? Was?“
Thore packte zu. Es reichte ihm endgültig, das Fass war übergelaufen. Er zerrte Hakonsen an dessen Parka zu sich heran, bis sich fast ihre Gesichter berührten. Joanna bückte sich nach einem Stein, Joachim Detjen griff nach Thores Arm, aber wie ein lästiges Insekt schüttelte Thore die Hand des Seismologen ab. „Finger weg! So lange ich meine Handschuhe nicht ausziehe, braucht ihr euch nicht einmischen!“
Wütend schüttelte er Hakonsen, dann stieß er ihn von sich. Hakonsen ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und krachte auf den Boden. Einen Moment blieb er benommen liegen, dann stemmte er sich wieder auf die Füße.
„Drei Leute sind schon tot, aber du hast immer noch nichts begriffen, Hakonsen, was?“
Mit den Stiefeln trat Thore ihm die Beine weg und wieder landete der Geologe auf dem Rücken. „Habt ihr Wissenschaftler nur Grütze in der Rübe? Du lässt Haggard einfach so losgehen. Ohne mich zu fragen, ohne überhaupt jemandem etwas zu sagen, und ihr Schlafschafe haltet das auch noch für eine prima Idee. Nie geht einer allein, jeden Tag habe ich Euch das eingehämmert, immer wieder. Muss ich dir das auch noch auf die Stirn tätowieren, Doktor Johannes Hakonsen? Zum Mitmeißeln für dich Steinzeitmenschen: Keiner macht mehr was, ohne dass ich davon weiß. Niemand! Vor allem du nicht! Selbst wenn du scheißen gehst, will ich das wissen und wenn du auch nur einmal vergisst, vorher bitte zu sagen, tacker ich dir die Ritze zu! Das gilt für alle. Jetzt bewegt eure Ärsche. Sörensen, du stellst Suchtrupps zusammen!“
Drohend blickte Thore jeden einzelnen der Männer an, die um sie herumstanden. Er machte einen Schritt zurück und drehte sich zu Joachim Detjen um. „Und du prüfst den Seismographen.“
„Wozu, wenn er doch die Primärwellen gemessen hat?“ Thores Wut schien ihn nicht im Geringsten aus der Fassung zu bringen.
„Heißt?“
„Heißt, dass er in Ordnung ist. Dass die Werte unserem Verständnis der Vorgänge, die wir mit unseren Sinnen wahrgenommen haben, widersprechen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Nur weil man ein Problem nicht sehen will, bedeutet das noch lange nicht, dass es nicht existiert. So handeln vielleicht Politiker, aber ich bin Wissenschaftler. Unseres ist: In jeder bekannten Theorie und nach unserer Erfahrung bringt die Natur weder Erdbeben ohne Sekundärwellen hervor noch tiefe Erdbeben ohne Oberflächenwirkung einen Sturm. Doch genau das ist hier das Problem.“
„Metaphysiker“, zischte Hakonsen vom Boden aus.
Thore rotzte ihm einen grünen Fladen zwischen die Füße. „Halt dich raus. Bete lieber, dass Haggard nichts passiert ist.“
„Und noch etwas passt nicht zusammen.“ Joachim Detjen tat, als hätte er Hakonsens giftigen Kommentar nicht gehört. „Erstens: Was sich am Berg zusammengebraut hat, war ein Tornado, der hier nicht von alleine entstehen kann, die Temperaturunterschiede sind zu gering und damit stimmt die Energiebilanz nicht. Zweitens: Er marschiert exakt über uns hinweg, aber trotz seines immensen Zerstörungspotentials geht bei uns nicht mehr als Mutters gutes Geschirr zu Bruch. Drittens: Genau wie der Bergrutsch, der aus voller Geschwindigkeit heraus direkt vor uns stoppt, als sei er gegen eine Wand geknallt. Nein, nichts davon war das, was wir glauben, dass es das war.“
Alle starrten ihn an. Nur Johanna bückte sich, um ihrem Mann aufzuhelfen, aber der schlug ihre Hand beiseite und rappelte sich alleine auf. „Ach ja? Und was ist es Ihrer überaus kompetenten Schulmeinung nach gewesen, Herr Kollege Detjen? Was?“
Einen Moment schien es, als wollte der Deutsche keine Antwort geben. Er schaute erst Thore an, schwenkte dann seinen Blick zu Johanna und ließ ihn lange auf ihrem eingefallenen Gesicht ruhen. Schließlich antwortete er doch und obwohl er leise sprach, hörte es sich für Thore an, als würde er schreien: „Es war eine Warnung.“
Das vor Zorn rote Gesicht Hakonsens wurde schlagartig bleich und scharf atmete Thore aus. In der knochentrockenen Luft kondensierte sein Atem zu Raureif und stand als weiße Wolke vor seinem Gesicht. Er wedelte sie mit der Hand beiseite. „Das klären wir später. Erst müssen wir Haggard finden. Wehe, Ihr drei rührt Euch bis dahin aus dem Lager. Aber dann wird Tacheles geredet.“



Kapitel 9

Sigurd Haggard lag in einer Klamm, knapp einen Kilometer vom Plateau entfernt in Richtung Berg und nur seine Beine schauten noch unter einem Geröllhaufen hervor. Es war eher ein Zufall, dass sie ihn fanden, der Riss, in dem er lag, schlängelte sich über sechzig oder siebzig Schritte zwischen senkrechten Felswänden dahin und endete dann nach einem scharfen Knick vor einer steil aufstrebenden Wand. Er mochte es für eine gute Idee gehalten haben, dort vor dem Sturm Schutz zu suchen. Vielleicht war sie es auch gewesen, bis dann das Geröll von oben gekommen war und ihn unter sich begraben hatten.
Sie räumten die Steine weg. Noch immer lagen seine Hände schützend über seinem Kopf, doch es hatte ihm nichts genutzt. Sein Schädel war an der Stirn eingedrückt, einer der Felsbrocken musste ihn mit voller Wucht an der Schläfe erwischt haben, bevor er hatte in Deckung gehen können. Er hatte Himalajaerfahrung besessen und viele Gebirge der Erde gekannt; ihm hätte klar sein müssen, dass er in dem engen Gang mit Steinen von oben rechnen musste, denen er nicht ausweichen konnte. Außerdem besaß die Klamm nur einen Ausgang und wäre der durch einen Bergrutsch blockiert worden, wäre er niemals mehr hinausgekommen. Die Wände hier waren fugenlos glatt, mehr als zwanzig Meter hoch und unersteigbar.
Was zum Teufel hatte Haggard geritten, hier Schutz zu suchen? Oder hatte er hier etwas gesucht und war vom Toben der Elemente überrascht worden, bevor er hatte sich retten können? Dafür sprach, dass er nicht am Ende der Klamm, sondern in ihrer Mitte lag, den Kopf in Richtung Ausgang. Das waren die Fragen, die Thore sich stellte. Doch es war niemand da, der sie ihm beantworten konnte.
Für ein Grab hätten Sie ein Loch sprengen müssen und so schichteten sie stumm auch über seinen Füßen noch Steine auf. Keiner sprach ein Wort, nicht einmal Hakonsen. Die nie untergehende Sonne goss mitleidlos ihr kaltes Licht über die Totenzeremonie. Nur wenig davon fiel bis auf den Boden. Alle hielten sich eng beieinander, nur die Hakonsens standen etwas abseits, aber auch nicht zusammen. So, als gäbe es etwas, dass sie trennte und die Blicke, die Johannes seiner Frau zuwarf, waren alles andere als freundlich. Thore sprach ein Gebet, dann traten sie gemeinsam den Rückmarsch an und verschwanden in ihren Zelten.
Alles in Thore schrie danach, es auch zu tun. Sein Körper flehte verzweifelt um Wärme und Erholung, um ein paar wenige Stunden Schlaf. Aber eisern zwang er die Schmerzen nieder, kontrollierte penibel alles und erst, als er sich sicher war, dass nirgendwo auch nur ein Ausrüstungsteil nicht an seinem Platz lag, ging er zum Forschungszelt und wühlte in der Ausrüstung der Wissenschaftler, bis er einen Geologenhammer fand. Er steckte ihn unter seinen Parka und ging zurück zu der Klamm, in der Haggard gestorben war.
Es waren Fragen offen und Thore wusste, dass er die Antworten finden musste, wenn es ihm nicht so gehen sollte wie dem Schiff an seiner Wand zu Hause. Er hatte nicht nur übersehen, dass Haggard nach dem Sturm gefehlt hatte – bereits, als Detjen und Hakonsen diskutiert hatten und der wissenschaftliche Leiter seiner Frau einen so bitterbösen Blick zugeworfen hatte, war Thore etwas entgangen. Detjen hatte Hakonsen den Ausdruck des Seismographen so kurz unter die Nase gehalten, dass wahrscheinlich niemand, der nicht schon vorher gewusst hatte, um was es ging, ihn hätte interpretieren können. Detjen hatte das ebenfalls wissen müssen, also konnte es nur Absicht von ihm gewesen sein. Er hatte Hakonsen ein Parierstöckchen hingehalten und der wissenschaftliche Leiter war wie ein braves Hündchen drüber gesprungen. Er mochte es selbst ein paar Sekunden später begriffen haben und das mochte dann auch der Grund für seine Giftigkeit gewesen sein. Was hatte Detjen mit diesem Manöver bezweckt, war die Frage Nummer eins für Thore.
Die zweite Frage, die er sich stellte, war, ob Gott gerade erhöhten Bedarf an Intelligenzlern hatte. Immerhin hatte er nicht vier der Träger oder Thore zu sich geholt, sondern erst Winston, dann Wennigsen und Bergander, und jetzt auch noch Haggard - alles langjährige Mitarbeiter Hakonsens, die gemeinsam mit ihm geforscht hatten und außer Ängström wahrscheinlich die einzigen, die wussten, worum es Hakonsen hier wirklich ging. Viele vernünftige Erklärungen gab es für das wissenschaftliche Massensterben nicht, wenn man nicht annahm, das der Zufall eine Vorliebe für Doktorhüte hatte. Eigentlich gab es nur eine ...
Thore brauchte fast zwanzig Minuten bis zur Klamm. Der Eingang war so schmal, dass er sich seitwärts drehen musste, um hineinzukommen. Innen erweiterte sich der Gang, so dass er bequem hätte bis zu der Stelle gehen können, an der sie Haggard gefunden hatten, wenn der Boden nicht voller Geröll gewesen wäre. Hier drinnen hätten sogar drei Männer mühelos nebeneinander Platz gehabt, ohne dass ihre Schultern die Felswände berührt hätten.
Neben dem toten Haggard schmiegte Thore sich ganz eng an die Wand, hockte sich hin und blickte nach oben. Zwanzig Meter über ihm leuchtete ein schmaler Streif Himmel, während hier unten diffuses Dämmerlicht alle Konturen verwischte. Auf seiner Seite war die Felswand senkrecht und so glatt, als wäre sie poliert worden; Steine, die hier herab prasselten, würden ihn unweigerlich treffen und ein Geröllabgang würde ihn so unter sich begraben, wie es Haggard passiert war. Er schaute auf die andere Seite, und da wusste er, dass er noch etwas übersehen hatte. Der erfahrene Haggard hätte hier gar nicht durch einen Steinschlag sterben können, die Wand, an der Thore jetzt stand, hatte einen leichten Überhang und jeder Stein, der hier herunterfiel, musste mehr als einen Meter entfernt vom Fuß der Wand auf dem Boden landen. Jeder vernünftige Mensch hätte sich beim ersten Poltern von oben mit einem Sprung auf diese Seite in Sicherheit gebracht. Haggard hatte es nicht getan. Etwas hatte ihn daran gehindert. Aber was?
Ein Geräusch über ihm ließ Thore nach oben blicken. Ein Schatten verdunkelte den Himmel, etwas polterte und Thore reagierte instinktiv und blitzschnell. Er sprang auf die andere Seite der Klamm unter die überhängende Wand, kauerte sich zusammen und riss die Arme über den Kopf. Keinen Moment zu früh - mit einem dumpfen Knall krachte ein Stein gegen die Wand auf der anderen Seite. Weitere folgten, dem Geräusch nach kleinere; landeten knapp einen Meter vor ihm auf den Boden und prallten dann gegen Felswand drüben. Hätte er noch da gestanden, wäre er jetzt wahrscheinlich zwar nicht tot gewesen - die dicken Sachen, die ihn vor der Kälte schützten, hätten den Steinen einen Teil ihrer Wucht genommen - aber es hätte verdammt weh getan und er wäre dem, was danach gekommen wäre, hilflos ausgeliefert gewesen. Hier schützte ihn der Überhang und so lange er hierblieb, konnte er nicht getroffen werden.
Er kauerte sich zusammen und überlegte. Er war festgenagelt. Wenn er seine geschützte Position verließ, setzte er sich dem Steinhagel aus. Blieb er, hatte der Unbekannte Zeit, sich eine neue Taktik zu überlegen, mit der er Thore töten konnte. Oder er musste nur warten, bis Thore, hier unten zur Bewegungslosigkeit gezwungen, erfroren war. Dann konnte der Mörder gemütlich durch den Eingang hereinspazieren, seinem durch die Kälte wehrlos gewordenen Opfer den Schädel einschlagen, noch ein paar Steine dazulegen und es würde wie ein Tod durch einen Steinschlag aussehen. Thore wusste jetzt, wie Haggard gestorben war. Doch es half ihm nicht weiter, so lange er keinen Ausweg aus dieser perfekten Falle fand.
Links von ihm fiel ein Seil herab. Thore rührte sich nicht, sogar seinen Atem versuchte er zu reduzieren, um sich nicht durch eine weiße Dampfwolke zu verraten. Kaum hatte das Seil den Boden berührt, kletterte eine menschliche Gestalt mit katzenartiger Gewandtheit daran herunter. Als sie mit ihren Füßen nur noch einen Meter vom Grund entfernt war, sprang Thore sie an. Noch in der Bewegung breitete er die Arme aus, um den Unbekannten bei den Schultern zu packen und niederzureißen. Thore wusste, dass seine Nahkampffähigkeiten nicht über das hinausgingen, was man in fünfzig Jahren bei Kneipenschlägereien lernen kann, aber er dachte auch, dass das Wissen zusammen mit seinem massigen Körper und der mörderischen Wut, die in ihm kochte, reichen sollte, mit jedem Gegner fertig zu werden. Er irrte sich.
Im gleichen Moment, in dem seine Hände die Schultern seines Gegners berührten, packte auch der zu, hielt Thores Hände fest und krümmte sich blitzartig zusammen. Die Hebelwirkung und sein eigener Schwung katapultierten Thore über seinen Gegner hinweg und ließen ihn kopfüber mit dem Rücken gegen die Felswand krachen. Der Aufprall nahm ihm den Atem und heftig nach Luft schnappend, rutschte er zu Boden.
Die Reaktion war unglaublich schnell gewesen, zu schnell für einen überraschten Menschen. Thore wurde klar, dass er sich wie ein Idiot benommen hatte. Wenn die Steine auf ihn gezielt gewesen waren, dann hatte der Mann gewusst, dass Thore hier war und mit seinem Angriff gerechnet. Vielleicht hatte er Thore sogar erwartet und genau wie Hakonsen vor ein paar Stunden auf Detjen hereingefallen war, hatte Thore sich dazu verlocken lassen, über das hingehaltene Stöckchen zu springen. Die Kraft und Geschwindigkeit, mit der er durch die Luft gewirbelt worden war, hatten sich nicht nach einem Untrainierten angefühlt; eher nach jemandem, der Judo meisterhaft beherrschte und dazu noch die Reflexe einer Katze hatte.
Thore verbiss die Schmerzen, sortierte seine Knochen und schob sich mit dem Rücken an der Wand empor; knickte ein wenig in den Knien ein und holte den Hammer unter seinem Parka hervor.
Die vermummte Gestalt lachte dumpf. Leicht gebückt, die Hände locker an den Seiten, stand sie dort, wo Thore sie attackiert hatte, aber machte keine Anstalten für einen Angriff. Im Gegenteil, mit einer fließenden Bewegung klappte sie die Kapuze zurück und zog den Kälteschutz vom Gesicht, dann sagte Joachim Detjen: „Thors, Hammer, hm? Sei bloß vorsichtig damit, wir haben nur zwei. Hakonsen würde weder gefallen, wenn du seinen Hammer, noch wenn du seinen einzigen Seismologen kaputtmachst.“
Detjens Stimme klang kühl und beherrscht, nicht anders als sonst auch und das, obwohl er sich gerade nur mit den Händen in atemberaubendem Tempo und artistischer Gewandtheit zwanzig Meter an einem fingerdünnen Seil herabgelassen hatte. Mit dicken Sachen, die jede Bewegung behinderten und das gab Thore sehr zu denken.
Er hob den Hammer. „Bei dem Seismologen wäre ich mir nicht so sicher. Welchen Teil von dem, was ich über das alleine Weggehen gesagt habe, hast du nicht kapiert?“
„Den mit dem Tacker.“
„Witzbold.“
„Nein, gar nicht.“ Detjen machte einen Schritt und Thore spannte die Muskeln.
„Mach keinen Fehler.“
„Ich mache keine Fehler. Du schon. Du hast die Leute wieder nicht gezählt, wie bereits nach dem Sturm nicht. Mein Schlafsack neben deinem war leer.“
Noch einen Schritt, Thore hob den Hammer, zischte: „Letzte Warnung“, und diesmal blieb Detjen stehen.
„Jetzt steck endlich den verdammten Hammer weg. Ich wollte dich nicht töten, nur dir beweisen, dass Sigurd nicht von einer Gerölllawine getroffen worden sein kann. Hätte ich dich umbringen wollen, hätte ich nur warten müssen, bis du von der Wand weg bist. So ein Stein macht kein Geräusch, wenn er fällt, weisst du? Erst, wenn er deinen Kopf trifft. Haggard wäre auf die andere Seite gesprungen, genau wie du. Außerdem hätte es ihn am Hinterkopf erwischt und nicht an der Schläfe. Er ist von vorne erschlagen worden und die Steine kamen erst danach.“
Thore ließ den Arm mit dem Hammer ein wenig sinken, aber seine Hand fasste den Stiel, als wollte er ihn zerquetschen und mit den Füßen suchte er unauffällig nach einem möglichst festen Stand. Ruhig erwiderte er: „Das war mir schon klar, als wir ihn fanden. Ich wusste bis eben nur nicht, wer es war.“
Er spannte sich, aber der Angriff, mit dem er gerechnet hatte, kam nicht. Stattdessen lachte Detjen kurz auf, eher war es ein Bellen, dann lehnte er sich mit der Schulter gegen die Wand. Dass diese minus vierzig Grad kalt war, schien ihn nicht zu stören. „Und du denkst, ich bin es gewesen?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich will wieder nach Hause, Thore. Mein Sohn Christian ist etwas Besonderes. Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber eines weiß ich: Ohne dich sehe ich ihn nicht wieder. Betrachte mich also eher als deinen Leibwächter.“
„Was sucht dann jemand, der fit wie ein Hochleistungssportler ist, eine Nahkampfausbildung hat und der nach Hakonsens Meinung ein ganz mieser Geologe ist, in der Antarktis?“
„Gegenfrage: Wieso suchen sich Hakonsen und Ängström ausgerechnet einen so abgehalfterten Führer wie dich aus? Dein Ruf ist wirklich mies, weißt du?“
Thore bückte sich und nahm ein Felsstück in die linke Hand. Es passte gerade in seine Faust. Die Adern an seinem Hals pulsten. „Ganz dünnes Eis …“
Unbeeindruckt entgegnete Detjen: „Schau ihn dir nur richtig an. Er müsste glatt und unversehrt sein. Kein Mikrogramm Wasser in der Atemluft, also keine Erosion. Aber er fällt auseinander wie der ganze Berg, der mürbe ist wie ein Blätterteigkuchen. Leg ihn lieber unter dein Kopfkissen und den Hammer gleich dazu, falls du demnächst nachts Besuch bekommst. Deine Frage hätte richtig lauten müssen: Warum sollte das norwegische Miltär eine Expedition finanzieren, zu der Experten für hochenergetische Schallwellen wie Winston; eine Humangenetikerin wie Johanna, die ihre Doktorarbeit über die Bestrahlung menschlicher Zellen mit Ultraschall gemacht hat; ein Geophysiker wie Haggard und eine Horde von gewissenlosen Geologen gehören?“
„Sags mir.“
„Postnukleare Waffentechnologie.“
„Was für’n Scheiß?“
„Geophysikalische Waffen - gesteuerte Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Stürme - die feuchten Träume aller perversen Militärs.“
„Waffen? Hier? Bullshit! Hier lebt nichts.“
„Vielleicht nichts, aber etwas ist hier. Etwas, das wir nicht kennen. etwas, für das Hakonsen offenbar bereit ist, sein Leben zu riskieren und Ängström, zu morden.“
Detjen schlug mit den Armen um sich und trampelte hin und her. „Lass uns zurück gehen. Ich will mir hier keine Erfrierung holen und außerdem geben wir gerade zwei schöne Zielscheiben ab. Jetzt steck endlich deinen blöden Hammer weg!“
Thore brummelte etwas, dann steckte er den Hammer unter seinen Parka und knurrte: „Du gehst vor.“
„Aber ganz sicher doch“.
Detjen ging voran. Nach ein paar Minuten, am Ausgang der Klamm, zwängte er sich hindurch und blieb dahinter stehen, um auf Thore zu warten, doch der sagte: „Geh ein paar Meter weiter. Ich kann mich hier nicht bewegen.“
„Du traust mir nicht ...“
„So weit, wie ich Hakonsen werfen kann“, knurrte Thore und zwängte sich ebenfalls durch den Spalt, nachdem Detjen weitergangen war. Stumm marschierten sie durch die klirrende Kälte, Detjen vorneweg, Thore hinterher. Tag für Tag war der Zorn auf Hakonsen in ihm größer geworden und die letzten Stunden hatten ein Übriges getan, ihn in rotglühende Lava zu verwandeln. Sie brodelte in Thore und mit jedem Schritt, mit dem er sich den Zelten näherte, wuchs der Druck in ihm.
Es waren vielleicht noch zweihundert Schritte, da blieb Detjen stehen. Er wartete, bis Thore nahe genug herangekommen war, dass er nicht schreien musste und das ganze Lager mithören konnte, dann sagte er: „Ich habe tatsächlich Geologie studiert, Thore, und meine Ausbildung war um keinen Deut schlechter als die von Hakonsen, also pass auf. Jedes Beben erzeugt Wellen. Zuerst kommen dabei die sogenannten Primärwellen, sie laufen waagerecht vom Zentrum weg; die Sekundärwellen sind langsamer und kommen später. Sie sind es, die bei einem Beben die Zerstörungen anrichten. Stark vereinfacht, aber passt schon. Hier messe ich nur die Primär- aber keine Sekundärwellen und sie kommen in einem millisekundengenauen Rhythmus von exakt 0,914 Sekunden. Da hat Hakonsen recht – so etwas gibt es in der Natur nicht, was bedeutet, dass sie nicht Ursache, sondern eine Folge von etwas anderem sind. Ich habe Johanna gefragt und genau wie ich hatte auch sie Kopfschmerzen und Übelkeit. So reagieren sensible Menschen auf Schallwellen, die mit extrem viel Energie abgestrahlt werden. Infraschall, Ultraschall, wenn nicht sogar Hyperschall – ich bin da kein Experte. Die Schubspannungen, die entstehen, wenn diese Schallwellen auf Gestein prallen, erzeugen Transversalwellen und sie sind es, die den ganzen Berg wie Wackelpudding zum Vibrieren gebracht haben. Das hat der Seismograph aufgezeichnet, nicht den Sturm und Hakonsen wusste das ganz genau. Weil er deswegen hier ist. Irgendwo unter uns toben gewaltige Energien und wer sie beherrscht, kann damit ganze Gebirge zertrümmern. Oder eine ganze Stadt, wenn du das direkt dadrunter loslässt. Es gibt Leute, die würden für das Wissen darum morden. Einer davon gehört zu dieser Expedition, aber ich bin es nicht. Nach und nach radiert er jeden aus, der davon etwas wissen könnte. Vier hat er schon erledigt, drei sind noch übrig - Johanna, Hakonsen und du.“
„Kannst du mir das nochmal am Seismographen zeigen?“ Thore tat, als dächte er ernsthaft nach.
„Komm mit.“ Joachim Detjen drehte Thore den Rücken zu und schlug den Weg zum Zelt der Wissenschaftler ein. Thore folgte ihm, zog im Gehen den Geologenhammer hervor und verbarg ihn hinter seinem Rücken.
Als sie vor dem Zelt ankamen, bückte sich Detjen und zog den Reißverschluss am Eingang auf. Thore kalkulierte mit dem Überraschungsmoment und damit, dass Detjen hier keinen Kampf riskieren würde, der Mörder hatte bis jetzt immer im Stillen agiert und wenn es Detjen war, würde er jedes Aufsehen vermeiden wollen. Genau in dem Moment, in dem Detjen sich wieder aufrichten wollte, warf sich Thore auf ihn und drückte ihn zu Boden.
„Bist du verrückt?“, ächzte Detjen.
Doch er wehrte sich nicht und Thore zischte: „Kriech ganz langsam auf dem Bauch ins Zelt, keine heftige Bewegung, sonst hau ich dir den Hammer ins Genick. Mit der Spitze ...“
Er gab Detjen frei, blieb aber auf Knien neben ihm und dirigierte den Deutschen im Zelt da hin, wo ein paar Seile neben Ausrüstungsgegenständen lagen.
„Hände auf den Rücken!“ Thore setzte die Spitze des Hammers an Detjens Genick. Es war noch jede Menge Stoff zwischen dem Eisen und Detjens Haut, aber einen Schlag mit Thores massigem Körper dahinter würde er nur unwesentlich abschwächen. Vielleicht hätte Detjen das sogar riskiert, doch die vielen Bekleidungsschichten, die ihn vor dem Erfrieren bewahrten, hinderten ihn aber auch an schnellen Bewegungen und Thore hätte Zeit genug zum Zuschlagen gehabt. Thore hatte keine Ahnung, wie man einen Menschen richtig fesselt, aber er konnte Knoten machen, die ein Schiff am Landungssteg festzurrten und die setzte er jetzt ein.
Schnaufend stand er auf und der zu einem hübschen Paket verschnürte Detjen sagte: „Wenn du mich hier auf dem Boden liegen lässt, bin ich in zehn Minuten erfroren.“
„Wäre auch ne Lösung. Vielleicht nicht mal die Schlechteste“, sagte Thore, prüfte noch einmal die Fesselung, dann ging er zu dem Zelt, dass er sich mit Detjen teilte und holte dessen Schlafsack. Er rollte den Geologen hinein und sagte dabei: „Vielleicht hast du mit allem Recht. Vielleicht auch nicht. Aber du hast bei dem ganzen Wissenschaftsgedöns mir immer noch nicht gesagt, wieso du so verdammt fit bist. Ein Geologe mit Kampferfahrung, hm? Erzähl das meiner Großmutter!“
Er zog den Reißverschluss des Schlafsacks bis oben zu und schob das ganze Paket näher an den Heizbrenner.
„Schlaf gut“, sagte er dabei. „Morgen reden wir alle Tacheles. Wenn ich dann noch lebe.“
Es waren nur Sekunden, die er bis zum Zelt der Hakonsen benötigte. „Komm raus“, brüllte er laut genug, dass es durch die kristallklare, windstille Luft bis zum letzten Zelt des Lager zu hören sein musste. Mit der flachen Hand hieb er auf die bretthart gefrorene Zeltleinwand, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen.
Im Inneren rührte sich nichts. Er ging in die Knie, riss den Eingang auf und brüllte ins Zelt: „Komm raus, sonst zerr ich dich an den Füßen nach draußen.“
„Warten Sie gefälligst einen Moment!“, schnarrte Hakonsen.
Wenig später kroch er heraus. „Was soll das?“ Er zog den Reißverschluss an seinem Parka zu. „Es ist mitten in der Nacht, wir alle brauchen Ruhe und wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns.“
In den anderen Zelten wurde es lebendig. Köpfe tauchten in den Eingängen auf und nicht nur einer maulte über die Störung seines Schlafes durch Thore. Es interessierte ihn nicht, er hatte gewollt, dass sie wach wurden.
„Wonach suchst du hier wirklich?“
„Dafür wecken Sie mich mitten in der Nacht? Haben Sie den Verstand verloren?“ Hakonsen gähnte theatralisch. „Ängström hat es Ihnen erklärt und daran hat sich nichts geändert. Elementares Titan und eine Energiequelle.“
„Du lügst.“
„Ich verbitte mir das!“ Hakonsen richtete sich zu voller Größe auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Meine wissenschaftlich Reputation ...“
„... kannst du dir in deinen Arsch schieben!“
Thore drehte Hakonsen den Rücken zu, so dass er die Männer ansehen konnte, die aus den Zelten lugten. „Alles hier will uns umbringen - die Luft, der Berg, der Boden, sogar die eisige Sonne. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Kälte, die Trockenheit und das Wetter uns den Garaus machen. Vier gute Männer sind elend krepiert und ich will nicht der Nächste sein. Morgen früh marschiere ich zurück zum Basislager. Ich schwöre, dass ich jeden, der mit mir mitbekommt, lebendig da abliefere. Wenn jemand mit Hakonsen hierbleiben will, kann er das gerne tun. Er wird erfrieren, verhungern, vom nächsten Sturm zerfetzt werden oder was auch immer. Zehn Stunden Schlaf ab jetzt. Ihr könnt die Brenner hochdrehen und Euch richtig durchwärmen, in zehn Tagen sind wir im Lager und bis dahin reicht der Brennstoff locker. Gute Nacht!“
Zum ersten Mal während der ganzen Expedition schien es Hakonsen die Sprache verschlagen zu haben. „Das ... das ... können Sie nicht ...“, stotterte er hinter Thore.
Thore fuhr herum. „Vier Männer sind deinetwegen draufgegangen, du dämlicher Wichser! Sie wurden ermordet und wenn ich rauskriege, dass du etwas damit zu tun hast, bist du Nummer fünf! Und ich kriege es raus, verlass dich drauf. Du hast zehn Stunden!“
Hakonsen packte mit beiden Händen Thore an seinem Parka. „Da oben, ich habe es gesehen. Das Tor ist da, verstehen Sie? Wir müssen da rauf, unbedingt! Wir können hier nicht weg!“
„Nimm deine Pfoten weg, oder ich hau dir eine rein.“
„Aber ...“
„Geh mir aus der Sonne!“
Mit dem Unterarm drosch Thore auf Hakonsens Hände. Der Geologe schrie auf und ließ los, Thore drehte sich um, stampfte zu seinem Zelt, holte sich seinen Schlafsack und breitete ihn im Wissenschaftszelt neben dem aus, in dem der gefesselte Joachim Detjen lag. Thore häufte ein paar Instrumentenkisten darauf, so dass er eine Sitzgelegenheit hatte, drehte die Lampe ein wenig heller, holte sein Tagebuch hervor und klappte es auf. Doch er schrieb nicht. Still saß er da und grübelte vor sich hin.
Nach einigen Minuten rührte sich Detjen neben ihm. „Du weißt hoffentlich, dass du dir gerade eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt hast, oder? Wer auch immer die Leute umgebracht hat, kann nicht zulassen, dass du mit dem Rest hier verschwindest. Nicht, bevor Hakonsen gefunden hat, wonach er sucht.“
„Na, wenn sogar du das kapiert hast, wird er mich wohl besuchen kommen. Genau das ist der Plan.“
Ein dumpfes Stöhnen erklang im Schlafsack. „Du Idiot, er wird dich umbringen! Mach mich los, damit ich dir helfen kann.“
„Ich bin zwanzig Kilo schwerer als jeder andere hier, dich ausgenommen. Ich habe einen Hammer, eine ziemliche Wut im Bauch und ich weiß, dass er kommt. Wollen doch mal sehen, wie das ausgeht, wenn er auf einen trifft, der ihn erwartet.“
Thore klappte das Tagebuch zu, legte es beiseite und zog den Reißverschluss von Detjens Schlafsack auf. Er hielt ihm den Geologenhammer vor die Augen und setzte kalt hinzu: „Oder er kommt nicht, weil er schon hier ist. Hier, zu meinen Füßen und ich ihn gerade anschaue. Dann schlage ich dir morgen früh damit den Schädel ein. Ich glaube nicht, dass die Leuten hier besonders traurig darüber sind, wenn sie erfahren, dass du vier von ihnen umgebracht hast.“
Mit einem Ruck zog er den Reißverschluß wieder zu. Er wusste nicht, ob sein Plan funktionieren würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob er dem Mörder, wenn es denn wirklich einen gab und er sich das nicht nur einbildete, gewachsen war. Aber eines wusste Thore genau: Noch konnte er wach bleiben, noch hatte er seine Reserven nicht erschöpft, aber lange würde er nicht mehr durchhalten. Irgendwann musste auch er einmal schlafen und wenn er bis dahin nicht das Problem gelöst hatte, waren sie alle tot. Es wäre dann nur eine weitere gescheiterte Antarktisexpedition gewesen.



Kapitel 10


Nach der Auseinandersetzung mit Thore kroch Johannes wieder ins Zelt. Johanna drehte den kleinen Heizkocher zwischen ihrem und dem Schlafsack von Johannes auf volle Leistung und setzte Teewasser auf. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Vor drei Tagen hatten die Kopfschmerzen begonnen. Mit jedem Meter, den sie dem Berg nähergekommen waren, hatten sie zugenommen und nichts aus ihrer Feldapotheke half dagegen.
Johannes ließ sich auf seinen Schlafsack fallen und legte die Hände auf das Gesicht. Bei jedem anderen wäre es ein Zeichen von Erschöpfung gewesen und dann folgend - Kapitulation. Doch das war ein Irrtum. Was er sich in den Kopf gesetzt hatte, kämpfte er durch und es gab nichts und schon gar keinen Menschen, der ihn davon abhalten konnte. Thore glaubte, dass er Johannes mit dem Rücken an die Wand gestellt hatte, denn der konnte weder alleine hierbleiben noch ohne Ergebnisse zurückkehren, weil Ängström ihn dann in der Luft zerreißen würde. Doch Thore hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie weit Johannes bereit war, zu gehen, um sein Ziel zu erreichen.
Er nahm die Hände vom Gesicht und starrte zur Zeltdecke. „Wejndahl irrt sich. Wir schlafen jetzt noch zwei Stunden, dann gehen wir los. Bevor er wach wird, haben wir den Einstieg gefunden. Ich habe ihn gesehen, bevor der Sturm kam. Knapp dreihundert Meter unter dem Gipfel ist eine absolut rechteckige Form, die nicht natürlich entstanden sein kann und es sah so aus, als führte ein Weg direkt dahin. Genau so, wie mein Vater es beschrieben hat. Wejndahl wird nicht so einfach ohne uns hier abmarschieren. Das traut er sich nicht. Er will nur eine Aktion provozieren.“
Sie spielte mit ihren Haaren. „Wir? Das war nicht so geplant.“
„Der Plan hat sich soeben geändert. Überrascht?“
Sie verzog keine Mine. „Nein.“
Kleine Sauerstoffperlen stiegen in der Kupferkanne auf. Johanna erhob sich auf die Knie, langte nach ihrem Rucksack, holte ein Leinensäckchen hervor und als das Wasser zu brodeln begann, warf sie etwas aus dem Beutel hinein. Mit leerem Blick sah sie zu, wie die Flüssigkeit im Topf langsam dunkler wurde.
„Dein Tee“, sagte sie schließlich.
Er zog die Handschuhe aus, umfasste mit beiden Händen die Tasse und blickte hinein, als schwämme darin sein Orakel. „Es geht doch nichts über ein bisschen Wärme. Bald werden wir sehr viel davon haben. Für immer“, sagte er schließlich und trank.
„Immer ist eine ziemlich lange Zeit.“
Mit der Zunge fuhr er sich über die Lippen. „Der Tee schmeckt seltsam.“
„Wir sind zu Tode erschöpft. Den Aufstieg schaffen wir nicht mehr. Mit dem, was ich dir gegeben habe, hast du ungefähr zwölf Stunden Zugriff auf Reserven deines Körpers, die dir sonst verschlossen sind. Wenn du sie ausschöpfst, brichst du danach allerdings zusammen, also nutze sie mit Verstand. Ich habe es uns in kleinerer Dosierung schon beim Training in der Arktis gegeben, sonst würde es dich jetzt umbringen.“In kleinen Schlucken, leise schlürfend, trank sie ihre Tasse leer. Dann zog sie den Reißverschluss ihres Parkas zu und stand auf.
„Du willst jetzt wo genau hin?“, fragte er.
„Meine Felsenhaken sind im großen Zelt. Wir werden sie brauchen.“
Wieder dachte er intensiv nach, dann huschte ein freudloses Grinsen über seine Lippen. „Erschreck Wejndahl nicht zu sehr, sonst wähnt er sich dem Mörder gegenüber, wenn du so plötzlich erscheinst.“
„Der jedoch nicht kommt, weil er gleich zwei Stunden schlafen und dann einen Berg besteigen wird. Oder irre ich mich?“
Lange sah er sie mit sehr viel Nachdenklichkeit in seinem Blick an. Schließlich erwiderte er: „Länger schon ist mir aufgefallen, dass du dich, seit du im Perverdrin-Labor von Orstchov arbeitest, nicht mehr so sonderlich für mich interessierst. Kaum noch. Das könnte mich tatsächlich auf die Idee bringen, dass du bei Ängströms Party damals dich nur deswegen an mich herangemacht hast. Ich sollte enttäuscht sein. Sollte ich. Aber du warst so ... inspirierend ... Warst du. Hältst du meine Schlussfolgerung für korrekt?“
Lange schwieg Johanna. Sie hielt den Kopf gesenkt und ihre langen roten Haare fielen ihr wie ein Vorhang vor das Gesicht. „Ich dachte damals, dass du ein Mensch wärst wie alle anderen auch, nur intelligenter, zielbewusster ... bis ich begriff, wie sehr ich mich in dir getäuscht hatte. Die Menschen sind dir egal, du interessierst dich nur für einen einzigen und das bist du selbst. Nicht einmal ich habe für dich gezählt. Nur als Wissenschaftlerin und als schöner Schmuck. Du bist kein Mensch, Johannes. Du bist ein ...“
Sie brach ab, krümmte sich zusammen unter einem neuen Anfall ihrer Kopfschmerzen und brach leise schluchzend in die Knie. Johannes erhob sich, wischte ihre Haare beiseite und sah ihr aufmerksam ins Gesicht.
„Wir hätten gar keine Messinstrumente gebraucht“, murmelte er. „Du bist der perfekte Indikator. Ja, Infraschall kann verdammt weh tun, wenn man so ein Sensibelchen ist wie du. Ich merke es auch, aber nur als dumpfen Druck. Ist auszuhalten ...“
Er ließ sie los, legte sich wieder auf seinen Schlafsack und betrachtete sie, wie er auch ein Versuchskaninchen betrachtet hätte. Auch das hatten sie in der Planung dieser Expedition einkalkuliert – Winston, Wennigsen, Bergander und Hakonsen. In Planspielen hatten sie simuliert, was alles geschehen konnte und sie waren sogar so weit gegangen, darüber nachzudenken, was die „andere Seite“ hätte tun können. In einer Simulation war auch die Wahrscheinlichkeit erwogen worden, dass die Menschen der anderen Erde auf der anderen Seite des Tores schneller gewesen waren und das Tor gesichert hatten. Sie hatten nicht nach den Gründen gesucht, einfach nur die Möglichkeit in Betracht gezogen und für Hakonsen sah es so aus, als sei genau dieser Fall eingetreten. Das, was Sven gefunden hatte, konnte für Hakonsen Teil dieses Sicherungsmechanismus sein. Vielleicht wollten die Menschen auf der anderen Erde keinen Besuch. Genau würde er das erst wissen, wenn er vor dem Tor stand. Was bedeutete, dass er genau das tun musste – den Aufstieg wagen, bevor Thore die Expedition unverrichteter Dinge wieder zurückführte.
Es dauerte Minuten, bis Johanna sich wieder beruhigte. Dann wischte sie sich die Tränen ab, band mit zitternden Händen ihre Haare nach hinten und setzte sich wieder auf.
„Du bist ein Monster“, sagte sie und es klang unsäglich müde.
Kühl entgegnete Johannes: „Das zu glauben, sei dir freigestellt. Ich möchte dich jedoch darauf hinweisen, dass kein hinlänglicher wissenschaftlicher Beweis existiert, dass Intelligenz, weiche Haut, verführerische Stimme, funkelnde Augen, Schmerzempfinden und logisches Denkvermögen; ja selbst deine Fähigkeit zu Mitgefühl und Liebe genügen, um der Definition ‚Mensch‘ gerecht zu werden. Hingegen ist es völlig ausreichend, von eben diesen gezeugt und geboren worden sein. Meine Eltern waren Menschen und damit bin auch ich es Zeit meiner Existenz, selbst wenn keine der von mir vorgenannten Eigenschaften zutreffend sind oder ich es für notwendig erachte, sie im Laufe meines Lebens in ihr Gegenteil zu transformieren, weil sie ein Ballast sind, auf den ich gut verzichten kann. Verzichten kann. Denken, Fühlen oder Handeln – wird völlig, zumindest für diese Einstufung – überbewertet. Egal wie edel, aufopfernd und selbstlos jemand zu sein versucht - ich bin Mensch durch Geburt und das wird sich niemals ändern.“
Kurz und trocken lachte er auf. „Ich werde sowieso nie begreifen, was du an diesen bornierten Affen findest. Sie sind alle dumm und deshalb so einfach zu manipulieren. Tatsächlich habe ich meine Kollegen nicht umgebracht. Dafür hat Ängström Gunnar Sörensen mitgeschickt, irgend so einen Spezialsoldaten. Für alle speziellen Fälle gibt es immer irgendwo einen Soldaten, der Spaß daran hat, andere umzubringen oder es um der Ehre willen tut. Manche tun es auch für Medaillen oder für einnen feuchten Händedruck und fühlen sich gut dabei. Ich glaube sogar, dass es noch einen unter den Trägern gibt, von dem nicht einmal ich weiß. Ist mir auch egal, solange sie sicherstellen, dass ich der Einzige bin, der durch das Tor gegangen ist und den Weg dahin kennt. Sogar Ängström haben ich dann. Das Leben kann so einfach sein, wenn man den Mut hat, alles bis zu Ende zu denken.“
Er drehte sich auf die linke Schulter und kurz darauf wurden seine Atemzüge lang. Leise stand sie auf und streckte die Hand nach dem Reißverschluss des Eingangs aus, da sagte er so leise, als spräche er im Halbschlaf: „Du inspirierst mich tatsächlich immer noch. Meine Rede war so gut, ich hätte sie fast selbst geglaubt. Du natürlich nicht, dazu kennst du mich zu gut.“
„Warum nimmst du mich dann mit?“
Er drehte sich wieder zu ihr herum und die Kälte in seinen Augen war schlimmer als die minus vierzig Grad oder mehr draußen. „Weil ich dir nicht traue. Du könntest dich in meiner Abwesenheit zu einer meinen Absichten nicht förderlichen Handlung hinreißen lassen. Könntest du und ich will Sörensen nicht in Versuchung bringen. Tatsächlich hänge ich an dir und außerdem stünde es mir nicht gut, wenn meine Frau bei dieser Expedition umkäme. Aber du hast ein Herz für diese ganzen Idioten um uns herum, und so kann ich dich beruhigden – Thore wird nichts passieren, ich brauche ihn noch für den Rückweg. Aber genau deswegen pass gut auf: Wenn ich in spätestens einem Monat nicht wieder gesund und bei bester Laune, weil erfolgreich, auf dem Schiff bin, werden sie alle sterben. Du als Letzte, damit du es noch sehen kannst. Du solltest also da oben gut auf mich aufpassen, wenn du nicht für ihren Tod verantwortlich sein willst. Vor allem aber keinen Fehler machen, wenn du jetzt hinausgehst. Schach matt, meine Liebe und jetzt muss ich noch ein bisschen schlafen.“ Johannes drehte sich zur Seite und schloss die Augen.
An so manchen kalten Abenden in ihren ersten gemeinsamen Jahren in Oslo hatten sie Schach gespielt. Nicht weniger intelligent als er, hatte sie ihn ein ums andere Mal mit einer Waffe geschlagen, die er nicht besaß und der sein, wenn auch genialer Verstand alleine hoffnungslos unterlegen gewesen war - der Verbindung zwischen ihrem bewussten und unterbewusstem Denken - ihrer Intuition. Irgendwann hatte sein verletztes Ego dafür gesorgt, dass das Schachbrett zu Hause ungenutzt verstaubte und nichts daraus gelernt. Sie schon.
Scheinbar ruhig und ohne jeden Widerspruch kroch sie hinaus und lief zum Forschungszelt. Thore schlief, seine Hand mit dem Bleistift noch immer auf dem roten Tagebuch. Sie nahm ihm den Bleistift aus der Hand und schrieb dann in Druckbuchstaben auf die letzte von ihm begonnene Seite: „Mörder Sörensen; wartet zehn Stunden auf mich, nicht länger. Nicht zum Schiff zurück, andere Station suchen.“
Dass sie Sven damit zum Tode durch die Hand Thores verurteilt hatte, wusste sie nicht.

Fünf Stunden später heulte Joanna plötzlich ein scharfer Wind ins Gesicht. Sie blieb so abrupt stehen, dass Johannes gegen sie rannte. Bis hierhin war sie vorangegangen, weil sie die erfahrenere Alpinistin war und je höher sie gekommen waren, umso mehr hatten ihre Kopfschmerzen nachgelassen. Mittlerweile waren sie ganz verschwunden. Sie waren knapp vierhundert Meter unter dem Gipfel und hatten Glück mit dem Wetter gehabt. Es hatte nur ein laues Lüftchen geweht, was zwar bei mehr als minus fünfzig Grad hier oben immer noch schlimm genug war, aber sie hatten es aushalten können, weil sie in Bewegung geblieben waren.
„Weiter!“, zischte er.
Sie rührte sich nicht. Vor ihr lag ein Weg unter einem Überhang, fast schon ein Tunnel, und er sah aus, als hätte ein Riese mit einer gigantischen Axt eine schräge Kerbe in den Berg geschlagen. Gerade breit genug, dass sie nebeneinander gehen konnten, war der Felsen so eben und glatt, dass er nur maschinell bearbeitet worden sein konnte und die schwarzen, wie glasiert wirkenden Felswände zeigten im Gegensatz zum Gestein fünfhundert Meter tiefer nicht die kleinsten Anzeichen von Verwitterung.
Spätestens hier hätten sie sich fragen müssen, warum jemand, der nach Hakonsens Ansicht das Tor verschlossen hatte, einen solchen Weg nach unten wie eine Einladung zum Besuch hätte anlegen sollen und ob es nicht noch eine Variante in ihren Planspielen gab, an die sie nicht gedacht hatten. Doch sie waren in der Menschfalle gefangen, sie sahen nur das, was sie sehen wollten. Unfähig, ihr Ego aus der Gleichung herauszuhalten; unfähig, etwas ohne ihre Icherfahrungen zu betrachten, waren sie selbst es, die die Gleichung unlösbar machten und wie alle Menschen verflucht, bis ans Ende ihrer Existenz mit verbundenen Augen in der Dunkelheit ihres Nichtwissenwollens herum zu tapsen und niemals ans Licht zu finden. Dabei hatten alle Karten auf dem Tisch gelegen - der Sturm, das Erdbeben, die Gerölllawine, das wie leergefegt wirkende Plateau und der erosionslos verwitterte Fels. Am nächsten war Sven noch der Wahrheit gekommen und hatte es als das interpretiert, was es auch war - eine Warnung, nicht weiterzugehen. Auch Thore hatte nur das gesehen, was er hatte sehen wollen und Johannes nur das, was er haben wollte. Aber auch Johanna stülpte ihren brennenden Wissensdurst über die Realität und ignorierte die Warnungen, die wenigstens sie hätte verstehen müssen, wenn schon niemand sonst es tat.
Johannes stieß sie in den Rücken. „Geh schon! Wir erfrieren sonst!“
Sie setzte einen Fuß auf den schwarzen Felsboden und besiegelte damit das Schicksal der Expedition. Wie gestern lag plötzlich ein leises Grummeln in der Luft, der Felsboden begann fast unmerklich unter ihren Füßen zu vibrieren und aus dem einen scharfen Windzug wurde ein heftiger Wind, der von Sekunde zu Sekunde zunahm. Vielleicht einhundert Schritte kämpften sie noch dagegen an und schließlich war es Johannes, der stehenblieb.
„Was wird das?“, rief er und zeigte mit dem Finger nach oben.
Wolken rasten von allen Seiten heran, Wolken, die es hier gar nicht geben durfte in einer Luft, in der es kein Mikrogramm Wasserdampf gab.
Sie riskierte einen Blick nach oben, dann musterte sie den Fels nach Rissen, an denen sie sich und ihn sichern konnte, aber die Wände waren so glatt und fugenlos, als wären sie poliert worden. Die Luft jagte jetzt so scharf durch den Tunnel, dass sie nur noch gebückt halbwegs sicher stehen konnten und es wurde immer dunkler. Trotzdem klinkte sie sich aus dem Sicherungsseil, presste sich mit dem Rücken an die Wand und glitt an ihr voran. Gut zwanzig Schritte weiter fand sie tatsächlich einen wenn auch nur zentimeterbreiten Spalt und winkte Johannes, zu ihr zu kommen.
Er machte einen Schritt, da zerriss ein Blitz die Dunkelheit. Für einen Sekundenbruchteil wurde es gleißend hell; fast unmittelbar folgte ein Donnerschlag, und der Berg erbebte, als hätte ihn ein gigantischer Hammer getroffen; dann ein Laut wie von einer gigantischen Turbine; die auf ihre Höchstdrehzahl gebracht wird, immer höher stieg er, wurde zu einem Pfeifen und verschwand dann schließlich irgendwo jenseits ihres Hörbereichs.
„Ich verstehe nicht ...“
Die heulende Luft riss ihm die Worte vom Mund. Wie sie zuvor, presste er sich an die Wand und glitt daran entlang, bis er neben ihr stand. Sie hämmerte die Felsenhaken in die Wand und seilte ihn und sich an. Er versuchte, ihr zu helfen, aber mit seinen zitternden Hände bekam er nicht einen Knoten zusammen. Gerade, als sie den letzten Haken einschlug, wurde es still und totenbleich im Gesicht starrte Johannes zu ihr herüber.
Eine einzelne Träne rannte ihre Wange herab und sie lachte bitter. „Wir scheinen hier nicht erwünscht zu sein. Halt still!“
Mit einem Ruck zog sie den letzten Knoten an seinem Geschirr fest, da jagte ohne jede Vorwarnung ein mörderischer Windstoß durch den Gang, riss ihnen die Füße weg und knallte sie wie ein Pendel an ihren Sicherungsseilen mit Urgewalt gegen die Felsendecke des Überhangs.

Unten im Lager war es dieser erste Donnerschlag, der alle aus dem Schlaf riss. Am schnellsten war Thore auf den Beinen und was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Schmutzig graue Wolken umkreisten die Spitze des Berges, schoben sich dabei in- und übereinander und nur direkt um den Gipfel war noch ein schmaler Spalt des Himmels zu sehen. Giftig violett geisterten Blitze darin wie Elmsfeuer hin und her, lautlos und gespenstisch. Erste Windböen rauschten heran, pfiffen ihnen um die Ohren und wurden von Sekunde zu Sekunde heftiger.
Thore brüllte dagegen an, was seine Lungen hergaben: „Hier bricht gleich die Hölle los! Alles in die Klamm!“
Gestern noch hatte er es für einen Fehler gehalten, aber das, was sich da oben am Berg abspielte und von Sekunde zu Sekunde unheimlicher wurde, ließ ihn seine Meinung ändern. Er rannte zurück ins Zelt, riss Svens Schlafsack auf und schnitt ihm die Fesseln durch.
Sven war starr vor Kälte und mit wilden Armbewegungen versuchte er, das Blut in seinem Körper wieder zum Zirkulieren zu bringen. Thore verpasste ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn taumeln ließ. „Lauf!“
„Und du?“
„Lauf!“
Sven rannte los. Er war der Letzte, alle anderen waren schon unterwegs. Thore griff nach seinem Tagebuch, verstaute es unter seinem Parka und sprang nach draußen. Diesmal zählte er die rennenden Gestalten. Weder Johannes noch Joanna waren unter ihnen. Er spurtete die paar Schritte zum Zelt der Hakonsens und riss mit einem Ruck den Eingang zur Seite. Es war leer.
„Johanna!“
Er richtete sich wieder auf, drehte sich zum Berg und stemmte sich gegen den Sturm. Eine Windbö heulte heran, zerfetzte die Haut des Zeltes, ließ nur die Stangen stehen und wieder krachte ein Blitz in die Bergspitze. Die elektrische Megaentladung riss für einen Moment den Wolkennebel auf und gab den Blick auf die riesige schwarze Windhose frei, die darunter rotierte. Der nächste Blitz schlug ein, fast unmittelbar darauf krachte der Donner und alleine der Schalldruck war so heftig, dass Thore in die Knie ging. Mit aller Kraft klammerte er sich an den Mittelpfosten des Zeltes, zog sich wieder in die Höhe und reckte voller Trotz seine Faust in den in tiefstem Violett tobenden Himmel.

Für die Hakonsens hatte sich der Windstoß wie eine Faust aus Luft angefühlt. Aber die Haken hatten gehalten und ihre dicken Sachen hatten das Schlimmste verhindert, als sie gegen den Felsen geschleudert worden war. Nur noch an den Seilen hängend, ignorierte Johanna den scharfen Schmerz in ihrem Brustkorb, streckte den Arm nach dem letzten Karabinerhaken aus, erwischte ihn und klinkte ihn ein. Mit aller Kraft zog sie ihre Seile nach, bis sie kaum noch atmen konnte, machte sich klein, um dem nächsten Angriff kein Ziel zu bieten, und schrie Johannes durch das Inferno der entfesselten Luft zu: „Halt dich fest! Wenn nicht mehr kommt, schaffen wir das!“
Doch es kam mehr. Nur vielleicht dreihundert Kilometer pro Stunde schnell, war die erste Bö nicht mehr als der Vorbote gewesen. Sie war direkt von oben gekommen und hatte die beiden nur gestreift.
Die zweite Bö nahm einen anderen Weg. Sie war nicht viel langsamer als ihr eigener Schall und Johanna und Johannes hörten sie nicht einmal mehr kommen. Als hätte sie einen eigenen Verstand, jagte sie durch die Schlünde im Berg; wurde dabei zusammengepresst, setzte ihre gigantische Kraft in Geschwindigkeit um und traf Johanna und Johannes mit der Kraft einer Dampframme. Sie wurden aus ihren Seilen gefetzt, als wären es nur Spinnenweben, davongetragen und nach einem ewig scheinenden Flug an einem Abhang fallengelassen. Sie rollten ihn noch gut zwanzig Meter hinab, bevor sie zur Ruhe kamen. Es dauerte Minuten, bevor sie wagten, sich zu bewegen und als sie es dann taten und sich anblickten, sah der eine in den Augen des anderen das gleiche Nichtverstehen.
Gunnar Sörensen fehlten nur noch ein paar Schritte bis zur rettenden Klamm, als er im Laufen mit fürchterlicher Gewalt gepackt und gegen die Felsen geschleudert wurde, direkt neben dem Eingang. Seinen Todesschrei verschluckte das Brüllen der entfesselten Luft.
Zu Thore war der Tornado gnädiger. Er wurde vom Boden emporgerissen, davon gewirbelt wie die Hakonsens vor ihm und nur wenige Meter vor dem Eingang der Klamm unverletzt fallengelassen.
Stunde um Stunde mussten sie ausharren, bis sich die Atmosphäre wieder beruhigte. Aber auch dann war es noch nicht vorbei. Nach dem Tornado schickte der Berg Schnee, vielleicht den ersten hier seit Jahrhunderten. Er fiel in großen, dicken Flocken und als die Sonne endlich wieder durchbrach, beschien sie eine weiße Landschaft, die aussah, als läge ein Leichentuch darüber. War der Weg zum Mount Kirkpatrick bis dahin schon schwierig gewesen, so war er jetzt tödlich. Wenn man ihn denn überhaupt noch fand.





Kapitel 11

„Das Unwetter tobt mit ungebrochener Kraft weiter

und das Schneegestöber, in das sich jetzt auch
Hagel mischt, ist dichter denn je. All die
Eigenschaften, die ich bei einem Mann am
höchsten schätze, treten bei dieser Gelegenheit
klar zutage.“

Roald Amundsen (auf dem Weg zum Südpol)


Irgendjemand rüttelte ihn wach und Sven sah in blaue Augen, in denen der Schalk blitzte.
„Hast genug geschlafen, würde ich sagen.“ Halvor Granerud reichte ihm einen Teller mit dampfender Suppe. „Iss mal was, dann sortier deine Knochen. Ist herrliches Wetter draußen.“
Sven richtete sich auf und unterdrückte nur mit Mühe einen Schrei. Sein ganzer Körper schien nur aus Schmerzen zu bestehen und Granerud grinste. „Geht vorbei. Johanna meint, du hast das von allen am Besten überstanden. Nicht mal ne Erfrierung haste dir geholt.“
„Johanna?“
„Jo. Ist ein Wunder, die Kleine. Ein perpetuum mobile, irgendwie. Hätte genau so erledigt sein müssen wie ihr, aber ist nicht tot zu kriegen. Hat sich noch jeden von euch vorgenommen, bevor sie schlafen gegangen ist. Hat sich mit Thore gestritten, dass es durch das ganze Lager geschallt hat, weil der sich nicht von ihr untersuchen lassen wollte. Ihr Macker, der Hakonsen, kriegt dagegen keen Wort mehr raus. Sieht aus, als wenn ihm der Heilige Geist begegnet wäre. Jetzt pennt er immer noch, aber ich habe keine große Hoffnung, dass das so bleibt. Pass mal auf, wenn er wieder aufwacht, textet der uns wieder zu.“
Sven nahm einen Löffel Suppe und die Hitze der Flüssigkeit schien ihm schier den Magen zu verbrennen. Dann wurde es erträglich, breitete sich aus und ihm wäre fast der Löffel aus der Hand gefallen, so intensiv das, was er so lange vermisst hatte: Wärme. Wärme von innen ...
Granerud klopfte ihm grinsend auf die Schulter. „Komisches Gefühl, hm? Wenn du fertig bist, hau dich wieder hin. In zwei Tagen marschieren wir ab, bis dahin musst du wieder fit sein.“
Sven verschluckte sich an dem nächsten Löffel und verschüttete die Hälfte. „Thore?“
Wie weggewischt verschwand jedes Lachen aus dem Gesicht Graneruuds. Nicht einmal der wuchernde Vollbart konnte seine tiefe Sorge verbergen. „Sieht nicht so gut aus. Hat sich nur ein paar Stunden Schlaf gegönnt. Hustet viel, aber geht jedem auf den Nerv mit den Vorbereitungen für den Rückmarsch. Wenn er so weiter macht, werden wir ihn auf einen Schlitten binden müssen, weil er nicht mehr kann. An allem hat er zu meckern, nix ist ihm gut genug. Lässt auch nicht mit sich reden, der Mann. Als ich ihn gefragt habe, wann er denn mal schlafen will, sah er mich an, als wollte er mir eine reinhauen.“
Thore, festgebunden auf einem Schlitten und zur Küste transportiert wie ein erlegter Eisbär? Niemals würde der das mit sich machen lassen. Sven dachte an die Nacht im Wissenschaftszelt und es war wie ein neuer Wärmeschub von innen. Doch diesmal kam er nicht aus dem Magen, eher von da, wo das Herz sitzt. Thore hatte gedroht, ihn umzubringen, und trotzdem hatte er sich in jener Nacht ... beschützt ... gefühlt?
Er dachte an den Hünen. „Nein, lässt er nicht.“
Granerud nickte, und er sah nicht glücklich aus dabei. „Ich geh dann mal. Ruf, wenn du was brauchst.“
Bleib einfach hier sitzen. Sei einfach nur da, ich will nicht alleine sein, hätte Sven am liebsten gesagt. Stattdessen nickte er dem langen Stellvertreter Thores nur stumm zu. Es wäre eine Schwäche gewesen und die gestand Sven sich nicht zu. Er ließ sich zurücksinken, starrte die Zeltleinwand an über sich und genoss die so lange vermisste Wärme.
Es war so leicht gewesen, wichtig zu tönen: „Es war eine Warnung“. Was es wirklich bedeutete, war selbst ihm nicht klar gewesen und schon gar nicht, was für Konsequenzen daraus erwachsen würden. Zusammen mit den anderen hatte er sich in der Klamm verkrochen, über ihm hatte die erboste Luft getobt, kübelweise Schnee hereingeweht und die Kälte war nicht nur von außen gekommen. Etwas in ihm war zu Eis erstarrt, als der Monstersturm Sörensen gepackt und direkt neben ihm gegen den Fels geschleudert hatte, als wäre es Absicht gewesen wo hingegen Thore so weich abgesetzt worden war, dass er von dem Aufprall wahrscheinlich nicht einmal einen einzigen blauen Fleck davongetragen hatte. Etwas von dem Eis fühlte Sven noch immer in sich und er wusste, was es war – das Echo seiner Schwäche. Er hatte sich aufgegeben, hatte Christian aufgegeben und da war keine Entschuldigung, die Sven für sich akzeptierte.
Er wusste, dass er einen Sturm erlebt hatte, der keiner gewesen war. Was aber dann, darüber wagte er nicht einmal, nachzudenken. Ohnehin sah es auch nicht danach aus, als würde er noch lange darüber grübeln können, denn sie waren tot. Der Ausgang der Klamm war durch meterhohen Schnee verstopft und draußen würde es nicht viel besser aussehen. Nichts als ihr Leben hatten sie gerettet, hatten alles stehen und liegen lassen und waren gerannt, als sei der Teufel hinter ihnen her gewesen. Vielleicht war er es auch und es konnte gut sein, dass es noch nicht vorbei war. Vielleicht wartete er nur darauf, dass sie sich aus den Felsen heraus gruben, die freie Fläche betraten, um dann wieder zu zuschlagen ... sie waren tot, auch wenn sie noch atmeten. Sie waren nicht dafür ausgerüstet, sich tagelang durch meterhohen Pulverschnee bis ins Basislager zu kämpfen. Den Weg zurück würden sie nie schaffen ... nicht in dieser mörderischen Kälte, über Berge voller tückischer Spalten und Abgründe; in einem Gebiet, in dem der nächste Sturm jederzeit weitere Opfer fordern konnte, zehn Tagesmärsche entfernt von jeder Hilfe. Genau genommen wollte er es auch nicht mehr. Er wollte gar nichts mehr, nur, dass dieser kalte Schmerz, der er war, endlich aufhörte.
Ein paar Meter weiter grub sich Thore aus einem weißen Haufen. „Ihr denkt, ihr seid erledigt.“ Theatralisch klopfte er sich den Schnee von seiner Kleidung und in seinem ausgemergelten Gesicht leuchtete ein wölfisches Glitzern. „Aber ich gebe einen Scheiß drauf, was ihr denkt. Wir graben uns raus, kratzen an Vorräten zusammen, was wir noch finden und gehen zurück. Und wenn wir dabei auf allen Vieren kriechen müssen, werden wir das tun und wenn wir jemanden schleppen müssen, werden wir auch das aushalten, aber ich lasse hier keinen mehr verrecken. Rasten wir, dann wie die Pinguine. So dicht wie möglich aufeinander. Keine Extratouren mehr, keiner sondert sich ab, jeder passt auf den anderen auf. Redet nicht, macht keine unnütze Bewegung und spart jedes bisschen Energie. Wenn jemand von euch aufgibt, bevor ich ihn im Basislager abgeliefert habe, reiße ich ihm den Arsch auf.“
Er rüttelte, trat und wenn es sein musste, prügelte er sie sogar aus ihrer Lethargie. Obwohl selbst längst über das hinaus, was ein menschlicher Körper zu leisten imstande sein sollte, brachte er sie tatsächlich wieder in Bewegung.
Sie gruben sich einen Weg aus der Klamm durch den Schnee, wühlten am ehemaligen Platz ihres Lagers, um etwas zu finden, dass ihre Qual verlängern konnte: Lebensmittel, Brennstoff, Überreste der Zelte – alles war von unschätzbarem Wert. Sörensen begruben sie nicht einmal mehr. Sie ließen ihn einfach liegen, dort, wo er gegen den Felsen geschleudert worden war. Irgendwann stießen sie auf die Hakonsens. Johanna stützte ihren Mann, seine Augen waren ohne Glanz, jeder seiner Bewegungen sah Sven die gleiche totale Erschöpfung an, die auch er spürte und deshalb fragte er sich auch nicht, woher Johanna noch die Kraft nahm, Johannes durch den Schnee zu schleppen.
Auf dem Hinweg hatten sie zehn Tage für den Weg vom Basislager bis hierher benötigt, für den Rückweg brauchten sie dreizehn. Thore gönnte ihnen nie mehr als zwei Stunden Pause, weil sie nicht genug Brennstoff hatten, um sich vor dem Erfrieren zu schützen, wenn sie sich nicht bewegten. Wie auch auf dem Hinweg war er überall, suchte vorne nach dem Weg, ließ an schwierigen Stellen die anderen passieren, ging dann nicht eher weiter, als bis der Letzte an ihm vorbei war und Sven fragte sich mehr als einmal, woher der Mann noch die Energie dafür nahm.
Als dann das Basislager in Sicht gekommen war, hatte Sven nicht einmal mehr die Kraft gehabt, sich zu freuen. Wie die anderen war er stumm und mit hängendem Kopf einfach weiter getrottet, irgendjemand hatte etwas gerufen, er hatte es nicht verstanden. Dann waren ihm die Sachen vom Leib gerissen worden, wie ein Blitzstrahl aus Eis hatte die Kälte ein letztes Mal zugebissen, dann war es warm geworden, unglaublich warm und schließlich war es dunkel geworden.

Als Sven das nächste Mal aufwachte, blickte er in die fiebrigen Augen von Thore. „Zieh dich an. Wir machen einen Spaziergang“, brummte der alte Antarktisführer.
Nach Svens Uhr war es mitten in der Nacht. Er schlüpfte in seine Sachen, dann kroch er nach draußen. Seit dem Aufbruch vom Mount Kirkpatrick hatte er kein persönliches Wort mehr mit Thore gesprochen, der hatte befohlen und Sven hatte wie alle anderen nur gehorcht. Weil Thore sein Wort gegeben hatte, sie alle lebendig zurück zubringen und Sven gewusst hatte, dass, wenn es einen Menschen gab, der das Unmögliche vollbringen konnte, es Thore Wejndahl war.
Der wartete vor dem Zelt, einen vollgepackten Rucksack auf dem Rücken, Skier und Stöcke in der Hand und sah aus, als wollte er auf einen langen Marsch gehen. Wortlos drehte er sich um und ging Sven voraus auf dem gleichen Weg, den sie vor zweieinhalb Tagen ins Lager getorkelt waren. In den Zelten war es ruhig, alles schlief und auch die Hunde nahmen nur mit einem Augenblinzeln Notiz von ihnen.
Als sie außer Sicht- und Hörweite des Lagers waren, holte Thore eine Karte hervor. Er hustete, und ein paar Tropfen hellrotes Blut färbten den Schnee vor seinen Füßen.
„Thore, du ...“
„Halt die Klappe!“ Er hustete noch einmal und machte mit dem Arm eine weitausholende Bewegung. „Schau dich um. Schnee, Eis, Berge und die kalte Sonne. Wir gehören nicht hier her, zerstören eine Welt, weil wir sie nicht verstehen, nicht mal verstehen wollen. Ich bin nur ein alter Antarktiskapitän, Joachim. Mein Schiff ist angeschlagen und mein letzter Hafen ist irgendwo da draußen. Ich hab schon gewusst, dass es meine letzte Fahrt wird, als ich in Oslo aufgebrochen bin.“
Keuchend holte er Luft, dann sprach er weiter: „Hab keine Kraft mehr für langes Quatschen. Hier draußen erkennt man schnell, wer was taugt. Keine Ahnung, wer du bist, aber du gehörst nicht zu Hakonsen, sonst hätte er dich nicht auf dem Kiecker. Sieh zu, dass du wegkommst. Hier.“
Er hielt Sven die Karte hin. „Ungefähr drei Tagesmärsche von unserem Landungspunkt, immer an der Küste entlang. Da ist eine alte Station der Australier. Ich hab den Weg eingezeichnet. Nahrung ist da eingelagert und wenn du Glück hast, auch ein Funkgerät. Setz dich ab, kurz bevor ihr die Küste erreicht. Sie teilen nicht. Hakonsen hat hier was gefunden. Auch wenn er nicht reingekommen ist. Wenn er sich wieder erholt, wird er wiederkommen und dann mit Gewalt. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass sie alle umbringen, die dabei waren, aber irgendeine Schweinerei haben sie garantiert ausgebrütet.“
Ächzend schnallte er sich die Skier an und hielt sich dabei an Sven fest. Als er fertig war, öffnete er seinen Parka und reichte Sven ein in rotes Leder eingeschlagenes Buch. „Ich brauch es wohl nicht mehr. Weiß nicht, von wem der letzte Eintrag darin ist. Ich tippe auf Johanna. Hab ein Auge auf sie. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Wir Männer waren am Ende, aber sie hat das alles überstanden, als wäre es ein Sommerspaziergang gewesen.“
„Aber ...“
„Ruhig, ganz ruhig. Es ist gut so, wie es ist.“ Der alte Antarktisführer klopfte Sven auf die Schulter. „Quatsch jetzt bloß nich noch irgendwelchen Scheiß.“
Er stapfte davon, ein wenig gebückt, ab und zu hustend. Immer kleiner wurde seine Gestalt und irgendwann verschwand sie in dem leichten Schneetreiben, das jetzt einsetzte. Er ging den Weg, den sie vor ein paar Tagen gekommen waren und der führte nirgendwo anders hin als zurück in die Hölle, aus der er sie herausgeholt hatte - zum Mount Kirkpatrick.



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