Svensson: Auch Götter machen Fehler (Teil 2)

ArneSjoeberg

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Teil 1 hier

Ohne Antwort lässt sie ihn stehen, geht die paar Schritte, entriegelt die Tür, lässt sie einen Spalt offen und dreht sich um.
Christian Oldenburg schläft auf dem Rücken. Er hat ein kantiges Gesicht mit einem fast quadratischen Kinn und einer sichtbaren Grube darin. Die Nase ist kräftig und die Stirn hoch, Schweiß perlt auf ihr. Dreiundzwanzig Jahre ist er alt und sein Gesicht scheint festgefügt und unabänderlich, als hätte das Leben darin schon alles abgeschliffen, was es abzuschleifen gilt. Totenblass spannt die Gesichtshaut über spitz hervorstehenden Wangenknochen, eine Narbe in frischem Rot auf seiner linken Wange windet sich in Richtung Mundwinkel. Tief und gleichmäßig, aber sehr langsam atmet er und selbst im Schlaf sieht er noch nach Kampf aus. In beide Armbeugen hat man ihm Zugänge gelegt, in den linken läuft eine Flüssigkeit aus einem Tropf, der Port in seiner rechten Armbeuge ist verschlossen.
Über seinem Stahlrohrbett ist ein Fenster ohne Griff, dafür mit einem Gitter davor, daneben ein Nachtschrank mit zerkratzter Oberfläche, ein leerer Stuhl und ein Blechschrank mit einer Delle in der Tür. Irgendwo tropft Wasser in ein Waschbecken, es stinkt nach einer Mischung aus Desinfektionsmitteln, kaltem Kantinenessen und Urin.
Am Fußende des Bettes hängt ein Klemmbrett mit der Patientenakte. Sie blättert mit einer Hand darin, dann stellt sie ihr Tablett auf den Nachtschrank und zieht sich den Stuhl neben das Bett. Aus ihrer Kitteltasche holt sie ein Paar Operationshandschuhe, streift sie über, entnimmt ihm über den Port in seiner rechten Armbeuge eine Ampulle Blut und jeder Handgriff sitzt. Dann zieht sie die Handschuhe wieder aus, lässt sie zusammen mit der Ampulle in ihrer Kitteltasche verschwinden, nimmt das Tablett mit ihren Utensilien und geht zur Tür. Ein Ohr am Spalt zwischen Tür und Rahmen, greift sie nach der Türklinke.
Christian sagt etwas im Schlaf, nicht zu verstehen ist es und mitten in der Bewegung verhält sie, dann dreht sie sich um. Schweiß fließt von seiner Stirn, mehr als noch vor wenigen Minuten und etwas davon rinnt ihm in die Augenwinkel. Sie zögert, lauscht noch einmal an der Tür, dann geht sie zum Waschbecken, feuchtet ein Handtuch an und wischt ihm den Schweiß von der Stirn. Mehrmals tut sie das und jede Bewegung ist ein wenig langsamer als die vorhergehende. Plötzlich rutscht sein linker Arm von der Bettkante, fällt dabei gegen ihr nacktes Knie, nur eine winzige Berührung, wenige Quadratmillimeter Haut, unbewusst, niemals gewollt, im Tiefschlaf und doch geschieht etwas mit ihr. Halb über ihn gebeugt, hält sie den Atem an, jeder Muskel ist angespannt, als wollte sie weglaufen und könnte es doch nicht. Dann, wie in Trance, als sei es gar nicht ihr Wille, kommt ihre Hand hoch, streift mir dem Rücken seine Wange und bleibt mit der Fläche auf der Stirn liegen. Sie schließt die Augen.
Lange Sekunden steht sie in dieser unmöglich angespannten Position, dann schüttelt sie den Kopf wie ein angeschlagener Boxer, richtet sich auf und öffnet erst jetzt wieder die Augen, richtet sie auf Christians Gesicht und in ihrem Blick ist nichts als ungläubiges Staunen.
Auf dem Flur ertönt ein leises Geräusch. Sie springt zur Tür, lauscht, aber da ist niemand. Sie schleicht die zwei Schritte zurück an das Fußende von seinem Bett, greift nach der Akte und blättert sie durch, Blatt für Blatt – mehrmals wieder zurück und wieder vor. Dann lässt sie sich auf den Stuhl fallen, stützt die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel und verbirgt den Kopf in ihren Handflächen.
Minuten müssen vergangen sein, bis sie sich wieder aufrichtet. Sie greift nach den Utensilien, die sie mitgebracht, aber nicht benötigt hat und nimmt sich selbst Blut ab. Fahrig wirkt das plötzlich, hektisch und der Gegensatz zu ihrer vorherigen Professionalität ist unverkennbar. Sie nimmt sich nicht einmal Zeit, den Gummischlauch an ihrem Oberarm zu lösen, als die Ampulle gefüllt ist, springt auf, stoppt den Zulauf des Schlafmittels in seiner linken Armbeuge, entfernt den Schlauch von seinem Port und injiziert ihm stattdessen - zweimal muss sie dabei ansetzen, so zittern ihre Hände – das Blut, das sie sich eben selbst abgenommen hat. Immer wieder gehen ihre Blicke dabei zur Tür. Die Ampulle wird leer, sie verbindet den Infusionsschlauch wieder mit dem Port, da verzerrt sich plötzlich Christians Gesicht. Er krampft die Hände in das Bettlaken, biegt den Rücken in einem unmöglichen Winkel durch, bis nur noch Fersen und Kopf den Körper stützen und reißt den Mund auf zu einem Schrei. Sie wirft sich auf ihn, mit ihrem ganzen Körpergewicht, presst ihm beide Hände auf den Mund, er wirft den Kopf hin und her, doch sie ist kräftig, er im Tiefschlaf und so dringt nur noch ersticktes Stöhnen unter ihren Händen hervor. Einmal noch bäumt er sich gegen sie auf, dann fällt er zurück und erschlafft.
Stimmen erklingen auf dem Flur, nicht nur ein einzelnes Geräusch wie vorhin, schwer atmend richtet sie sich auf und der Blick, den sie zur Tür wirft, wirkt gehetzt. Einmal noch schaut sie auf Christian, zerrt die Decke über seinem bewegungslosen Körper glatt und setzt eine OP-Maske auf, die nur ihre grünen Augen frei lässt. An der Tür atmet sie ein paar Mal deutlich hörbar aus und ein, dann tritt sie auf den Gang hinaus.

„Noch einmal, Genosse Soldat: Das hier ist der Vater des Patienten hinter der Tür und jetzt lassen Sie ihn gefälligst zu ihm! Hier ist mein Ausweis, schauen Sie genau hin!“
Auch wenn Müller seine Stimme nicht hob, war die Schärfe darin unverkennbar.
Der Posten rührte sich keinen Millimeter. „Ohne Passierschein dürfen Sie nicht rein. Nicht mal, wenn der Stationsarzt hier wäre.“
„Warum steht dann die Tür sperrangelweit offen? Nehmen Sie so Ihre Dienstpflichten wahr?“
„Na weil da eine Ärztin rein ist und ich wenigstens doch hören muss, ob alles in Ordnung ist? Ja, und die hatte einen Schein. Aber Sie nicht und deshalb dürfen Sie da nicht rein. Dürfen Sie nicht. Wirklich.“
Die letzten Worte des Postens klangen nach Resignation. Egal, was er jetzt tat - in jedem Fall würde er sich vom Wachhabenden nach der Ablösung eine Standpauke anhören müssen, wenn es ihn nicht sogar seine Beförderung zum Gefreiten kosten würde. Dienstvorschriften und Befehle waren das eine, ein Major in Zivil mit einem Ausweis, für den es in den Unterlagen der Wache kein Muster gab, das andere. Schlimmer noch war, dass Müller dem Posten, wenn der ihn doch hineinließ, auch noch einen Verstoß gegen die Dienstvorschrift anhängen konnte, eben, weil er ihn hineingelassen hatte.
Sven wartete ein paar Schritte hinter den beiden. Er wusste, dass er zwölf Stunden früher als geplant eingetroffen war und und alles sah danach aus, dass Müller deshalb keine Zeit mehr gehabt hatte, sich um einen Passierschein zu kümmern. Dazu passte, dass man sie auch am Kontrolldurchlass des Lazaretts nicht hatte mit dem Wagen passieren lassen und Müller den Lada auf einem Parkplatz davor abstellen musste.
Der stand seitlich der offenen Tür zu den dahinterliegenden Räumen und hatte deshalb keinen freien Blick auf den Gang. Sven schon und so sah er als Erster die rothaarige Frau mit der OP-Maske aus einem der Krankenzimmer kommen. Sie eilte den Gang entlang und wollte offenbar an ihnen vorbei. Sven trat einen Schritt zur Seite, hielt sie jedoch am Arm fest und fragte: „Muss ich auch eine tragen, wenn ich zu meinem Sohn dahinten will?“
Im Vorbeigehen erwiderte sie: „Ich habe Errkältung“, und als wäre das Erklärung genug, eilte sie mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf weiter den Flur entlang.
Der Posten sagte gerade zu Müller: „Es geht wirklich nicht. Allerhöchstens mit ...“, unterbrach sich mitten im Satz und rief: „Hallo? Dr. Gneidsen! Sie müssen noch unterschreiben!“
Sie war bereits am Ausgang der Station, riss die Tür auf und verschwand, bevor er noch einmal rufen konnte.
Müller schaute ihr nach. „Wer soll das gewesen sein?“
„Na, Dr. Gneidsen. Sie hatte einen Passierschein.“
Wenn auch nur der geringste Ansatz von Schadenfreude in diesem Satz gelegen haben sollte, so kam der Posten nicht mehr dazu, sie zu gießen.
„Das war ni...“ Müller blickte den Gang entlang zur Stationstür, dann zu der Tür, hinter der Christians Krankenzimmer lag und für einen Sekundenbruchteil streifte sein Blick auch das Gesicht von Sven, dann zischte er: „Soldat, stellen Sie mir augenblicklich eine Verbindung zum Wachhabenden her!“
Etwas war in seiner Stimme, das jeden Widerspruch erstickte. Der Soldat griff zum Hörer des Telefons und reichte ihn Müller. Der wartete, bis sich der Wachhabende meldete und sagte dann: „Schlagen sie Ihre Wachanweisung auf. Auf der Seite drei unten finden sie Parolen. Meine lautet: Klassenfeind. Bestätigen Sie!“
Es dauerte ein paar Sekunden, dann kam die Antwort: „Klassenfeind, bestätigt.“
„Lösen Sie Alarm für die Wache aus, Kontrolldurchlass schließen, niemand verlässt oder betritt das Objekt, jeder Posten wird doppelt besetzt. Alarmieren Sie Oberstleutnant Witwer und halten Sie sich für weitere Maßnahmen bereit. Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen. Ende!“
„Und Sie, Genosse Soldat ...“ Er warf den Hörer auf die Gabel, „... stellen sich am besten schon einmal darauf ein, dass Ihr nächster Posten auf Cap Arkona sein wird. Vielleicht lernen Sie dann dort, dass zu einem Passierschein auch immer ein Dienstausweis mit dem gleichen Namen gehört. Und jetzt lassen Sie den Mann hier endlich zu seinem Sohn!“
„Was ist hier los?“ Sven trat näher und Müller flüsterte: „Der Posten hat Recht. Wir hätten einen Passierschein gebraucht, da Sie aber früher als geplant gekommen sind, konnte ich keinen mehr organisieren und wie Sie sehen, reicht nicht einmal mein Ausweis hier. Andererseits hat er eine Ärztin ohne Kontrolle ihres Dienstausweises passieren lassen, entgegen der Vorschrift und ich habe deswegen die Wache aus ihrem Luxustiefschlaf geweckt. Sie kommen ohne weitere Verzögerung zu Ihrem Sohn und ich habe den Lazarettkommandanten gerade daran erinnert, dass das hier immer noch eine militärische Einrichtung ist.“
„Er wird Sie lieben dafür.“
Müller lächelte kalt. „Liebe wird überbewertet. Jetzt gehen Sie zu ihrem Sohn. Ich komme morgen Nachmittag bei Ihnen vorbei.“
Er ließ Sven stehen und ging mit energischen, aber nicht besonders schnellen Schritten zum Ausgang der Station. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, rannte er los.

Es war nicht Gefühlskälte, die Sven in der Tür stehenbleiben ließ, sondern seine Ausbildung. Er betrat nie einen Raum, ohne zu prüfen, was ihn dort erwartete. Außerdem wusste er, dass Christian nicht davonlaufen konnte, dass er es vielleicht nie mehr können würde und dass in den zwei oder drei Sekunden, die Sven brauchte, um die Situation einzuschätzen, kaum etwas geschehen würde, dass das änderte.
Er legte das Buch, das er die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte, auf den Nachtschrank, hängte seine Lederjacke über den Stuhl, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. Ein Duft war im Raum, der nicht hierher gehörte. Es roch nach frischer Süße, nach Erde und nach der Rinde, uralter, aber immer noch kraftvoller Bäume. Nicht sehr stark, nur ein Hauch und er war nicht stark genug, sich gegen die typischen Krankenzimmergerüche durchzusetzen, doch immerhin wahrnehmbar war für Sven noch.
Viele Minuten ließ er vergehen, dann drehte er den Stuhl um und griff nach Christians Hand. Sie zuckte, als hätte sie ein eigenes Leben und über Svens Gesicht huschte ein verlegenes Lächeln. Vorsichtig legte er sie wieder auf die Bettkante zurück. Christian hatte sich nur ungern anfassen lassen, selbst als kleines Kind nicht, manchmal hatte er sogar um sich geschlagen und etwas davon schien selbst noch im Tiefschlaf wach zu sein. Er hatte viel um sich geschlagen, wenn er nicht gerade gelesen hatte und es hatte Svens nahezu übermenschliche Geduld gekostet, ihn Stück für Stück davon abzubringen. Manchmal hatte Sven geglaubt, etwas aufblitzen zu sehen, ein Licht, so weit allen anderen voraus ... Christian hatte wortwörtlich ganze Buchseiten zitieren können ... Dinge miteinander verknüpft, die nicht zusammengehörten ... Aber es war immer nur ein kurzes Aufflackern gewesen von etwas, dass er selbst nicht erklären konnte oder wollte. Für Sven hatte Christian immer zwischen zu viel Wunsch und zu wenig Wirklichkeit gelebt, hatte sich in einer Welt vergraben, zu der Sven nie Zugang gefunden hatte, vielleicht, weil er nach dem frühen Tod seiner Frau und der Begegnung mit dem Ministerium für Staatssicherheit in Gestalt von Bernard Müller zu früh aufgehört hatte, zu träumen.
Nachdem Christian zu den Kampfschwimmern eingezogen worden war, hatte für ihn das normale Leben eines Wehrpflichtigen begonnen und das kannte keine freien Wochenenden. Nur Ausgang in Uniform und Urlaub in mehreren Varianten und Sven hatte seine Arbeit in Norwegen kaum dem Urlaub seines Sohnes anpassen können. Es war viele Monate her, dass er Christian das letzte Mal gesehen hatte, doch er erinnerte sich noch gut daran, wie bestialisch der Besucherraum, gleich hinter dem Wachgebäude der Kaserne in Kühlungsborn nach kaltem Zigarettenraum gestunken hatte, obwohl die Fenster geklappt gewesen waren. Der Mief hatte sich in die Wände gefressen, aus jedem Winkel hervorgedünstet und das Atmen schwer gemacht. Ganze Armeen von Müttern, Vätern, Ehefrauen und Geliebten hatten hier schon gewartet und vor Nervosität eine Kippe nach der anderen gequalmt. Sie hatten gewartet auf den Moment, in dem der Sohn, der Geliebte endlich in der Tür stand für eine Stunde Zweisamkeit, ein paar Umarmungen und viel zu wenig Küsse. Sven wusste, dass er auf nichts davon hoffen durfte, ja, dass es zwischen ihm und seinem Sohn nicht einmal das geben würde, was man ein Gespräch nennen konnte. Trotzdem war er gekommen. Weil Christian sein Sohn war und weil ein Wunder geschehen war: Christian hatte ihm einen Brief geschrieben und um etwas gebeten.

Draußen wurden Kommandos gebrüllt, Stiefel trampelten auf Pflastersteinen, dann war da ein nicht ganz synchrones, aber unverwechselbares metallisches Klicken: Magazine, die in Kalaschnikows eingesetzt wurden und einrasteten. Ein weiteres Kommando, diesmal laut genug, dass Sven es verstand: „Im Gleichschritt – Marsch!“ Wieder trampelten Stiefel, diesmal im Gleichschritt, das Geräusch wurde leiser, verklang schließlich und Sven war wieder allein mit seinen Gedanken und dem Gestank von Caro und F6.
Christian kam in seinem typischen, breitbeinigen Gang, der immer wirkte, als ginge er über die schwankenden Planken eines alten Segelschiffs, herein. Wortlos setzte er sich Sven gegenüber auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und legte die Hände flach auf die Oberschenkel.
„Guten Tag“, sagte er, doch eine Emotion war ihm nicht anzusehen dabei. Seine Augen hatte er auf die Wand hinter Sven gerichtet und sein Blick wanderte auf ihr hin und her, als läse er dort einen nur für ihn sichtbaren Text.
„Hallo Christian.“
Mit einem Räuspern holte Sven die zusammengerollte Fotokopie einer Karte aus der Tasche und schob sie über den Tisch. „Hier. Die Karte des Piri Reis. War nicht einfach, sie zu besorgen. Es ist ein exakte Kopie des Originals aus dem Topkapi, dem Palast des Sultans in Istanbul. Da liegt das Original unter Glas. Panzerglas wahrscheinlich.“
Es dauerte, bis Christian reagierte. Dann jedoch studierte er sie minutenlang, hielt sie gegen das Licht, als suchte er nach verborgener Schrift darin, legte sie schließlich wieder auf die Tischplatte und fuhr mit dem Finger die Linien darauf nach. Sven schien für ihn nicht mehr zu existieren.
Der griff mit beiden Händen nach der Tischkante. „Danke, dass du mich an deinen Gedanken teilhaben lässt. Mir geht es übrigens gut. Und dir?“
„Mir ... geht ... es ... auch ... gut.“ Christian ließ sich nicht beim Studium der Karte stören.
„Rede nicht mit der Karte, rede mit MIR!“
Christian hob den Kopf und in seinem Gesicht war nichts weiter als Kälte. Er musterte Svens Gesicht mit der gleichen Intensität, mit der er auch die Karte studiert hatte. Nur in die Augen sah er Sven nicht.
„Verletzt und zornig.“
„Falsch!“
„Richtig. Menschen werden immer zornig, wenn sie sich nicht verstanden fühlen. Ballen die Fäuste, schlagen zu ... ich kenne das ...“
Sven wurde zornrot, atmete zwei, dreimal unüberhörbar, dann legte er die Hände ganz ruhig vor sich auf die Tischplatte. Jeder Wutausbruch hätte nur das Gegenteil von dem bewirkt, was er sich erhoffte. Christian wäre wortlos aufgestanden und gegangen. Diesen Teil der Diskussion hatten sie bereits hinter sich gebracht. Es war der Tag gewesen, an dem Christian erfahren hatte, dass Sven ein Spion war.
„Wofür brauchst du sie?“, fragte Sven schließlich.
„Ist das eine wichtige Information für dich?“
Sven hob die Hände, dann ließ er sie auf den Tisch fallen. Es war eine Geste voller Hilflosigkeit.
Christian stand auf. „Danke für deinen Besuch. Vater.“
Mit seinen schweren Schritten ging er zur Tür, öffnete sie, verhielt dann und sagte: „Ich will mein Gehirn mit etwas Schönem beschäftigen.“ Nachdenklich musterte er das Holz der Tür. „Hier wird es mit Methoden gefüllt, wie ich am effektivsten andere umbringen kann, wie ich verhindern kann, dass andere das gleiche mit mir machen, dazu noch Schiffe in die Luft jagen, Bomben bauen, welche Waffen ich dazu brauche und so ein Kleinkram. Ich bin gut darin. Ich glaube sogar, der Beste hier. War scheinbar eine gute Idee, mich hierherzuschicken. Von dir?“
Es knallte mörderisch, ein kindskopfgroßes Loch war plötzlich in der Tür und fast verächtlich zog Christian einen Splitter aus der Haut über seiner geballten Faust. Ohne Sven auch nur noch einmal anzublicken, war er hinausgegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen.

Als die Nachtschwester kam, um nach Christian zu sehen, saß Sven immer noch auf dem Stuhl, den Ellenbogen auf ein Knie gestützt und den Kopf auf die Hand gelegt. Sie ging noch einmal zurück, kehrte nach ein paar Minuten mit einer Decke wieder und legte sie ihm um die Schultern. Sie war eine kleine dralle Matrone mit einem gestärkten Häubchen auf den grauen Haaren, runden Apfelbäckchen und sanften Augen. Sie sah aus, wie immer eine Krankenschwester aussehen sollte.
„Danke“, murmelte er.
Sie wollte einen neuen Infusionsbeutel an den Ständer hängen, stoppte mitten in der Bewegung und runzelte die Stirn. Dann warf sie einen Blick auf Christian und schüttelte den Kopf.
Sven fragte: „Was ist?“
„Jemand hat den Zulauf verschlossen.“
„Jemand?“
Sie zuckte die Schultern. „Es kann nur Schwester Kathi gewesen sein. Sie hatte Dienst vor mir. Wahrscheinlich war sie in Gedanken mal wieder woanders. Ich rede morgen mit ihr. Ist aber nicht schlimm, Ihr Sohn schläft ja zum Glück noch.“
Ihr Gesichtsausdruck sagte allerdings deutlich, dass da jemand wohl ziemlichen Ärger bekommen würde. Sie wechselte den Beutel, stellte die korrekte Dosierung ein, dann kontrollierte sie Christians Puls und sagte: „Ist wirklich alles in Ordnung mit ihm.“
Er fragte: „Hat Schwester Kathi lange rote Haare?“
„I wo. Blond und kurz.“
„Gibt es jemanden bei Ihnen, ca. einen Meter achtzig groß, kräftige Figur, hüftlange, lockige rote Haare, grüne Augen?“
Die Schwester schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Vielleicht in einer anderen Station. Aber auch da hätte sie sie hochstecken müssen. Könnte höchstens eine Ärztin gewesen sein, die halten sich nicht immer dran. Warum wollen Sie das wissen?“
Sven winkte ab. „Hat mich nur interessiert. Seit wann bekommt mein Sohn denn das Schlafmittel?“
„Keine Ahnung. Ich bin erst vor einer halben Stunde zum Dienst gekommen. Gestern jedenfalls noch nicht. Aber warten Sie, das lässt sich herausbekommen.“
Sie griff nach Christians Patientenakte und blätterte darin. Schließlich sagte sie: „Seit um zwei heute Nachmittag. Die Unterschrift hier ist von Doktor Brost. Das ist der Stationsarzt.“
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Hören Sie. Ich kann Sie verstehen, aber es ist alles in Ordnung. Ihrem Sohn geht es nicht schlechter als vorher. Eigentlich ...“, sie warf einen Blick auf sein Gesicht, „... sogar besser als heute Morgen. Da hatte ich Dienstschluss und da war er totenblass wie die anderen Tage auch. Jetzt hat er fast schon richtig Farbe im Gesicht. Sieht aus, als würde er einfach nur schlafen. Doktor Brost weiß, was er tut, glauben Sie mir. Wenn jemand Ihren Sohn wieder auf die Beine stellen kann, dann er.“
Sven unterdrückte ein Gähnen. „Wann ist er morgen früh hier?“
„So zwischen halb acht und acht kommt er meistens.“
Mit einem Mutmachlächeln tätschelte sie seinen Arm, dann ging sie.
Kaum war sie verschwunden, stand Sven auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, kreuzte die Arme vor der Brust und warf einen langen Blick auf Christian. Der schlief tief und fest und tatsächlich deutete nichts darauf hin, dass er todkrank war. Sein Gesicht sah abgemagert aus, aber es hatte eine gesunde Farbe, die Blässe war verschwunden. Ihrem Sohn geht es nicht schlechter als vorher. Eigentlich sogar besser als heute Morgen, hatte die Schwester gesagt.
Sven streckte den Arm aus und stoppte den Zufluss des Schlafmittels. Dann ging er hinaus, schlenderte über den Gang und klopfte leise an der jetzt von außen verschlossenen Tür des geschlossenen Bereichs. Der Posten, der ihm jetzt öffnete, war ein Gefreiter.Sven sagte: „Ich würde gerne wissen, ob meine Schwiegertochter schon bei meinem Sohn gewesen ist. Können Sie mir das sagen?“
Der Gefreite erwiderte: „Wenn, dann hätte sie einen Passierschein gehabt. Müsste im Buch stehen. Wie heißt sie?“
„Birgit Mildenstrey.“
Der Posten blätterte durch das Buch, dann zuckte er die Schulter. „Tut mir leid. Der Name ist hier nicht drin.“
„Darf ich einmal schauen?“ Sven trat neben den Posten.
„Eigentlich nicht.“
Aber Sven fuhr schon mit einem Finger die Einträge auf der aufgeschlagenen Seite entlang, der Posten hätte ihn zur Seite drängen müssen, hätte er das verhindern wollen. Er warf einen Blick in den Gang, doch der war leer und so zuckte er nur die Schultern.
Sven blätterte zurück, fuhr weiter die Namen mit dem Finger entlang. Dann stoppte sein Finger auf einem Eintrag des gestrigen Tages: B. Müller, 08:10. Darunter war noch ein Eintrag mit der gleichen Zeit: W. Brost.
Er blätterte wieder auf die aktuelle Seite und sagte: „Dann war sie wohl doch noch nicht hier. Danke. Ich schlafe bei meinem Sohn heute Nacht. Ruhigen Dienst.“
Der Posten lachte. „Danke. Was soll hier schon passieren?“
„Nichts mehr. Ist schon geschehen.“ Sven eilte zurück, schloss die Zimmertür hinter sich und zog sogar noch einmal am Türgriff, um sicher zu sein, dass sie auch tatsächlich zu war. Dann beugte er sich über Christian und rüttelte ihn heftig an der Schulter. Der murmelte etwas, aber seine Augen blieben geschlossen. Sven verpasste ihm links und rechts eine Ohrfeige und jetzt hatte er Erfolg, Christians Augenlider zuckten, dann öffnete er die Augen. Einen Moment irrte sein Blick über die Zimmerdecke, dann fokussierte er auf dem Gesicht von Sven.
„Kann ... kann ... mich die Stasi nicht mal in Ruhe krepieren lassen?“
„Nein, kann sie nicht. Wie geht es dir? Und keine Spielchen mehr!“
Ein Zucken lief über das Gesicht von Christian, setzte sich um die Mundwinkel fort und fast hätte man es für ein Lächeln halten können. „Besorgt.“
Sein Blick sagte noch etwas, es ließ Sven schlucken und sich mit der Hand über die Augen wischen.
„Bild dir bloß nichts ein. Erzähl, und zwar alles! Und halt die Augen offen, sonst hau ich dir eine rein.“
„Kann nicht schlimm sein. Riechst wie eine Frau.“ Dann begann er mit erzählen. Am Anfang kamen seine Worte noch stockend, doch dann wurde seine Rede zusehends flüssiger. Er sprach knapp, aber präzise und wie es aussah, konnte er sehr wohl zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Sven stellte ein paar Zwischenfragen und als Christian auch die beantwortet hatte, schwiegen sie. Es hatte schon früher viel Stille zwischen ihnen gegeben, doch das hier war etwas anderes. Etwas war plötzlich im Raum zwischen ihnen und es trennte nicht, es verband.
Sven war der Erste, der das Schweigen brach. Er drehte sein Gesicht von Christian weg, fuhr sich einmal kurz mit der Hand über die Augen, dann sagte er: „Ich muss am Morgen ein paar Dinge erledigen. Aber mach dir keine Hoffnungen, bis du gesund bist, wirst du mich nicht wieder los. Wenn ich wiederkomme, hole ich dich hier raus. Du gehst in die Charité, oder es gibt Tote.“
„Du bist zornig.“
„Wieder mal falsch. Ich bin rasend vor Wut.“ Sven streckte den Arm aus und öffnete den Dosierhahn für Christians Schlafmittel.

Als es am nächsten Nachmittag an seine Tür klopfte, hörte es sich nicht nach besonders guter Laune desjenigen an, der draußen stand. Sven machte den Wasserkocher an, und füllte Kaffeepulver in eine Edelstahlkanne, die er vorhin aus der Kantine mitgenommen hatte. Mit ein paar schnellen Bewegungen lockerte er seine Schultergelenke, wie er es auch gestern in Müllers Lada gemacht hatte, dann öffnete er die Tür.
Müller wirkte wie aus dem Ei gepellt: Dunkler Anzug, Binder in Dunkelblau und Erich-Honecker-Hut, allerdings aus grauem Filz und nicht aus Stroh. Seine Augen waren gerötet und die Tränensäcke darunter deutlich zu sehen.
Sven öffnete die Tür ganz. „Guten Morgen. Ein bisschen gefeiert heute Nacht?“
„Es gab keinen Grund zum Feiern. Das ist Genossen Bredenbach, mein Fahrer.“
Müller ging an ihm vorbei, sein breitschultriger Begleiter warf einen prüfenden Blick nach rechts und links über den Flur, dann folgte er. Sven ließ die beiden an sich vorbeigehen und schloss die Tür hinter ihnen. Müller setzte sich in den Sessel am Fernseher, sein Begleiter blieb neben Sven in einer Haltung stehen, die jeder, der jemals gedient hatte, als perfekte „Rührt-Euch-Stellung“ erkannt hätte: locker in den Gelenken, aber bereit, in jeder Sekunde zu handeln.
„Fahrer, Hm? Guten Ausbilder gehabt.“, sagte Sven launig zu ihm. „Kaffee?“
Müller knöpfte seinen Mantel auf. „Wir sind nicht hier, um Kaffee zu trinken, Genosse Oldenburg. Jemand in Berlin will Sie sehen. Heute noch.“
Sven goss mit betrübtem Gesicht das kochende Wasser in die Kanne, rührte ein paar Mal um und schraubte den Deckel zu. „Das passt jetzt aber ganz schlecht. Ich habe da ein krankes Familienmitglied und irgendwie das Gefühl, dass es besser ist, wenn ich in seiner Nähe bleibe.“
„Ich habe keine Zeit für Spielchen und Ihrem Sohn geht es wesentlich besser. Seine Prognose ist hervorragend.“
„Seit wann?“
„Seit gestern Abend offenbar...“ Müller unterbrach sich, dann fauchte er: „Es geht ihm besser und Schluss. Jetzt packen Sie Ihren Koffer!“
„Wie jetzt? Was ist mit meinem Sohn? Komme ich nicht wieder zurück? “
„Es reicht!“
„Das heisst dann wohl nein. Also das war ihr Plan.“
„Was für ein Plan?“ Müller Augen waren nur noch Schlitze.
„Wie ich das sehe, haben Sie organisiert, dass er schläft, wenn ich komme; jetzt wacht er auf und ich reise mit Koffer ab ... Halten Sie die Ausbildung wirklich für so schlecht, die Sie mir verpasst haben, dass ich nicht einmal eins und eins zusammenrechnen kann?“
Müller presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sich die Kaumuskeln in seinem Gesicht abzeichneten. Er blickte seinen Begleiter an und der straffte sich wie eine Marionette, die erwacht, weil jemand an ihren Fäden zieht.
Sven lachte und hob beide Hände, als wäre eine Waffe auf ihn gerichtet. „Ist ja schon gut. War nur ein Scherz. Ich gehe meinen Koffer packen.“
Er griff nach der Edelstahlkanne und nach einer Tasse. „Wirklich keinen Kaffee? Ist ziemlich stark.“
Er hielt die Kanne auf Augenhöhe und Müller fauchte: „Nein!“
„Schade“, und einfach so aus dem Handgelenk knallte Sven Müllers Begleiter die Edelstahlkanne gegen die Schläfe.
Müller sprang auf. „Sind sie wahn...“
„Hinsetzen!“ Sven hob die Kanne über den Kopf. „Oder ich zertrümmere ihnen Ihren verdammten Schädel!“
Er schwang den Arm nach hinten und Müller ließ sich in den Sessel zurückfallen.
„Besser ist“, brummte Sven. „Wäre schade um den Hut gewesen.“
Er kniete sich neben den Bewusstlosen, klappte dessen Unterkiefer nach unten und prüfte, dass er frei atmen konnte. Dann drehte er ihn auf die Seite.
„Was machen Sie da?“ Müller hatte sich wieder unter Kontrolle gebracht.
„Dreckige Feldarbeit, will ihn ja nicht umbringen. Kennen Sie nicht. Passiert höchst selten hinter einem Schreibtisch.“
Sven zog dem Bewusstlosen den Gürtel aus der Hose und fesselte sorgfältig dessen Hände. Dann zog er sich einen Stuhl heran, setzte sich Müller so auf Armeslänge gegenüber, dass er auch den Bewusstlosen im Blick behielt und schwang die Thermoskanne mit zwei Fingern an ihrem Henkel hin und her.
„Wenn Sie eine Waffe unter ihrem Sakko hätten, wäre sie wahrscheinlich schon auf mich gerichtet. Wenn Sie’s verschlafen haben und es jetzt versuchen wollen, reicht das hier. Wollen Sie?“
Müller hob ein wenig die Arme, dann ließ er sie auf die Oberschenkel fallen.
„Schade eigentlich,“ sagte Sven. „Aber mein Sohn lässt ihnen schöne Grüße bestellen und dass er sich schon sehr darauf freut, Sie kennenzulernen. Doch wie Sie schon sagten – wir sind nicht hier, um Kaffee zu trinken, also machen Sie unserem Beruf Ehre und spitzen Sie die Ohren: Alle meine Instinkte sagen mir, dass gestern Abend etwas passiert ist, das nicht in ihre Pläne gepasst hat. Welche waren das doch gleich? Ich meine, Sie sind mein Führungsoffizier, bei mir in der Botschaft in Oslo laufen Ihre Fäden für Nordeuropa zusammen – da hätte ich doch ein wenig Vertrauen verdient, finde ich.“
Müller kniff die Lippen zusammen und Sven nickte. „Dachte ich mir. Machen wir es so – ich werfe ein paar Puzzlesteine auf den Tisch, Sie geben ein paar treffsichere Kommentare dazu und danach gehen wir – naja, nicht gerade als Freunde - auseinander und machen das, was notwendig ist. Ich kümmere mich um meinen Sohn, Sie sich um Ihre Arbeit und alles wird gut. Was halten Sie davon?“
„Wenn nicht, prügeln sie es aus mir heraus? Also bitte ... wir sind hier nicht bei der CIA.“ Verächtlich zog Müller die Mundwinkel nach unten.
„Nein, beim Ministerium für Staatssicherheit. Manchmal frage ich mich, ob wir uns noch sehr von denen unterscheiden.“
Sven zeigte die Zähne. Wenn es ein Lachen sein sollte, war es das eines Haifisches. „Aber ist egal. Die Prügel in unserer Familie verteilt übrigens Christian. Ich bin der mit dem Kopf zum Denken und in dem ist die Nummer eines gewissen Mischa Wolf gespeichert. Am Ausgang hängt ein Telefon. Ich glaube mich zu erinnern, dass er der Chef unserer Auslandsspionage ist, also mein und Ihr Boss sozusagen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sie ihn noch nicht darüber informiert haben, was passiert ist. Haben Sie?“
Der Mann auf dem Boden stöhnte und drehte sich auf den Rücken. Sven meinte zu ihm: „Kopfschmerzen? Ich sagte doch: starker Kaffe. Tut mir leid, ich hatte Sie für einen Moment mit dem hier verwechselt.“ Er nickte mit dem Kopf zu Müller. „Wenn Sie still liegen bleiben, besteht keine Verwechslungsgefahr mehr.“
Er richtete seinen Blick wieder auf Müller. „Nun?“
Der zuckte die Schultern. „Natürlich nicht. Es gab offiziell keinen Grund. Es war nicht sein Bereich, in den das fiel.“
„Offiziell ... schönes Wort ...“
Sven zog ein Gesicht, als bisse er auf eine Zitrone. „Also kurz und knapp: Ich die Puzzleteile, Sie die Geschichte. Fehlt auch nur ein Stein, erzählen wir beide sie Mischa. Ich habe meine Zeit in der Normannenstraße nicht nur im Haus fünfzehn verbracht. Freunde braucht man immer, und mit denen habe ich heute Vormittag ein bisschen telefoniert. Also Stein eins: 1958 stürzt vor Warnemünde eine TU-95 ab. Doch selbst nachdem sie unsere Freunde aus dem Osten geborgen hatten, wurde noch monatelang weitergesucht. Wonach? Stein zwei: Nach dem Fischsterben vor Warnemünde vor ein paar Wochen war klar, dass irgendwo unter Wasser eine giftige Substanz ausgetreten ist. Trotzdem schickt man bei Nacht und wirklich miesem Wetter einen Trupp runter, nicht nur zur Aufklärung, sondern auch zur Entschärfung einer ominösen Waffe. Kampfschwimmer können das, sicher, aber es gibt Minentaucher dafür, die das fast täglich machen. Warum hat man nicht die genommen? Stein drei: Mitten im Einsatz läuft ihr Boot mit voller Kraft auf die Einsatzposition des Trupps außerhalb der Staatsgrenzen der DDR zu, was es nach meinem Kenntnisstand nicht gedurft hätte. Also ist etwas schief gelaufen, aber nicht unter, sondern über Wasser. Was? Wenn ich das jetzt alles so zusammenrechne, komme ich irgendwie auf die Idee, dass mein Sohn da unten etwas gesehen hat, was er nie hätte sehen sollen. Oder dass er hätte nie wieder aus der Ostsee auftauchen sollen und jemand jetzt versucht, diesen Fehler wieder gutzumachen.“
Müller fuhr sich über die Lippen, doch Sven hob die Hand. „Eins hätte ich fast noch vergessen: Ich hatte heute Morgen einen kleinen Schwatz mit dem Stationsarzt. Da meldete sich plötzlich ein Bürschchen namens Gneidsen bei ihm. Er guckte mich schon etwas bedeppert an, als ich ihn fragte, wie es seiner älteren Schwester geht, da wollte ich ihn dann nicht noch fragen, ob er in der Nacht eine Geschlechtsumwandlung hat machen lassen.“
„Das ist ja krank“, zischte Müller.
Sven nickte und wieder hatte er das Haifischlächeln im Gesicht. „Sehe ich auch so. Ich motiviere Sie mal ein bisschen, damit ihre nächsten Sätze ein wenig länger ausfallen: Wenn ich glauben müsste, dass jemand meinen Sohn umbringen wollte, würde ich demjenigen den Hals umdrehen, bevor er auch nur piep sagen kann.“
Scheinbar achtlos schwenkte er die Edelstahlkanne in seiner rechten Hand hin und her. „Und Scheiß drauf, was danach kommt. Wenn es sein müsste, sofort. Also sagen Sie lieber piep.“
Sven hatte fast freundlich gesprochen, doch sein Gesicht sagte etwas anderes. Es war bar jeden Ausdrucks, aber in seinen Augen lohte ein dunkles Feuer.
Müller warf mit bleichem Gesicht einen Blick auf den am Boden liegenden Mann und sagte: „Das darf er nicht erfahren.“
Sven drehte sich halb zur Seite. „Ah ja, das kann ich verstehen. Tut mir leid Kumpel.“ Er hob die Kanne. Müllers Pitbull riss die Augen auf, Sven zögerte, ließ die Kanne wieder sinken, sprang blitzschnell zur Toilette und kam mit einer Klopapierrolle zurück. Er drehte Stöpsel, stopfte sie dem Mann in die Ohren und wickelte ihm anschließend die ganze Rolle um den Kopf.
Ohne Müller aus den Augen zu lassen, nahm er eine Kaffeetasse vom Küchentisch und schenkte sich ein. „Sie wollten ja keinen“, sagte er zu ihm, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und nahm, genussvoll schlürfend, einen tiefen Schluck. „Und jetzt: Ihr Auftritt, Genosse Major.“
Müller schlug ein Bein über das andere, lehnte sich zurück und spreizte die Fingerkuppen beider Hände übereinander. Obwohl er noch immer bleich war, klang seine Stimme sachlich: „Also gut. Aber sie zwingen mich, Ihnen etwas zu erzählen, was Ihre Lebenserwartung unter Umständen drastisch verkürzen könnte. Sind Sie sich im Klaren darüber?“Sven schwenkte die Kanne und achselzuckend fuhr Müller fort: „1955 führte die Sowjetunion ihre erste Antarktisexpedition durch. Das Ziel war der Mount Kirkpatrick, der höchste Berg im antarktischen Gebirge. Sie erreichten ihn nie. Ihnen fehlten nur noch wenige Kilometer, doch jedes Mal, wenn sie die letzte Etappe in Angriff nehmen wollten, kam ein heftiger Sturm auf und zwang sie zur Umkehr. Ihre Vorräte gingen zur Neige und sie mussten aufgeben. Nach der Rückkehr begann der Expeditionsarzt Vitali Loginow an einem Medikament zu forschen, dass die körperliche Leistungsfähigkeit, Widerstandsfähigkeit gegen Krankheit, Selbsregeneration und die emotionale Intelligenz verbessern sollte. Er kam erstaunlich gut voran und als er erste Erfolge erzielte, übernahm das Militär auf Befehl des Zentralkommitees die weitere Entwicklung. Loginow wehrte sich dagegen, aber man nahm ihm einfach die Leitung weg und öffnete mit Hilfe seiner Grundlagenforschungen die Büchse der Pandora. Statt des Medikaments entwickelten sie eine bio-chemische Massenvernichtungswaffe. Noch während ein erster Prototyp unter einem strategischen Bomber TU-95 in der Luft war, sabotierte Loginow die Sicherheitssysteme des Labors. Es kam zu einem Ausbruch, er selbst, die meisten Wissenschaftler und die Bewohner der angrenzenden Siedlung starben. Auch das Flugzeug stürzte durch ein technisches Versagen über der Ostsee ab. Die Waffe wurde nie gefunden. Die sowjetische Regierung stellte das Projekt ein, ließ alle Forschungsunterlagen beseitigen nebst den die überlebenden Wissenschaftlern und ihren Familien. Nur dem Laborleiter Boris Orstchov gelang die Flucht nach Norwegen. Er kam in Oslo in einem Werftkrankenhaus des Ängström-Konzerns unter und so viel wir wissen, arbeitet er dort immer noch.“
„Den Rest kann ich mir fast denken“, knurrte Sven.
Müller rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Er sah plötzlich sehr müde aus. „Als ich es erfuhr, waren die Männer schon im Wasser. Alles, was ich noch tun konnte, war die Aktion abbrechen lassen und Ihren Sohn hier unterbringen. Er ist nicht in der geschlossenen Abteilung, um zu verhindern, dass er hinauskommt, sondern um zu verhindern, dass jemand hineinkommt und den letzten Zeugen beseitigt. Offenbar ist genau das versucht worden. Man hat Gneidsen gestern einen Passierschein gestohlen, sich damit Zugang verschafft und offenbar war es nur unser Erscheinen, dass den Mord verhindert hat. Wir haben die Frau nicht gefasst, sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber sie hatte einen Komplizen, Holger Weinberg, einen Arzt. Er ist gestern Abend nach Oslo zu einem Kongress geflogen. In seiner Wohnung fanden wir Skizzen des Geländes, der Zugänge und der Station für Inneres, auf der Ihr Sohn liegt. Ich habe heute Morgen mit Moskau telefoniert. Man hat mir versichert, dass diese Aktion von niemandem aus der Lubjanka initiiert worden ist. Aber die Ärztin, um die ich gebeten habe, Ermakowa, hat gestern Abend ihren Reisepass als vermisst gemeldet und befindet sich immer noch in Moskau. Als Letztes: Kurz nach dem Fischsterben vor Warnemünde meldete ein norwegischer Frachter nicht weit davon entfernt einen Maschinenschaden. Für die Reparatur musste ein Ersatzteil aus Norwegen beschafft werden. Es kam am Morgen nach der verunglückten Mission an und der Frachter nahm sofort Kurs Richtung Heimat. Er war nur knapp eine Seemeile von der Bergungsstelle entfernt. Dreimal Norwegen beziehungsweise Oslo – nur ein Blinder würde die Spur nichts sehen.“
Sven stellte die Kanne, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Boden und zog an seinen Fingerknöcheln, bis es knackte. „Ich sehe eine Spur, die mich viel mehr interessiert. Wer hat den Einsatz befohlen? Wer außer Ihnen wusste davon?“
„Die Antwort wird Ihnen nicht gefallen.“
„Hatten Sie bis jetzt den Eindruck, dass mir irgendetwas von der Scheiße gefallen hat?“
„Der Name, den Sie wollen ist: Major Kerstin Wendt.“
Wie ein Zucken lief es über Svens Gesicht, ein kurzes Aufreißen der Augen, Fingerknöchel, die weiß wurden unter dem Druck geballter Fäuste, dann hatte Sven sich wieder unter Kontrolle, doch seine Stimme klang flach wie aus einem Lautsprecher: „Hat sie sich so hoch geschlafen?“
„Höher. Gerade Sie sollten doch wohl ihre Talente kennen und die Frauengeschichten von Markus Wolf sind Legende. Deswegen lief Ihre Drohung mit ihm übrigens auch ins Leere bei mir. Er hätte Sie einfach verschwinden lassen.“
Ächzend drückte sich Müller aus dem Sessel und plötzlich war er wieder der Vorgesetzte, zwar müde, aber Herr der Situation. „Wenn ich Ihnen trotzdem alles erzählt habe, dann deswegen, weil ich Sie für die Norwegensache noch brauche. Sie sind beurlaubt bis auf Weiteres. In ein paar Monaten komme ich auf Sie zu. Ich will wissen, was der norwegische Geheimdienst hier wollte und wenn einer sich da auskennt, dann Sie. Würden Sie jetzt bitte den Mann befreien?“
Sven erhob sich ebenfalls und es wirkte erschöpft. „Nein. Weil Sie meinen Sohn zum Killer ausbilden lassen haben und weil Sie gestern Abend annehmen mussten, dass ein Anschlag auf ihn verübt worden ist, aber Sie haben weder einen Arzt gerufen noch mir etwas gesagt. Vorbei.“
„Ach wissen Sie“, lächelnd bückte sich Müller und löste selbst seinem Mann den Gürtel von den Handgelenken, „alles im Leben hat seinen Preis. Ich kann Ihren Sohn in einer Stunde in die Charite verlegen lassen, kann ihm die Mordanklage vom Hals schaffen, kann verhindern, dass Kerstin die Sache zu Ende bringt und kann Ihrem Sohn das Geschichtsstudium verschaffen und es ihm auch finanzieren, von dem Sie nicht einmal wissen, dass er es will.“ Er richtete sich wieder auf. „Wie ich schon sagte: Alles im Leben hat seinen Preis.“
„Sie sind ein Teufel.“
„Nein. Ich rücke Dinge zurecht. Also?“
Sven wendete Müller den Rücken zu, öffnete die Fäuste, schloss sie wieder, öffnete sie, dann sagte er: „In Ordnung.“
Erst jetzt drehte er sich um und in seinem Gesicht war nichts als eisige Kälte. „Ich will alles, was sie für Christian gesagt haben. Verlegung, Studium, Geld und ich will Kerstin.“
Müller wiegte den Kopf hin und her. „Sie wird Ihnen in ein paar Monaten den Auftrag überbringen und die Informationen, die ich bis dahin noch zusammenbekomme. Danach ...“
Er ließ das Wort in der Schwebe und bugsierte seinen benommen torkelnden Mann zur Tür. Dort setzte er fort: „Sie mögen in vielem recht haben, aber in einem irren Sie sich, was Ihren Sohn betrifft. Wir - auch Sie – haben ihn nur in die richtige Richtung gelenkt, dem eine Basis gegeben, was seit seiner Geburt in ihm ist; was ihn als Kind hat um sich schlagen lassen und Angst vor jeder Berührung haben. Wut, Enttäuschung, Rache, eine darauf gerichtete Ausbildung – all das kann Menschen zu Mördern machen, zu Totschlägern oder Befehlsempfängern. Aber ihnen allen fehlt das, was einen wirklichen Killer ausmacht – der Instinkt.“
Er legte die Hand auf die Türklinke. „Als Killer wird man geboren und keine Erziehung, keine liebevolle Großmutter, kein schicker Anzug und kein Sozialarbeiter kann das ändern – man bleibt es bis ans Ende eines meist ziemlich kurzen Lebens. Meine besten Genesungswünsche an Ihren Sohn.“


Kapitel 5

Mehr als zweihundert Jahre lang war der Name Ängström ein Begriff für Schiffe gewesen, die vor keinem Sturm auf den Weltmeeren die Segel streichen mussten. Bis zum Frühjahr 1947, als Magnus Ängström verhaftet, sein Besitz konfisziert und seine Familie aus Oslo vertrieben wurde. Einen Monat später verurteilte man ihn in einem Schnellverfahren wegen seiner Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern während des Weltkrieges zu lebenslanger Haft. Er überlebte im Gefängnis nur drei Monate.
Sein Sohn Bengt schwor Rache. Mit kaltem Herzen, eisernem Willen und einem Maximum an Skrupellosigkeit holte er sich fünfzehn Jahre später zurück, was der Familie genommen worden war. Doch er hatte seine eigene Vorstellung davon, wie viele Generationen Rache dauern sollte. Für ihn liefen noch viel zu viele frei herum, die er schuld am Tod seines Vaters glaubte und die nach seiner Meinung längst unter die Erde gehört hätten. Überall sah er Feinde, die ihm wieder alles entreißen wollten und in diesem Geist erzog er auch seinen Sohn Ruud. So hatte der zwar eine finanziell sorglose und beschützte Kindheit, glücklich hätte er sie jedoch nie genannt und sie wurde richtig finster, als seine Mutter an einer nicht rechtzeitig diagnostizierten Blinddarmentzündung starb.
Am Abend von Ruuds fünfzehnten Geburtstag stieß Bengt Ängström die Edelprostituierte Marit Raikkaanen in das Leben seines Sohnes. Er musste artig neben dem Portal des Haupteingangs stehen und den Gästen mit ein paar freundlichen Worten die Hand reichen. Dass er es nicht wollte, weil er wusste, dass deren Söhne und Töchter spätestens morgen in der Schule wieder über ihn herziehen würden, interessierte seinen Vater nicht.
Als die Schlange der Gratulanten sich lichtete, klopfte Bengt seinem Sohn auf die Schulter, Ruud wurde rot und sofort verpasste Bengt ihm wieder einen Dämpfer: „Also doch noch ein Mädchen. Wird Zeit, dass du erwachsen wirst. Ich will, dass du Biss bekommst; dass du der Mann wirst, der unsere Firma weiterbringt.“
Er hob seine Hand und aus dem letzten Auto vor der Tür stieg eine Frau in einem langen Abendkleid aus roter Seide. Sie war groß und schlank und ihre nackten Schultern schimmerten im Mondlicht wie Elfenbein. Mit zierlichen, aber schnellen Schritten, die ihr langes schwarzes Haar im Nachtwind wehen ließ, nahm sie die Freitreppe.
Oben angekommen, nickte sie Bengt nur zu und reichte Ruud ihre schmale, ringlose Hand. „Guten Abend, junger Mann. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“
Er stotterte: „Gu ..., guten Abend.“
Sie lachte und zeigte zwei Reihen perfekter, perlweißer Zähne. „Ein junger Mann stottert nicht, wenn er eine schöne Frau sieht und er wird auch nicht rot, wenn sie ihm die Hand gibt. Er sagt etwas Charmantes, egal was er über sie denkt oder von ihr will. Vor allem aber vergisst er nicht, sich zu bedanken. Kann ich meine Hand wieder zurückbekommen?“
Die Röte in seinem Gesicht vertiefte sich noch mehr, er ließ ihre Hand los und Bengt sagte: „Das ist Marit. Sie wird ab jetzt hier wohnen und sich um dich kümmern. In zwei Tagen fliege ich nach Korea, dort wird die größte Werft der Welt gebaut, mit meinem Geld. Ihr werdet dann alleine mit dem Personal sein.“
Er ließ Ruud ein paar Atemzüge Zeit, auf die falschen Gedanken zu kommen, und fügte dann hinzu: „Neben einigen anderen Talenten hat sie auch eine hervorragende Bildung. In der Schule lernst du nichts weiter als Zahlen, aber nicht, wofür du sie brauchst. Marit wird dir beibringen, wie du sie als Waffe verwendest. Wie du die Faust zeigst, lernst du später von mir; sie zeigt dir die andere Seite - wie du Leute einwickelst, ohne dir selbst dabei in die Karten schauen zu lassen, denn in deinem Gesicht kann man lesen wie in einem offenen Buch. Das wird sie abstellen und einiges anderes, was mir nicht gefällt. Wenn Sie mit dir fertig ist, wirst du ein Mann sein, der sich von niemandem mehr etwas wegnehmen lässt.“
Marit lachte Ruud an. „Er sagt immer so nette Sachen über andere Leute. Aber das kennst du ja.“
Sie schob ihren Arm unter seinen. „Wir haben viel zu tun, du und ich und wenig Zeit dafür. Wir fangen sofort damit an. Warum stellst du mir deine Gäste nicht vor?“
Es war keine Frage und weder ihr Gesichtsausdruck noch der Druck auf seinem Arm ließen Ruud auch nur den geringsten Zweifel daran.

Sie bezog die Suite im obersten Stock des Herrenhauses der Ängströms und verließ in den folgenden Jahren nur einmal alle drei Wochen alleine für zwei Tage das Grundstück, um ihre einjährige Tochter Marianna zu besuchen. Das hatte sie sich von Bengt ausbedungen.
Sie war stets gleichmäßig freundlich zu Ruud; trug nie etwas anderes als Hosen und hochgeschlossene Blusen und erlaubte nicht, dass er sie anders als mit „Sie“ ansprach. Bis zu dem Abend nach drei Monaten, an dem sie mitten in der Analyse der Fehler, die seinen Großvater ins Gefängnis gebracht hatten, sagte: „Du träumst.“
Mit einer Hand fasste sie nach seinem Kinn, drückte es hoch und zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. „Davon, mit mir zu schlafen?“
Er wurde knallrot und wollte den Kopf senken, doch sie ließ es nicht zu. „Wenn du anderen deine Träume offenbarst, eröffnest du ihnen die Möglichkeit, dich damit zu verletzen und mit dem Eingeständnis dessen, was du willst, gibst du demjenigen, der es dir geben kann, Macht über dich. Genug Theorie für heute.“
Sie ließ sein Kinn los. Er sammelte seine Notizen vom Tisch, warf mit halbgesenktem Kopf noch einen Blick auf sie, dann stand er auf und ging zur Tür. Als er seine Hand nach der Klinke ausstreckte, fragte sie: „Wo willst du hin?“
„Ich dachte ...“
„Das ist nicht wahr. Du denkst nicht. Du fühlst nur. So weit bist du noch nicht, dass du in einer solchen Situation vernünftig denken kannst oder dich gar nicht erst in eine solche bringst.“
Ein Feuerzeug blitzte in ihrer Hand auf. Sie zündete sich eine Zigarette an, blickte einen Moment auf die Glut an der Spitze, dann fragte sie: „Wie härtet man Stahl, junger Mann?“
Eine Falte erschien auf seiner Stirn. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. „Ich denke, man muss ihn heiß machen und dann wieder schnell abkühlen.“„Du denkst schon wieder. Schließ die Tür ab und komm her.“
Ganz leise drückte er die Tür zu, drehte den Schlüssel von innen um und blieb dann vor dem Schreibtisch, hinter dem sie saß, stehen.
„Hierher, direkt vor mich.“ Sie spreizte im Sitzen ihre Beine. „Dazwischen und mach deine Hose auf.“
Mit zitternden Händen versuchte er, die Knöpfe in seinem Hosenschlitz zu finden. Sie sah ihm zu, sog erregt Zug um Zug aus ihrer Zigarette, legte sie, nur halb aufgeraucht in den Aschenbecher und fasste selbst zu. Ungeschickt versuchte er, ihr einen Kuss zu geben. Sie drehte den Kopf zur Seite und seine Lippen trafen nur ihre Wange.
„Übertreib nicht“, sagte sie, riss den letzten Knopf an seiner Hose auf und in ihren Augen war nichts anderes als die gleiche eisblaue Professionalität der letzten Monate. „Oder glaubst du wirklich, dass du der erste Ängström zwischen meinen Beinen bist?“
Vielleicht wartete er darauf, dass sie sagte, dass es ein Scherz gewesen sei; oder auf die Berührung ihrer Hand statt hart an seinem Glied zärtlich an seiner Wange; auf irgendetwas, dass die Wucht des Schlages milderte. Er wartete vergeblich. Sie stand auf, stieß ihn zu Boden und nahm ihn sich auf dem Teppich vor ihrem Schreibtisch. Nicht wie die erfahrene Frau, die einen Jungen seine erste Liebe erleben lässt; die Geliebte, die mehr gibt, als sie nimmt. Ohne jede Zärtlichkeit setzte sie sich einfach auf ihn, trieb sich voran, bis ihr Unterleib auf ihm konvulsivisch zu zucken begann und ihre Lustschreie die Scheiben in den alten Holzrahmen vibrieren ließen.
Dann stand sie auf, warf einen Blick auf sein Glied, verzog die Lippen und sagte kühl: „Ins Bett und auf den Rücken.“
Er lag kaum, da saß sie bereits wieder auf ihm und kurz darauf hallten wieder ihre Schreie durch das Zimmer.
Sie ließ sich von ihm herab rollen, zündete sich, auf dem Rücken liegend, wieder eine Zigarette an, nahm ein paar Züge, stand auf und ging ins Bad. Als sie zurückkehrte, lag er noch immer in ihrem Bett.
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ich bin es gewohnt, alleine zu schlafen.“
Ruud presste die Zähne aufeinander, raffte wortlos seine auf dem Boden verstreuten Sachen zusammen und rannte hinaus. Marit klopfte sich die Kissen zurecht, schloss die Augen und war kurz darauf eingeschlafen.
Bengt Ängström hatte ihr Absolution für jedes Verbrechen erteilt, dass sie an seinem Sohn begehen würde, wenn sie aus ihm nur den Mann machte, den er brauchte. Selbst wenn es nicht so gewesen wäre - Richter und Staatsanwälte hatten nur Zutritt zum Herrenhaus der Ängströms, wenn Bengt sie zum Essen oder zu einer Party einlud. Dann hatten sie allerdings die Gesetzestafeln draußen zu lassen, am besten vor der Tür, gleich neben dem Fußabtreter. Dass hier ein Kind missbraucht worden war, würde keinen von ihnen interessieren, solange es nicht der eigenen Karriere diente und sich mit Bengt Ängström anzulegen, bewirkte in der Regel das genaue Gegenteil. Es hatte ja auch niemanden von ihnen interessiert, als er das Gleiche mit Marit Raikkaanen getan hatte.
Drei Jahre härtete Marit so den Stahl in Ruud. Am Morgen seines achtzehnten Geburtstages verbarg er in ihrem Bett seine Gefühle hinter einem professionellen Lächeln und einem noch nicht ganz vollständigen Henri-Quattre-Bart.
Nackt, die langen schwarzen Haare zu einem Dutt aufgesteckt, jeder Zoll eine ungekrönte Königin, schritt sie aus dem Badezimmer, griff nach einem Strumpf und ließ ihn nachdenklich durch die Hände gleiten.
„Du siehst zufrieden aus. Kein bisschen Abschiedsschmerz?“
Sie zog das Nylon über das linke Bein, klickte einen Halter ein und sein Blick glitt langsam über ihren Körper, blieb an ihrem blaugeschlagenen linken Auge kleben und das Lächeln auf seinem Gesicht wankte dabei keinen Millimeter. Er hatte sie durchgeprügelt, als er sein Glied in ihren Körper gerammt hatte in der Nacht und beides hatte ihm so viel Spaß gemacht, dass er es am Morgen noch einmal wiederholt hatte.
„Den hast du ausgebrannt“, erwiderte er. „Ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, dass ich dich geliebt habe. Aber dein Körper hat mir Spaß gemacht. Genau das wolltest du doch, oder?“
„Dein Vater.“
Sie zog den zweiten Strumpf an, streckte das Bein und prüfte penibel den Sitz des Nylons. „Für jedes Jahr, das ich mit dir ausgehalten habe, habe ich fünfhunderttausend Kronen kassiert. Die meisten meiner Kunden waren weniger spendabel. Dafür hatte ich mit ihnen auch weniger Spaß. Wenigstens bis heute Nacht.“
Er lachte. „Jeder Taler hat immer zwei Seiten. Hast du mir beigebracht. Aber bis dein Schiff in New York anlegt, bist du wieder die strahlende Schönheit und kannst dir den Nächsten zum Ausnehmen suchen.“
Sie streifte Kleid und Mantel über. „Dann ist ja alles gesagt.“
Elastisch sprang er aus dem Bett und öffnete ihr, ganz Gentleman, zuvorkommend die Tür. „Bon voyage, meine nicht mehr Liebe.“
Ohne ihn eines Blicks zu würdigen, schritt sie an ihm vorbei.
Ein paar Minuten später sahen Vater und Sohn vom Portal der Eingangshalle zu, wie sie in den Wagen stieg, der sie zu ihrem Schiff bringen sollte. Der Fahrer wartete, bis sie im Auto Platz genommen hatte, dann schloss er die Tür hinter ihr und warf einen kurzen Blick zu den beiden Männern.
Ruud fragte: „Warum fährt sie nicht Albert?“
Bengt erwiderte: „Hat sich heute morgen krank gemeldet.“
Fast unmerklich nickte er dem Mann zu und erst jetzt stieg der Fahrer ein. Das Auto fuhr an, umkurvte das Rondell mit dem Springbrunnen vor dem Haus und bog in die öffentliche Straße ein. Als es unter dem Blätterdach der Bäume verschwand, fragte Bengt: „Sie weiß ein bisschen zu viel über dich und mich. Hast du ein Problem damit?“
„Natürlich nicht.“
Ruud setzte eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern auf. „Was wird jetzt eigentlich aus ihrer Tochter, so ganz ohne irgendeinen Menschen, der ihr nahe steht? Sie müsste bald vier sein, und wenn sie nach ihrer schönen Mutter kommt ... Das arme Ding, so ganz allein in einer bösen Männerwelt ... oder war es eine Welt mit bösen Männern? Wir sollten uns um ihre Erziehung kümmern.“
Schrecklich falsch irgendeine Melodie pfeifend, spazierte er ins Haus zurück und machte sich mit bestem Appetit über das Frühstück her.

In den folgenden Jahren gab Bengt alles, was er sich über Wirtschaft, Geld und Macht beigebracht hatte, an Ruud weiter: Dass es für jede Aufgabe das richtige Werkzeug gab; dass Prostitution nichts mit Sex, sondern mit sich verkaufen zu tun hat, die wirklichen Huren nicht am Straßenrand standen, sondern in Redaktionsstuben von Zeitungen und in Regierungssälen herumlungerten und Männer waren; wie man sie bei den Eiern packte und wie man verhinderte, dass sie mit einem das gleiche machten. Alles packte er vor seinem Sohn aus, jedes schmutzige Geheimnis und jeden miesen Trick. Nur über ein Thema wurde niemals mehr im Hause Ängström gesprochen: Marit Raikkaanen.
Viel Zeit blieb dem alten Ängström nicht mehr. Ein paar Jahre später wollte er sich während einer dröhnenden Party seines Sohnes ein paar Minuten im Park erholen. Niemand hörte den Schuss, der ihn aus nächster Nähe ins Herz traf.
Es wurde der erste große Fall von Ryland Mikkelsen und Olaf Wielander, zwei Beamten der Osloer Kriminalpolizei. Schnell wurde der Alleinerbe Ruud Ängström ihr Hauptverdächtiger, doch der konnte mehr als zwanzig Zeugen aufbieten, die ihn zur Tatzeit betrunken in den Armen einer Wasserstoffblondine gesehen haben wollten und so intensiv die beiden Kriminalisten scheinbar auch jeden befragten, keiner fiel um oder verwickelte sich in Widersprüche. Die Tatwaffe wurde nie gefunden, andere Spuren gab es nicht, aber viel Druck von oben, den Fall so oder so abzuschließen und so legten Mikkelsen und Wielander den Mord nach einem halben Jahr ungeklärt zu den Akten.
Ruud erbte von seinem Vater nicht nur die Hochseeflotte und die Werften, sondern auch dessen politische Beziehungen und diejenigen, die nach dem Tod des alten Bengt auch seinem übermächtigen Druck entkommen zu sein glaubten, belehrte er schnell eines Besseren. Er war im Big Business angekommen.
Mikkelsen und Wielander kündigten ihren Dienst bei der Polizei und gründeten ein Sicherheitsunternehmen. Als diesem bereits nach ein paar Monaten der Konkurs drohte, schluckte es die Ängström Corporation und die beiden ehemaligen Kriminalisten kümmerten sich ab da nur noch um die persönliche Sicherheit von Ruud Ängström.


Kapitel 6

Ein paar Tage, nachdem Müller Christian Oldenburg aus Bad Saarow nach Berlin in die Charitee verlegen lassen hatte, wedelte Ängström ein paar Kilometer nördlich von Oslo imaginäre Staubfussel von der Sitzfläche des Sessels, den Thore Wejndahl ihm angeboten hatte und sagte mit einem dünnen Lächeln: „Sie sollten Ihrer Haushälterin kündigen. Wenn sie möchten, kann ich Ihnen gerne eine Neue empfehlen.“
Deutlich sichtbar begannen die Adern an Thores Hals zu pulsieren. Er war ein Hüne mit breiten Schultern, einem grauen Vollbart und weit auseinanderstehenden, braunen Augen, die so dunkel waren, dass sie schon fast schwarz wirkten. Wie jetzt auch kniff er sie, wenn er im ewigen Eis unterwegs war, meistens halb zusammen, um sie vor der Lichtreflexion auf dem gleißenden Schnee zu schützen. Da es in seinem Kaminzimmer eher selten schneite, konnte es auch gut an seinen Besuchern liegen. Natürlich kannte er den Industriemagnaten Ruud Ängström, wenn auch nur aus den Medien und Johannes Hakonsen hatte sich einen Namen gemacht mit seinen Veröffentlichungen über die tektonischen Plattenbewegungen unter der Antarktis. Beide waren in einem schneeweißen Bentley vorgefahren und hatten sich vom ersten Schritt an in Thores kleinem Haus benommen, als gehörte es ihnen.
Thores Bass füllte den Raum: „Sie sind von der Arbeitsvermittlung?“Ängström Lächeln wurde breiter. „Sagen wir - ich stelle Kontakte her. Sie sind in den letzten Jahren ein bisschen ...“ Er schlug ein Bein über das andere, zog den Stoff der mitternachtsblauen Anzughose aus Cashmere über dem Knie ein Stück hoch und sprach dann weiter: „... unter die Räder gekommen. Nicht jedem liegt das Leben in einer so großen Stadt. Es ist eine Wolfshöhle für Raubtiere auf zwei Beinen und Sie werden hier untergehen, wenn Sie nicht bald wieder in Ihre Gefilde zurückkehren. Ihr Revier ist die große unberührte Weite, dort sind Sie zu Hause, dort kennen Sie sich aus. Das ist es, was Ihnen fehlt und natürlich keine Haushälterin. Ich bezahle das Ticket dorthin für Sie.“
„Ein Arbeitsvermittler von der Heilsarmee“, sagte Thore.
Die schmalen Lippen Ängströms zitterten einen Moment, doch seine Stimme verlor nichts von ihrer Freundlichkeit. „Sehen Sie, die Antarktis ist eine der letzten Herausforderungen der Menschheit, ein wildes, ein weites Land. Wer es einmal gesehen hat, den lässt es nie mehr los, sagt man. Sie wissen, wovon ich spreche. Doch sie gibt sich nicht so einfach geschlagen. Millionen Tonnen Edelmetalle und Milliarden Barrel Rohöl warten nur darauf, von mutigen Leuten wie Sie entdeckt und für die Zukunft der Menschheit nutzbar gemacht zu werden. Dazu braucht es neben einer gewissen Skrupellosigkeit gegenüber Politikern, falschen Weltrettern und was es noch alles von dem Gesocks gibt, vor allem Geld, und zwar jede Menge; motivierte und gute Leute; ausreichend Zeit für ihr Training; mindestens ein Schiff; eine perfekte Logistik und eine exakte Planung für jede Etappe. Das alles habe ich oder kann es organisieren, aber ich weiß auch, dass es zum Schluss immer nur auf einen Mann ankommt – den, der die Expedition ans Ziel und vor allem wieder zurückbringt. Den Mann, der diese Investitionen erst lohnenswert macht, jemanden wie Sie. Fünfhunderttausend Dollar ist mir das wert. Immerhin kennen Sie den Weg und sind ihn schon für weniger gegangen. Für viel weniger. Und was hat es ihnen eingebracht?“
„Offenbar den Besuch eines Arbeitsvermittler von der Heilsarmee, der sich gerne reden hört.“
Das Lächeln auf Ängströms Gesicht trocknete aus. „Vorsichtig, ja? Ihr Ruhm wischt keinen Dreck ab, Wejndahl. Wenn man nur genug Mist draufpackt, bleibt er auch kleben. Wie den von ihrer letzten Expedition zum Beispiel.“
„Sie marschieren gerade in ein Minenfeld.“ Thore beugte sich vor, nicht weit, aber weit genug, die Drohung mit seinem massigen Körper zu unterstreichen.
Ängström hob seine Hand und auch sein Lächeln kehrte zurück. „Mein lieber Freund, ich weiß, dass Sie nicht schuld waren an dem Desaster. Ich weiß es und alle anderen auch. Olsbue hat mit viel Geld Ihren Ruf unter einem Haufen Lügen begraben und wir drei hier wissen, warum er das gemacht hat, oder? Ich kann das regeln, ist nicht so schwierig, wie Sie vielleicht denken. Als Erfolgsprämie.“
Thore lehnte sich wieder zurück. „Den Mann können Sie nicht kaufen.“
„Man kann jeden zum Schweigen bringen. Auch Marten Olsbue. Auf die eine oder die andere Art. Unter der Voraussetzung, dass Sie eine Expedition zum Mount Kirkpatrick führen und sie auch wieder zurückbringen. Können Sie das?“
Ängström legte eine Luftbildaufnahme auf den Tisch.
„Vermutlich schon.“
„So fangen alle Katastrophen an. Mit einer Vermutung. Sie haben sich das Bild noch nicht einmal angesehen.“
„Und Sie mir nicht gesagt, was Sie da wollen.“
Ängström warf Hakonsen einen kurzen Blick. Sein Aussehen erinnerte an einen Windhund – lang und dünn, eine hohe, ein wenig nach hinten geneigte Stirn und eine zu große Nase, die sie fast in einer Linie verlängerte. Schon während Ängström gesprochen hatte, war der Blick aus seinen wässrigblauen Augen ständig hin- und hergehuscht und seine Hände und Füße keine Sekunde bewegungslos gewesen. Jetzt legte ein mit einer hastigen Bewegung ein silberweißes, unregelmäßig geformtes Stück Metall neben das Foto. Es war nicht größer als eine Zigarettenschachtel.
„Elementares Titan, Rohstoff der Zukunft. Überall auf der Erde sucht man danach, ohne es in abbauwürdiger Größenordnung zu finden.“ Er sprach schnell, als hätte er Angst, dass jemand ihm ins Wort fiel. „Das sucht man. So etwas existiert nur in der Theorie. Wir sind einem solchen Vorkommen auf der Spur. Diese Probe hat mein Vater vor zwanzig Jahren von einer Expedition mitgebracht. Seiner Expedition.“
„Er hatte auch ein paar Leichensäcke dabeigehabt, als er zurückkam“, dröhnte Thore.
„Sie kannten ihn?“
„Ich kenne die Antarktis.“
Mit einem leisen Knall zersprang eines der Holzscheite im Kamin. Eine rote Flamme züngelte aus den Bruchstücken empor und der Metallklumpen aus der Kältehölle warf Lichtreflexe an die Wand, genau auf einen Stahlstich über dem Kamin. Ein alter Dampfsegler kämpfte sich darauf durch eine bleigraue, hoch wogende See. Das Schiff war angeschlagen und es sah so aus, als würde es seine letzte Reise sein.
Mit schlanken Fingern trommelte Ängström auf die Tischplatte. „Sehr gesprächig sind Sie nicht.“
„Schlechte Angewohnheit. Wo Sie mich hinschicken wollen, herrschen um die minus vierzig Grad. Wenn es warm ist. Bei jedem Wort saugt die Kälte das aus, was einen da draußen am Leben erhält: Energie und Wärme.“
„Wir sind in Oslo.“
„Ist manchmal auch eine Frage der Gesellschaft.“
„Sie sind sehr direkt.“
„Sagte die Titanic zum Eisberg.“
Eine steile Falte erschien zwischen den Augenbrauen des Reeders und Thore stieß ein polterndes Lachen aus.
„Dumm aber auch, dass mir die Kälte nicht die grauen Zellen eingefroren hat, was? Ich will Ihnen mal was sagen, Mister Ängström. Der Antarktissperrvertrag verbietet jede kommerzielle Suche und den Abbau von Bodenschätzen. Selbst wenn es ihn nicht gäbe, kann keiner tausende Tonnen Technik für ihre Titanmine durch das Transantarktische Gebirge transportieren und das gewonnene Erz wieder zurück; Ihre Bergbaumaschinen funktionieren bei Minus sechzig Grad nicht, weil jedes Schmiermittel zu Eisklumpen wird und es gibt auch kein Wasser am Mount Kirkpatrick, das Sie für Ihre Mine Ihre Arbeiter brauchen. Da, wo sie hinwollen, ist es trockener als in der Atacama. Verdammt, da ist wahrscheinlich noch nie eine Schneeflocke vom Himmel gefallen!“
Thore lehnte sich vor und seine Stimme wurde dunkel und rau. „Haben Sie schon mal etwas von katabatischen Stürmen gehört? Es gibt sie nur da, im Gebirge. Niemand sieht sie kommen, nichts kündigt sie an. Fallwinde, mehr als dreihundert Kilometer pro Stunde schnell; unaufhaltsam und sie vernichten alles, was ihnen im Weg ist und es ist wurscht, ob Sie sich auf freier Fläche hinlegen oder in einem Felsspalt verstecken. Sie werden angesaugt und als Fleischklumpen wieder ausgespuckt. Ihre Expeditionszelte und Bergbaumaschinen sind für so ein Monster nicht mehr als was für den hohlen Zahn. Keiner kann da arbeiten, Mister. Sie lügen mir die Hucke voll. Sie sind ein paar Millionen schwer und unterhalten sich persönlich mit so nem abgehalfterten Expeditionsleiter wie mir anstatt dass Sie mir einen von Ihren Lakaien auf den Hals hetzen. Warum?“
„Vielleicht, weil ich mich selbst davon überzeugen wollte, dass Sie genau der Richtige sind für das, was wir wollen?“
„Dann rücken sie gefälligst raus damit!“
Ängström zupfte wieder mit spitzen Fingern einen imaginären Staubfussel von seiner Hose. Scheinbar hatte Thores Tirade ihn eher amüsiert als erbost. Er griff nach dem Titanklumpen und drehte ihn im Licht vor seinen Augen. „Er stammt tatsächlich von da. Vielleicht ein Nebenprodukt. Wer weiß?“
Nach einem kurzen Blick auf Hakonsen und dessen fast unmerklichem Nicken sagte er: „Ich hätte es mir denken können. Also die Wahrheit. Sie werden verzeihen, dass ich dazu ein wenig ausholen muss. Die Energieversorgung der Erde hängt am Öl; Atomspaltung ist dreckig und hat deswegen einen schlechten Ruf; alle anderen Energiequellen reichen weder für die jetzige Mobilität und schon gar nicht für die in zwanzig Jahren. Elektroflugzeuge wird es niemals geben; Hunderttausendtonnenschiffe mit Solarzellen erst recht nicht und Panzer, ohne die keine moderne Armee auskommt, sehen hässlich aus mit einem Windrad auf dem Geschützturm. Also werden in spätestens dreißig Jahren die Lichter ausgehen und zwar endgültig. Wenn nicht schon viel früher, weil der jetzt noch verdeckte Kampf ums Öl dann offen ausgetragen werden wird. Um das vorauszusehen, muss man kein Prophet sein, nur ein funktionierendes Gehirn haben und darf sich das natürlich nicht von Zeitungen und Politikern verkleistern lassen. Alternativen sind nicht in Sicht und die Beherrschung der Kernfusion braucht mindestens noch hundert Jahre. Also werden wir sie nie haben, weil wir in spätestens fünfzig Jahren schon wieder in der Steinzeit leben. Entweder, weil uns ein zweiter Weltkrieg um das letzte Öl dahin gebracht hat - was sehr wahrscheinlich ist - oder wir keine Energie mehr haben und die Erde ein Müllhaufen ist. Deshalb wird jeder, der eine zündende Idee in dieser Richtung hat, erst in Gold aufgewogen und dann umgebracht oder gleich weggeschlossen. Es sei denn, er bleibt unter dem Radar wie Johannes Hakonsen hier neben mir. Er hört es nicht gerne, aber er ist ein Genie und einem Phänomen unter der Antarktis auf der Spur, das alle diese Probleme lösen könnte. Er sagt, dass sich dort Energien verstecken, die, wenn wir sie beherrschen lernen, einen Sprung ins nächste technologische Jahrhundert ermöglichen könnten und ich glaube ihm. Vier Jahre habe ich unter absoluter Geheimhaltung in seine Forschungsarbeit investiert und ich will nicht, dass andere die Lorbeeren ernten, die ich bezahlt habe. Deshalb werden wir auch keine schwere Transporttechnik einsetzen, die man orten kann, sondern den Weg ab dem Basislager zu Fuß machen.“
Er stand auf. Lässig legte er sich seinen Mantel über die Schulter und warf seine Visitenkarte auf den Tisch. „Ich verstehe, dass Sie Bedenkzeit brauchen. Die Expedition wird kein Zuckerschlecken. Erst recht nicht, weil alle Vorbereitungen unter Ausschluss nicht nur der Öffentlichkeit, sondern aller Leute stattfinden müssen. Aber lassen Sie mich nicht zu lange warten, auf meiner Liste stehen noch andere, nicht viel schlechter, als Sie es einmal waren und ich habe nur ein Ticket zu vergeben. Und bevor ich es vergesse – sollten Sie ablehnen, hat dieses Gespräch natürlich nie stattgefunden. Reden Sie nicht darüber. Ich würde es erfahren und es würde mich nicht zu einem freundlichen Menschen machen. Auf die eine oder die andere Art. Guten Tag, Herr Wejndahl.“
Betont langsam zog er seine Handschuhe an. Thore rührte sich nicht. Tief in Gedanken versunken blickte er auf das Bild mit dem kämpfenden Schiff. Ängström zuckte die Schultern, eilte hinaus und auch Johannes Hakonsen erhob sich. „Sie sollten sein Angebot wirklich annehmen. Ein Besseres wird er nicht machen.“
Auch von ihm nahm Thore keine Notiz und kopfschüttelnd eilte der Geologe Ängström hinterher.

Thore zündete sich eine Pfeife an und sah auf das Foto, das Ängström liegengelassen hatte. Oben links in der Ecke waren Koordinaten und Höhenangaben in weißer Schrift aufgedruckt. Das Sattelitenfoto zeigte ein kleines Plateau am Mount Kirkpatrick in dreitausendfünfhundert Meter Höhe, weit über dem kilometerhohen Eispanzer, der den Rest der Antarktis in seinem Würgegriff hielt. Aber hier gab es keinen Schnee, die Luftfeuchte lag bei null Prozent, und es war mörderisch kalt.
Um dahin zu gelangen, musste man vom Ross Schelf zu Fuß durch das Transantarktische Gebirge marschieren; die letzten vielleicht einhundert Kilometer vom Basislager aus mit fünfzig Kilogramm Gepäck auf dem Rücken für jeden und am Ziel war nichts weiter als minus sechzig Grad kalter, nackter Stein; so hart, dass man nicht einmal ein Grab schaufeln konnte. Es war der innere Kreis der Hölle, zu dem schon der Weg eine Selbstmordpiste war. Niemand, der sich auch nur ein wenig in der Antarktis auskannte, würde sich das zutrauen. Niemand außer Thore Wejndahl.
Er ließ den Hinterkopf gegen die Rückenlehne des Sessels sinken. Mit geschlossenen Augen rauchte er, bis jeder Tabakkrümel verbrannt war. Sorgfältig klopfte er den Pfeifenkopf am Kamin aus, reinigte die Pfeife und verpackte sie wieder in ihrem Beutel. Dann suchte er in seinem abgegriffenen Notizbuch nach der Privatnummer von Marten Olsbue und langte nach dem Telefon.
Fünfmal klingelte es, bevor abgehoben wurde. „Es gibt nicht viele, die diese Nummer kennen.“
„Was wissen Sie über Ruud Ängström?“
Lange blieb es still in der Leitung und Thore hörte das Atmen am anderen Ende, heftig und schnell. Schließlich erwiderte der Medienzar: „Ich nehme an, Sie haben sich gut überlegt, ob Sie mich fragen oder nicht. Wir sind dann quitt. Sie wissen, was das für Sie heißt.“
Natürlich wusste Thore das. Olsbue würde die Samthandschuhe ausziehen. Aber er wusste auch, dass Olsbue alt geworden war über der Trauer um seinen Sohn und längst nicht mehr der Mann, der in der Antarktis auf Augenhöhe mit Thore und dem kalten Tod gewesen war.
Thore sagte: „Ja.“
„Also gut.“
Ein hartes Geräusch erklang, als wäre der Hörer auf eine Tischplatte gelegt worden, ein Schlüssel wurde in ein Schloss gesteckt, dann das Geräusch einer Schublade in einem Aktenschrank aus Stahl, die geöffnet wurde; kurz darauf heftiges Atmen und der Laut, der entsteht, wenn Seiten durch Finger rauschen, schließlich wieder die Stimme von Marten Olsbue: „Also passen Sie auf. Der Drecksack wollte auch meine Zeitung haben, deswegen habe ich ihn im Auge. Krankhaft ehrgeizig, pathologischer Frauenhasser, skrupellos und wenn er die Hand zwischen ihre Beine bekommt, können Sie davon ausgehen, dass er auch drückt, bis Blut kommt. Interessiert sich nicht für Partys, nichtmal für Geld, ist nur Mittel zum Zweck für ihn. Hat gute Leute, teilweise noch von seinem Vater, die sich um das Management kümmern, das macht ihm die Hände frei, da aufzutauchen, wo es brennt. Mit Papierkram und Verwaltung gibt er sich nicht ab. Hat in den letzten Jahren auf fremdem Terrain gewildert; Metallurgie, Medien, Medizin und Forschung. Beste Kontakte zum Militär, wahrscheinlich auch zum Geheimdienst, politischer Einfluss sowieso. Man munkelt, dass eines seiner Labore komplett vom Militär finanziert wird und dass sie da irgendwelche Schweinereien ausbrüten. Ebenso, wie man munkelt, dass er nicht ganz unbeteiligt am Tod seines Vaters war. Jedenfalls arbeiten die beiden Bullen, die den Mord untersucht haben, jetzt für ihn und das sind zwei ziemliche Höllenhunde. Mikkelsen bevorzugt Körperverletzung, Wielander hört seine Opfer gerne schreien, sagt man.“
„Der Ängström sah aus, als wäre er noch nicht einmal dreißig...“
„Das macht ihn so schwierig. Er kennt keine Vorsicht, auch wenn er ziemlich weit vorausplant. Vor ein paar Jahren hat er sich mit Johannes Hakonsen zusammengetan, Geologe, leider wirklich gut in seinem Fach, Narzisst vom Feinsten, Geltungsbedürfnis vom Größten. In der Akademie haben sie sich vor zehn Jahren totgelacht, als er erklärt hat, unter der Antarktis gäbe es riesige Hohlräume. Das Lachen ist ihnen im Hals steckengeblieben, als die Russen unter ihrer Station Wostok eine Höhle lokalisiert haben, die über tausend Kilometer lang und mehr als vier Kilometer tief ist. Seit dem kriegt er die Nase gar nicht mehr aus den Wolken.“
„Deswegen ...“, murmelte Thore.
Offenbar hatte Olsbue gute Ohren. „Sie fragen doch nicht ohne Grund. Hat er Ihnen ein unmoralisches Angebot gemacht?“
„Kann man so sagen.“
„Also Antarktis, wenn er zu Ihnen gekommen ist?“
Thore schwieg und Olsbue brummte: „Lehnen Sie es ab.“
„Warum?“
„Ich drück es mal so aus: Wenn man zwei Uranteile, die für sich nicht allzu gefährlich sind, aufeinanderschiesst, gibt es eine Atomexplosion und danach ist nichts mehr, wie es mal war. Auf den beiden Teilen stehen Namen: Hakonsen und Ängström.“
„Was hat das mit mir zu tun?“
„Sie teilen nicht. Ängström nicht seine Macht und Hakonsen nicht seinen Ruhm. Wenn sie für die in der Antarktis die Drecksarbeit machen sollen, werden Sie der Dumme sein anschließend. Das wäre aber nur die Variante, in der es noch gut ausgeht für Sie. Die andere ... ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine.“
Thore schwieg und auch Olsbue atmete nur am Hörer. Schließlich sagte Thore: „Es tut mir leid, Marten.“
Olsbue knurrte: „Kommt ziemlich spät.“
Dann, nach ein paar weiteren Sekunden Schweigen: „Ach, zum Teufel. Ich bin ein alter Mann, einen Sohn hab ich noch, der führt eigentlich schon die Firma. Ich lass Sie erstmal in Ruhe. `S gibt nicht mehr so viele Dinosaurier wie uns, oder? Wir müssten eigentlich unter Artenschutz stehen. Wie ich Sie kenne, werden Sie doch machen, was Ängström will. Bis sie wiederkommen, kann ich mir immer noch überlegen, ob ich Ihnen den Hals umdrehe oder nicht.“
Ohne eine Antwort Thores abzuwarten, legte er auf und Thore blickte wieder auf den Stahlstich an der Wand. Noch immer brach eine Welle nach der anderen über das Schiff herein und noch immer wollte es nicht aufgeben. Vielleicht war es sogar in Oslo ausgelaufen, irgendwann, vor langer Zeit. Doch jetzt starb es, Planke für Planke, und es würde nie wieder nach Hause zurückkehren.

Kaum saß Hakonsen im Fond des Bentley, fuhr der Wagen an. Schnell und geschickt fädelte der Fahrer ihn in den Freitagnachmittagsverkehr ein.
„Das ist nicht so gelaufen, wie wir es wollten“, sagte Hakonsen.
Ängström sah aus dem Fenster. „Es war perfekt.“
„Aber er hat abgelehnt.“
Der Reeder drehte sich zu Hakonsen und warf ihm eine weiße Aktenmappe auf den Schoß. „Du solltest dich ab und zu auch darum kümmern, was andere Menschen wollen. Wejndahl hat eine Rechnung offen mit der Antarktis und Männer wie er hassen so etwas. Ich gebe ihm die Chance, sie zu begleichen und die wird er nicht ausschlagen. Er ziert sich nur ein bisschen. Er hatte vier paar Schuhe im Flur stehen. Auf den Millimeter ausgerichtet und peinlichst sauber. Jeden Freitag verlässt er exakt um siebzehn Uhr sein Haus und kehrt, obwohl betrunken, immer gegen zweiundzwanzig Uhr zurück, plus minus eine Viertelstunde. Am Letzten jedes Monats befinden sich nie weniger als fünftausend Kronen auf seinem Konto, mit denen er, wenn er kein Geld überwiesen bekommt, einen weiteren Monat überleben könnte. Die Liste seiner Zwänge ist noch viel länger und er hält sich eisern an sie, weil ein Verstoß von ihm gegen seine eigenen Regeln auf seiner letzten Reise zwei Leute das Leben gekostet hat. Marten Olsbue stürzte in eine Eisspalte und Wejndahl hat sich von dessen Sohn gegen jede Logik überreden lassen, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Wejndahl selbst kam knapp mit dem Leben davon und konnte Olsbue retten, aber der Sohn und ein Helfer starben dabei und dass hat Olsbue Wejndahl nie verziehen. Aber er steht in Wejndahls Schuld, schließlich hat der ihm das Leben gerettet. Also hat Olsbue nur einen Haufen Leute bezahlt, Wejndahls Ruf durch die Kloake zu ziehen, statt ihn umbringen zu lassen. Gut für uns, denn sollte Wejndahl unwahrscheinlicherweise zurückkehren, wird ihm niemand auch nur ein Wort glauben. Wie gesagt - es ist perfekt.“
„Ich mag ihn nicht.“
„Ah, das passt schon. Aber unterschätz ihn nicht. Auch wenn du ein Jahr mit deiner Frau in der Arktis trainiert hast und ihr die fittesten Wissenschaftler seid, die ich kenne - er ist ein Fuchs und hat sein ganzes Leben in der Kälte verbracht. Würde mich nicht wundern, wenn er von selbst darauf käme, dass du das Tor finden willst. Also pass auf, was du tust. Auch bei der Auswahl der Leute für Deine Expedition. Wir müssen sie ausschreiben, sonst bekomme ich keine Geld von der Regierung dafür. Mikkelsen und Wielander werden zwar jeden unter die Lupe nehmen, der sich meldet, aber trotzdem kann etwas schief gehen. Ich habe andere Probleme, um die ich mich kümmern muss. Orstchov sagt, dass die Blutprobe, die Johanna aus Ostdeutschland mitgebracht hat, ihm nicht weiterhilft.“
Pikiert erwiderte Hakonsen: „Also war das Risiko, dem ihr sie ausgesetzt habt, umsonst. Das habe ich doch gleich gesagt!“
Trotz der Sorgenfalten brachte Ängström ein Grinsen zustande. „Dein Schätzchen hat mehr Zutrauen zu ihren Fähigkeiten als du. Aber wir kommen mit dem Perverdrin nicht weiter. Wir haben Millionen kassiert und irgendwann müssen wir liefen, sonst drehen sie uns den Hahn ab. Ganz zu schweigen davon, dass ich meine eigenen Pläne damit hab.“
Hakonsen zuckte die Schultern und griff nach dem weißen Aktenordner, den ihm Ängström hingeworfen hatte. Dessen Probleme mit der Weiterentwicklung von X-44 interessierten ihn nicht. Er hatte seine Expedition, die ihm Weltruhm einbringen würde und das Ängström das Ziel geheim hielt, würde sich spätestens in dem Moment erledigt haben, in dem er, Johannes Hakonsen, durch das Tor schritt.
Ängström knurrte: „Dass ich dann deine Expedition auch nicht mehr finanzieren kann, ist dir hoffentlich klar!“



Kapitel 7

Nirgendwo war es einfacher, andere ungestört zu beobachten und selbst nicht aufzufallen, als in einer möglichst großen Ansammlung von Menschen. Wenn du unerkannt bleiben willst, wenn du in Gefahr bist oder dich unsichtbar machen musst - geh da hin, wo viele Menschen auf engstem Raum sind. Selbst eine Tätlichkeit, sogar ein Mord war hier möglich, weil in der entstehenden Verwirrung niemand mehr wusste, wer ihn begangen hatte und der Täter sofort in der Masse untertauchen konnte. Dass zu wissen, war ein Bestandteil der Ausbildung von Sven. Müller wäre wahrscheinlich begeistert gewesen von dem um diese Nachmittagszeit hoch frequentierten Kaffee am Spreeufer gegenüber dem Berliner Dom und der Museumsinsel, das Sven für sein Treffen mit Major Kerstin Wendt gewählt hatte.
Sonntagsspaziergänger und Tagesbesucher drängelten sich auf den Fußgängerwegen der Liebknechtbrücke gegenüber, viele davon aus Westberlin. Die Fotoapparate schussbereit, zielten sie, als seien es Zielfernrohre von Waffen auf alles, was ein brauchbares Motiv für die Kinder und Enkel abgeben konnte. Sie wimmelten durcheinander wie Ameisen und niemand von ihnen dachte bei dem strahlenden Sonnenschein an eine Gefahr.
Die Nachmittagssonne brannte Sven direkt ins Gesicht. Er drehte den gelben Korbstuhl ein wenig mehr zur Seite und musterte unauffällig durch die dunklen Gläser seiner Brille die Gäste an den anderen Tischen. Niemand schien von ihm mehr als nötig Notiz zu nehmen und das er mit seinen breiten Schultern, der grauen Kurzhaarfrisur und seinem wie gemeißelt wirkenden Gesicht des Öfteren vor allem von Frauen mit Blicken gestreift wurde, war er gewohnt.
Auf schlanken, wunderbar braunen Beinen und mit schwingenden Hüften schlängelte sich die junge Bedienung zwischen den Tischen zu ihm hindurch, er bestellte einen Kaffee mit extra Zucker und lächelte ihr mit um eine Winzigkeit nach oben gezogenen Mundwinkeln zu. Sie hatte wirklich schöne Beine.
High Heels trippelten in seinem Rücken, das Geräusch näherte sich, ein Hauch von Kamille wehte ihm in die Nase, zwei Arme schlangen sich von hinten um seinen Hals und weiche Lippen flüsterten an seinem Ohr: „Du schaust also anderen Frauen auf den Hintern. Hast du meinen so schnell vergessen?“
Er zog ein wenig den Kopf ein. „Die Beine, meine Liebe; die Beine. Und warum nicht? Sie sind doch schön.“
Flüchtig küsste sie ihn auf die Wange und warf dabei einen verstohlenen Blick an seinem Kopf vorbei in die Runde, dann nahm sie ihm gegenüber Platz, öffnete ihren hellen Sommermantel und zupfte das Sommerkleid mit den karmesinroten Kamelien darunter über ihren schmalen Knien zurecht. Rabenschwarze Locken umrahmten ihr Gesicht und Major Kerstin Wendt wirkte trotz ihrer neununddreißig Jahre noch immer wie ein Mädchen, wog nur knappe fünfzig Kilogramm und war so feingliedrig wie eine Meißner Porzellanpuppe. Doch dort, wo ihre Haare aus der Kopfhaut wuchsen, zeigte sich Grau, und um ihren Mund wanden sich winzige Fältchen, gegen die auch Schminke machtlos war.
„Wie war deine Fahrt?“ Ein wenig Angespanntheit schwang in ihrer Stimme. Vielleicht war es die Nachmittagshitze.
Er erwiderte: „Wie immer. Von Schwerin nach Berlin ist ja nun keine Weltreise. Am Sonntag ist die Autobahn leer. Bei diesen Temperaturen erobern die Berliner die Ostsee, nicht andersherum.“
„Die, die es sich leisten können und ein Auto haben.“ Sie bestellte einen Schoppen Erlauer Stierblut.
„Schwerer Rotwein bei der Hitze? Kopfschmerzen kennst du wohl nicht, oder?“
„Es gibt wenig, was mir Kopfschmerzen macht. Rotwein gehört nicht dazu.“
Mit verkniffenen Lippen sah sie an ihm vorbei und auch er schwieg, bis die Kellnerin mit den schönen Beinen den Rotwein brachte.
Für eine Sekunde blendete ihn eine Sonnenspiegelung. Es konnte eine Autoscheibe gewesen sein oder ein Fenster, das geöffnet wurde. Er drehte ein wenig seinen Kopf, nicht so weit, dass er direkt in die Richtung blickte, hob dann entspannt die Kaffeetasse zum Mund und fixierte aus den Augenwinkeln den vielleicht zwanzig Meter entfernt stehenden Mann mit dem Tirolerhut. Er lehnte am Geländer, das das Spreeufer und den Anlegesteg von dem Bereich des Kaffees trennte und fotografierte mit einer Kamera mit einem auffallend großen Objektiv zur Museumsinsel hinüber. Vielleicht war es nur ein Tourist oder ein Fotograf, der hier nach Motiven für eine Postkartenserie suchte. Möglich, dass er sich gedreht hatte und die Linse des Teleobjektivs die Sonnenstrahlen in dem Sekundenbruchteil gespiegelt hatte, als sie auf Sven gerichtet gewesen war.
Er senkte die Stimme: „Hast du dich absichern lassen?“
„Dir entgeht auch nichts.“
„Nein, mir entgeht nichts. Ich sehe alles, außer dem, was hinter deiner Engelslarve vorgeht.“
Sie zog einen Schmollmund und es verlieh ihr den unschuldigen Charme eines kleinen Mädchens. „Du bist mir immer noch böse. Ich hatte dir gesagt, es ist nicht für die Ewigkeit.“
„Vielleicht hättest du sagen sollen: Es ist für die Katz.“
Ein Ausflugsdampfer tutete auf der Spree und legte an. Die Menschen gingen von Bord und winkten. Sie hatten den Sonntag und den Blick auf die Sehenswürdigkeiten der Museumsinsel genossen; strömten jetzt den Steg hinauf und stauten sich an dem schmalen Durchgang vor dem Kaffee.
Sie räusperte sich. „Aber du siehst Gespenster. Wenn, dann sind es nicht meine Leute. Du hast den Treffpunkt so kurzfristig geändert, dass ich nichts mehr hätte organisieren können. Nicht mal, wenn ich es gewollt hätte. Was macht dein Sohn?“
„Interessiert dich das wirklich?“
„Nein. Ich wollte es dir nur leichter machen. Aber wenn du nicht willst ... Hier sind deine Informationen.“ Sie legte ein zusammengefaltetes „Neues Deutschland“ auf den Tisch.
„Ich sage es dir trotzdem.“ Er ignorierte die Zeitung, nahm die Sonnenbrille ab und schaute ihr ins Gesicht. „Er ist zu Hause, hat sich für ein Fernstudium beworben, weil er ein bisschen schlecht zu Fuß ist seit ein paar Monaten und für den Rest seines Lebens eine Krücke brauchen wird. Es geht ihm gut, manchmal lacht er sogar, was er früher nie getan hat. Doch manchmal wünschte ich mir, er würde es lassen, weil es klingt wie das Echo aus einer Hölle, die nur er kennt.“
Flüchtig berührte sie ihn am Arm. „Es tut mir leid, wirklich.“
Sven setzte seine Brille wieder auf. „Ich danke dir. Ich werde es ihm ausrichten. Was hast du für mich?“
„Bist du noch kältefest?“
„Soweit ich mich erinnere, habe ich in einem anderen Leben, als ich noch Geologe war, meinen Fuß schon einmal auf den Nordpol gesetzt, zusammen mit der Besatzung eines sowjetischen Atom-U-Bootes. Außerdem habe ich dich überlebt. Kältefester geht ja wohl nicht.“
Indigniert verzog sie das Gesicht. Ihr Panzer aus kühler Überlegenheit bekam Risse. „Würdest du bitte dienstlich bleiben. Es ist deine Haut, die auf dem Spiel steht.“
Er nickte nur und scannte hinter seiner Sonnenbrille versteckt mit seinen Blicken weiter die Umgebung. Der Mann mit dem Tirolerhut wendete ihnen den Rücken zu und schien sich nicht mehr für sie zu interessieren.
Sie fuhr fort: „Du gehst nach Westberlin. Von da aus fliegst du nach Frankfurt und dann nach Reykjavik. Dort triffst du Joachim Detjen, einen westdeutschen Geologen. Er sieht dir gar nicht mal so unähnlich. Er hat eine Einladung zu einer norwegischen Antarktisexpedition bekommen. Alles, was wir dazu wissen, ist in deinen Unterlagen. Der Gute träumt von einer eigenen Rinderzucht in Argentinien. Wir verschaffen sie ihm.“
Unauffällig tippte sie auf die Zeitung. „Leiter ist Johannes Hakonsen, extrem ehrgeizig, verheiratet, seine Frau ist als Expeditionsärztin ebenfalls mit dabei. Sie arbeitet für „Ängström Medicline & Pharmaceuticals“ als Humangenetikerin. Nach unseren Informationen die gleiche Firma, in der auch ein Boris Orstchov arbeitet. Müller meint, der Name würde dir etwas sagen.“
Fragend blickte sie ihn an, er nickte und sie fuhr fort: „Wir haben deshalb Grund zu der Annahme, dass beides miteinander zu tun hat, denn einen Teil der Expeditionsfinanzierung stammt von Ängström selbst. Selbst wenn nicht, wollen wir, dass du nach der Rückkehr da bleibst und dir die Labore der Firma etwas genauer ansiehst. Auch hier meinte Müller, du könntest dir denken, warum. Also sei ein netter Junge und schleim dich bei den Hakonsens ein. Zu seinem Kernteam gehört auch ein Spezialist für hochenergetische Strahlung und einer für Ultra- und Infraschall. Das ist alles, der Rest steht in dem Dossier.“
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Das ist alles ziemlich riskant und ich weiß nicht, warum gerade du dich darauf einlässt, wo dein Sohn dich doch braucht.“
Sie zuckte die schmalen Schultern, nahm die Sonnenbrille ab und schaute ihn an. „Ich bin nicht so kalt, wie du denkst und eigentlich weißt du das auch noch. Oder war ich so schlecht, dass du es vergessen hast?“
„Ich vergesse nie etwas.“
„Siehst du.“ Sie lächelte und es sah fast glücklich aus. „Deswegen sage ich dir noch etwas und das habe ich herausgefunden, Müller hat das nicht interessiert. Weil ich nicht will, dass du in etwas hineinläufst. Hakonsen hat nur zwei Wissenschaftler akzeptiert, die nicht zu seinem Kernteam gehören. Einen Engländer und Joachim Detjen. Sie kennen sich nicht, aber alle beide haben eines gemeinsam: Sie haben keine Familie, niemand, der darauf wartet, dass sie zurückkommen.“„Und das hat nichts damit zu tun, dass du etwas wissen willst, was nur Müller und ich wissen?“
Er griff nach der Zeitung, rollte sie nachlässig zusammen und stopfte sie in die Innentasche seiner alten Lederjacke.“
Leise lachend beugte sie sich näher zu ihm. „Vielleicht. Wäre das wirklich so schlimm? Du kommst frühestens in ein oder zwei Jahren wieder. So lange, in der Kälte, ohne Frau, ein Mann wie du ... Wie wäre es mit einem Abschiedsgeschenk? Ich für dich und du für mich?
Lange schaute er sie an und sie wich seinem Blick nicht aus. Gerade legte wieder ein Schiff der Weißen Flotte an, die Ein- und Aussteigenden drängelten sich auf dem Weg vor dem Kaffee und plötzlich lächelte Sven.
„Warum eigentlich nicht. Deiner Logik und deinem Körper hatte ich noch nie etwas entgegenzusetzen. Dann lass uns gehen. Wie lange haben wir Zeit?“
„So lange wir Spaß haben, mein Lieber“, gurrte sie und nahm seinen Arm. „Es weiß niemand, dass ich hier bin. Aber du denkst an meine Belohnung, ja?“
„Natürlich.“
Er warf einen Geldschein auf den Tisch und drängelte sich mit ihr in die Menschenmenge, die jetzt ins Stocken geriet, weil die Türen an der Anlegestelle geschlossen wurden und immer noch Leute dastanden, die denen, die ausgestiegen waren, den Weg blockierten. Eingekeilt in der Menge mussten sie warten, bis sie wieder in Bewegung geriet.
Sven stand ganz dicht vor ihr und sagte: „Nimmst du bitte deine Brille ab?“
Sie schmiegte sich an ihn. „Du willst mich doch nicht etwa küssen? Hier, vor allen Leuten.“
„Ich möchte deine Augen sehen.“
„Das sollst du, mein Lieber“, hauchte sie, nahm die Brille ab und öffnet leicht ihre Lippen, als erwartete sie seinen Kuss.
Sven musste sich nicht einmal anstrengen. Er musste nur das Tor zu dem dunklen, kalten Verlies öffnen, in dem die rasende Wut, die ihn am Krankenbett seines Sohnes gepackt hatte, darauf lauerte, dass er sie endlich herausließ. Sie und seine Ausbildung waren es, die seine Faust mit der Gewalt eines Dampfhammers in den zerbrechlichen Körper von Major Kerstin Wendt trieben und ihr vier Rippen brachen, von denen zwei ihr Herz durchbohrten. Sie konnte nicht einmal mehr schreien.




Kapitel 8


Hast du das große Schweigen erlebt,
hast du gewagt, das Unbekannte aufzusuchen,
unbekannte Wege begangen,
die weißen Flecke der Karte gekreuzt,
hast du entbehrt, gedürstet, gesiegt,
bist du aufgegangen in der Größe des Alls?
Hast du Gott in seiner unendlichen Größe gesehen,
den Text gehört, den die Natur dir predigt?
Dann lausche auf die Weite, sie ruft dich zurück!
Fridtjof Nansen



Gary Winston war ein Antarktisneuling. Eine Chance, Erfahrungen zu sammeln, bekam er nicht mehr, er starb noch unter dem Eis des Ross-Schelfs. Nur ein paar Kilometer vom Schiff entfernt rutschte der Engländer zwischen zwei Eisblöcke. Eine plötzliche Welle darunter ließ sie zusammenprallen und das Sicherungsseil zerfetzen, das ihn mit Sörensen verband. Winston wurde zerquetscht und das Eis und die Fluten des hier fast schwarzen Südpolarmeeres erstickte seine Schreie.
Der menschliche Körper hat einen biologischen Tag- und Nachtrhythmus und der ist vierundzwanzig Stunden lang. Der der Antarktis beträgt sechs Monate und auch, wenn sie ihre Expedition auf die Zeit des antarktischen Sommers gelegt hatten, bedeutete die nie untergehende und sich vierundzwanzig Stunden am Tag knapp über den Horizont quälende Sonne ein zusätzliches Handicap für jeden von ihnen. Ein viertel Jahr am Rand der Antarktis in einer voll ausgerüsteten und klimatisierten Station hatte Thore gefordert, damit die Expeditionsmitglieder sich akklimatisieren konnten und für das Training. Bekommen hatte er einen Monat und Zelte, in denen es zwar an Brennstoff und damit an Wärme nicht mangelte, aber wer eine warme Dusche wollte, musste zum Schiff zurück auf dem Weg, auf dem Winston gestorben war.
Bergander und Wennigsen, Geologen wie Hakonsen, erwischte es nach fast achthundert Kilometern an einem Pass im transantarktischen Gebirge, nur einen Tag, bevor die Expedition den geplanten Standort des Basislagers erreichte. Ein Schneebrett geriet ins Rutschen, als sie unter ihm entlang marschierten, riss sie in die Tiefe und zusammen mit ihnen verschwand das einzige Funkgerät auf Nimmerwiedersehen im Abgrund. Damit waren drei der Wissenschaftler, die seit Jahren mit Hakonsen auf diese Expedition hingearbeitet hatten, tot und sein Forschungsteam bestand jetzt nur noch aus ihm selbst, seiner Frau Johanna, Björn Haggard und dem Deutschen Joachim Detjen. Eine Kommunikation mit dem Schiff war nicht mehr möglich, nicht einmal einen Notruf hätten sie noch absetzen Können und die Expedition war gescheitert.
Trotzdem wollte Hakonsen nicht aufgeben und selbst als Thore drohte, im Notfall alleine zurückzugehen und die Expedition ihrem Schicksal zu überlassen, gab Hakonsen nicht nach und so musste Thore sich zähneknirschend fügen.
Achtundvierzig Stunden später errichteten sie zehn Kilometer vor der Grenze, an der die Schnee- und Eislandschaft in die Trockenlandschaft überging, ihr Basislager. Drei Tage erholten sie sich noch einmal, dann ließen sie die Hunde zurück und fünf Träger und nahmen die letzten fünfzig Kilometer in Angriff. In dem schnee- und eisfreien Trockengebiet, das ihr Ziel war, nutzten ihnen die Schlittenhunde nichts mehr und jedes Kilogramm Hundefutter, dass sie hätten mitschleppen müssen, hätte die Last, die jeder hätte mitführen müssen, nur sinnlos erhöht.
Für Thore grenzte es fast an ein Wunder, dass sie sechs Tage später ohne weitere Verluste das Plateau unterhalb des Gipfels des Mount Kirkpatrick, das Ängström Thore auf dem Satellitenfoto gezeigt hatte, erreichten. Links und rechts des Plateaus reckten sich Felswände unersteigbar senkrecht in die Höhe, hinter ihnen lagen die zerklüfteten Grate, durch die sie sich einen Weg bis zu ihrem Ziel erkämpft hatten und knapp drei Kilometer Luftlinie entfernt ragte die nackte Spitze des Mount Kirkpatrick vor ihnen wie eine stumme Drohung in den Himmel. Das Plateau selbst war eben wie ein Fußballfeld, besaß die Form eines unregelmäßigen Siebenecks und maß ungefähr fünfhundert Meter im Durchmesser. Nichts gab es auf der freien Fläche außer dem von Bruchrissen und Versatzkanten durchzogenen Felsboden, nicht einmal Geröll oder Steine lagen herum. Leergefegt war wohl der treffende Ausdruck dafür.
Unbarmherzig hatte Thore sie die letzten Kilometer angetrieben und zu Tode erschöpft, ließ jeder seine Last fallen und setzte sich darauf, um endlich Atem zu schöpfen. Fünfzehn Männer und eine Frau waren sie noch, ausgelaugt und die meisten am Ende ihrer Kräfte. Einige hatten leichte Erfrierungen an den Gliedern und im Gesicht und jedem machte die strenge Wasserrationierung zu schaffen. Die Tatsache, dass sie vorher gewusst hatten, auf was sie sich einließen, mochte ihre Schmerzen nicht weniger schlimm machen. Thore war genau so müde wie sie. Niemanden hatte er nach den Unfällen mehr aus den Augen gelassen, war an jeder kritischen Stelle der Erste gewesen und hatte sie erst verlassen, wenn alle sie überwunden hatten; nur um dann wieder nach vorne zu marschieren und sich abermals an die Spitze zu setzen. Als Erster war er morgens aufgestanden und hatte sich abends erst in seinen Schlafsack verkrochen, wenn er sich sicher gewesen war, dass am nächsten Morgen keine bösen Überraschungen auf sie warteten. Alle hatte er zu eiserner Disziplin gezwungen und jedem, der sich nicht fügte, Feuer unter dem Hintern gemacht. Seine Erfahrung und sein kräftiger Körper hatten ihn durchhalten lassen, aber mit seinem Nervenkostüm sah es anders aus, denn Hakonsen hatte seine Geduld bis aufs Äußerste strapaziert. Immer wieder hatte der opponiert und keine Gelegenheit ausgelassen, Thores Führung in Frage zu stellen. Jetzt fühlte Thore sich wie ein Pulverfass, dem nur noch ein winziger Funke fehlte, um es zur Explosion zu bringen.
„Keine Pause, auch wenn wir alle eine brauchen“, befahl er. „Wir müssen in Bewegung bleiben, sonst kommen wir nicht mehr hoch. Noch eine Stunde und wir sind so müde, dass uns keine zehn Pferde mehr zum Aufstehen bringen. Wir bauen auf, zuerst das Forschungszelt. Wer dabei nicht gebraucht wird, kümmert sich um die Ausrüstung. Dann hat Johanna da Sprechstunde und sieht sich Eure Wehwehchen an und ich will keine Helden. Sie wir die Liste abarbeiten und wer fehlt, den hole ich persönlich. Danach besprechen wir, wie es weitergeht. Wasser, Brennstoffvorrat, Verpflegung und Gesundheitszustand von jedem, in dieser Reihenfolge, dann der Plan für morgen. Erst danach bauen wir die eigenen Zelte auf. Los jetzt!“
Die Stimmung wurde schlagartig besser, sogar Scherze flogen hin und her und es sah so aus, als verdrängte die Aussicht, ein paar Wochen lang nicht mehr marschieren zu müssen und sich regelmäßig wärmen zu können, die überstandenen Strapazen des Marsches. Thore wusste, dass der Schein trügte und dass es nichts weiter als nur eine kurzzeitige Euphorie war, die, je länger er ihr Anhalten zuließ, einen um so größeren Kräfteverfall zur Folge haben würde. Er fasste selbst mit zu, das große Zelt mit der Ausrüstung der Wissenschaftler aufzubauen und musste sich gleich ärgern, dass auch er nicht daran gedacht hatte, dass sie auf einer blanken Felsplatte kampieren würden. Sie mussten eine Weile suchen, bis sie einen Platz mit genügend Rissen fanden, in denen die Anker Halt hatten.
Als es geschafft war, gingen alle an ihre nächsten Aufgaben, nur Gunnar Sörensen neben Thore stehen. Der Hundeschlittenführer hatte sich nicht abhalten lassen, auch noch die letzte Etappe mit in Angriff zu nehmen, obwohl er hätte im Basislager bleiben können. Er war ein wortkarger Mann und wenn er einmal den Mund auftat, dann nur, um zu sagen: „Ach das bisschen. Das schaffen wir schon.“
Diesmal hatte er mehr zu sagen. „Will dich nicht kritisieren. Aber nicht besser in der Klamm da hinten?“ Er wies mit dem Arm in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Thore schnaufte. „Bullshit!“
Er drehte sich weg, doch Sörensen hielt ihn fest. „Hast du den letzten Sturm vergessen?“
Mit einem Ruck machte Thore sich frei. „Fängst du jetzt auch an, an mir rum zu meckern?“
„Ich meine nur ...“
„... dass mir das Hirn eingefroren ist oder was? Auf der freien Fläche hier nimmt der Sturm Fahrt auf, klar, aber zwischen den Felsen verdoppelt er seine Geschwindigkeit, dann kommen Steine von oben und du kannst dir aussuchen, ob du gegen die Wand geknallt oder von oben erschlagen werden willst. Noch was oder war es das?!“
„Ist ja schon gut. Wollte dir doch nicht auf die Zehen treten. Mann, Mann ...“ Sörensen stiefelte kopfschüttelnd davon.



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