Szenen ...

Haremsdame

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Heute hat sich mal wieder mein alter Trostspruch bewahrheitet: Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Schade nur, dass es jedesmal erst so weit kommen muss, dass es fast nicht mehr geht.
Gestern abend, als ich nach neun (letzte Tat: Stefans Lateinvokabeln abfragen) ziemlich erledigt zur Ruhe kam, wollte ich aus dem Keller noch einen Wein holen. Da blieb ich bei Sepp hängen. Er beschäftigte sich zwar am Computer, sprach aber trotzdem über Oma. Er teilte mir mit, dass er heute bei einem Gespräch mit ihr mal wieder erfahren habe, dass sie in ihrem ganzen Leben keine eigenen Entscheidungen getroffen habe. Zu allem, was sie tat, wurde sie von anderen vermittelt. Er schien darüber sehr bestürzt. Aber er sagte auch, dass die Oma nicht sein größtes Problem sei, sondern ich. Er meinte, es könne mit uns wieder gut werden, wenn ich auf den Level von vor drei Jahren zurück ginge und zum Beispiel mein eigenes Konto aufgebe. Es würde ihn verletzen, dass ich so großen Wert auf etwas Eigenes lege. In seinen Augen müsste mir die Familie genügen. Ich dürfte ja weiterarbeiten, aber das Geld solle auf das gemeinsame Konto gehen. Dann könne er mir ja ein Konto einrichten, auf das er mir sogar das Doppelte meines Verdienstes überweisen könne.
„Damit du mich belohnen und bestrafen kannst?“, fragte ich und verteidigte mein eigenes Konto mit einer Kraft, die mich selbst erstaunte. Bevor ich mich noch einmal total ausliefere, gebe ich lieber die Ehe auf. Ich könnte mir gut vorstellen, dass einer von uns beiden in Omas Wohnung zieht, wenn sie eines Tages im Heim ist. Es würde mir auch nichts ausmachen, wenn er sich dann eine Freundin suchte, die ihm seine Wünsche erfüllen würde. Aber den Kindern blieben wenigstens beide Eltern erhalten.
In mir ist so viel Liebe. Warum nicht für die Menschen, die sie forden? Ich will freiwillig geben und es dürfen keine Ansprüche abgeleitet werden!
 

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20. Januar 1994: Anna saß mit ihrer Schwester, ihrem Sohn und der Schwiegertochter im Cafe, um mit schwerem Herzen Annas Umzug ins Heim zu feiern. Sie hatte ein Zimmer auf der „Zwischenstation“ bekommen. Dort kochten die Bewohner nicht mehr selbst, sondern gingen in den Speisesaal zum Essen. Ansonsten lebten sie noch relativ selbständig.
Anna hatte sich von ihrer besten Seite gezeigt, sodass ihr die Pflegedienstleitung noch viel zutraute. Schon eine Woche später musste sie in die Pflegestation umziehen. „Die weiß ja gar nichts mehr!“, war die Erklärung dafür.
 

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Annas Bett steht am Fenster. Von dort kann sie auf die Kohlezeichnung sehen, die ihre Enkel zeigt. Gemalt in Rumänien. Damals konnte Benjamin noch nicht allein laufen. Inzwischen geht er in die zweite Grundschulklasse. Sein Schuleintritt war im Gegensatz zu dem seiner Geschwister (sie durften vorher allein mit einem Elternteil verreisen) fast unbeachtet vorüber gegangen. Doch das weiß Anna nicht.
Sie interessiert sich eher für den Fernseher. Obwohl die Knöpfe mit Leukoplast abgeklebt wurden, sind die Sender verstellt. Sepp wird sie wohl wieder suchen müssen.
Wenn die Kinder sie besuchen, gehen sie meist in das wenig benutzte Stations-„Wohnzimmer“. Darin stehen verschiedene Sitzgruppen und Schränke aus diversen Nachlässen. Auch Spiele gibt es dort. Manchmal spielen sie zusammen „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Die Figuren sind so groß, dass sie kaum in die geschlossene Faust passen. Auch der Würfel ist handlich, die Punkte darauf deutlich genug, um sie auch ohne Sehhilfe erkennen zu können. Anna weiß nicht mehr, in welche Richtung die Figuren gezogen werden, sondern lässt sie kreuz und quer über das Spielfeld wandern.
Ab und zu besuchen sie das hauseigene Cafe. Oder sie gehen mit Anna spazieren. Sie ist immer noch gut zu Fuß. Das weiß auch ihre neue Freundin zu schätzen. Selbst noch klar im Kopf, aber an den Rollstuhl gefesselt, weist sie Anna bei Ausflügen den Weg. „Wir sind die zwei aus der letzten Bank“, pflegt sie ihre Beziehung zu beschreiben. „Mit Anna kann man so schön Blödsinn machen“, sagt sie und schiebt Anna wieder einen Leckerbissen zu. Dass sie am gleichen Tisch sitzen, sieht man Anna schon an. Die Kleider spannen ein wenig. „Wenn das so weitergeht, müssen wir die beiden auseinander setzen“, sagt das Pflegepersonal.
„Hoffentlich landet sie nicht bei ihrer Zimmerkollegin am Tisch“, denkt Maria. Die beiden sind sich nicht grün. „Die geht immer an meinen Schrank“, beschwert sich diejenige, deren Bett weiter vom Fenster weg steht. Auch Annas Sympathien halten sich in Grenzen. „Die sitzt den ganzen Tag faul rum und nachts geht sie tanzen“, unterstellt sie.
 

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Sepp ist im Heim ein gern gesehener Gast. Wenn er einmal die Woche nach seiner Mutter sieht, sprüht er vor Charme. Manchmal werfen ihm sogar diejenigen neugierige Blicke zu, die sonst vor dem meist laufenden Fernseher im Aufenthaltsraum dösen.
Maria versucht, die Besuche im Heim zu meiden. Dabei wäre sie vor Wochen am liebsten selbst eingezogen, um sich einmal rundum verwöhnen zu lassen. Nur langsam erholt sie sich von der schwierigen Zeit.
Neue Sorgen drücken: Benjamins Lehrerin meldet sich häufig, weil der Knabe träumend aus dem Fenster sieht und nicht spurt. Wenn seine Mitschüler alles auf dem Tisch haben, beginnt er in seinem Schulranzen zu suchen. Er wird oft nicht fündig, obwohl er alles dabei hat. „So geht das nicht“, sagt die Lehrerin, „Sie müssen ihrem Sohn stärker auf die Finger sehen.“ Maria hat wenig Zeit, um an Anna zu denken.
Deren Wohnung im Familienhaus verwaist. Maria hat keine Kraft, sie auszuräumen. Auch Sepp sieht noch keine Notwendigkeit dafür.
Um Anna nicht zu vernachlässigen, holen sie sie alle zwei Wochen zum Kegeln ab. Anna genießt die Zeit mit den Kindern und deren Freunden. Weil sie viele Treffer hat, wird sie häufig gelobt. Sie fühlt sich wieder jung und gesund. Abends kehrt sie ins Heim zurück, wo sie von der Nachtschwester ins Bett gebracht wird.
 

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Die Monate ziehen ins Land. Im Frühjahr beginnt Maria, die Schränke in Annas Wohnung zu leeren. Jede einzelne Tasse und jeden Löffel nimmt sie in die Hand. Sie muss entscheiden, was für den Flohmarkt geeignet ist und was gleich entsorgt werden kann.
Eine Orchidee hat die Trockenperiode überlebt. Maria lässt sie an Ort und Stelle. Noch Jahre lang wird sie ihre Schönheit entfalten und zusehen, was in Annas ehemaligem Wohnzimmer vor sich geht: Zuerst werden die vom Holzwurm befreiten Möbel und der nach Hundeurin stinkende Teppichboden entsorgt. Maria richtet sich ein Büro ein. Der Arbeitsvertrag als wissenschaftliche Hilfskraft ist ausgelaufen, jetzt häufen sich die Aufträge der Zeitung. Maria freut sich über die freie Zeiteinteilung, die ihr genug Raum für die Kinder lässt.
Allmählich entspannt sich das Verhältnis zwischen Maria und Sepp etwas.
 

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Anna hat sich im Heim gut eingelebt. Sie fühlt sich als Dame und zeigt nur zu gerne, was sie hat. Doch das gefällt den Schwestern nicht. Sie bitten Sepp und Maria, den Schmuck mit nach Hause zu nehmen. Die Gefahr des Verlustes sei zu groß. Sie wollen die Verantwortung dafür nicht übernehmen. Trotzdem lassen die Kinder Anna die Stücke, an denen sie am meisten hängt.
Anna badet wieder gern. Sie genießt die Hilfe, die ihr dabei zuteil wird. „Das Bad ist im Keller“, erzählt sie – obwohl es auf der gleichen Etage ist.
Eines Tages bittet die Verwaltung um einen Besuch. Annas Taschengeld wird knapp. Bei der Kontenprüfung zeigt sich: Anna bekommt jeden Monat eine Dauerwelle. Maria ist sauer. Die Friseuse muss doch wissen, dass die Haare davon kaputt gehen. In Sepps Namen ordnet sie an, solche Machenschaften zu unterlassen.
Maria möchte mit Anna ins Cafe gehen. Vorher will sie ihr etwas Schönes anziehen. Sie kommt nicht in den Kleiderschrank, weil er abgeschlossen ist. „Es geht nicht anders“, sagt die diensthabende Pflegerin, „sie wirft immer alles durcheinander und wir haben nicht die Zeit, den Schrank täglich aufzuräumen.“ Das kann Maria verstehen. Aber Anna versteht es nicht. Doch sie weiß sich zu helfen: sie geht in andere Zimmer und sucht sich aus fremden Schränken die Sachen heraus, die ihr am besten gefallen. Wodurch sie sich natürlich keine Freunde macht
 

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Anna hat Zahnweh. Maria begleitet sie zum Zahnarzt. Der will den letzten Zahn, an dem die Brücke befestigt ist, erhalten. Doch Anna will ihn loswerden – den Zahn, nicht den Zahnarzt.
Da eine neue Prothese angefertigt werden muss, sind mehrere Besuche einzuprogrammieren. Anna genießt die "Ausflüge" mit ihrer Schwiegertochter.
 

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Anna trug schon als Kind eine Brille. Oft hat sie erzählt, wie schrecklich es für sie war, wenn ihr „Brillenschlange“ nachgerufen wurde.
Heute sieht sie verändert aus. Ihre Sehhilfe ist verschwunden. Die Pflegerinnen haben Schubladen und Schränke durchsucht und diverse Brillen zusammengetragen. Anna probiert sie nacheinander auf und bemerkt kaum einen Unterschied. Zum Glück kennt Maria Annas Brille...
Beim nächsten Besuch hat sie eine anderes „Nasenfahrrad“ im Gesicht und gibt es nicht mehr her. Maria kann das nicht nachvollziehen, gibt es aber auf, die Schwiegermutter zu belehren.
Wenige Wochen später benötigt Anna keine Sehhilfe mehr. Beim Spaziergang bückt sie sich häufig, um zwischen Pflastersteinen wachsende Gräser herauszuzupfen. Sind ihre Augen besser geworden? Maria wird es wohl nie erfahren.
 

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Annas Zahnprothese ist zerbrochen. Maria fährt Anna erneut zum Zahnarzt. Diesmal zu demjenigen, der die meisten Heimbewohner betreut. Im Zuge der Reparatur reinigt eine junge Arzthelferin auch das obere Gebiss.
„Es ist unmöglich, wie schlecht im Heim die Zähne gepflegt werden“, empört sie sich. „Die müsste man bürsten und über Nacht ins Kukidentbad legen!“
Anna macht den Mund nicht auf, als sie die Prothese wieder einsetzen will. Da hilft kein Bitten und Betteln. Erst der Arzt in seinem weißen Kittel hat genug Autorität, um Anna zu überzeugen.
 

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Heute besuchte ich Oma im Heim. Die Kinder waren beschäftigt und ich hatte bei diesem schönen Wetter Zeit für einen Spaziergang mir ihr. Zuerst fand sie ihre Schuhe nicht mehr. In ihrer Kommode lag alles kreuz und quer durcheinander. Schließlich fand ich ihre Schuhe in der Kosmetiktasche. Bin ich froh, dass ich nicht mehr täglich suchen muss!
Es war erschreckend: Oma schlüpfte mit dem rechten Fuß in den linken Schuh und hat es nicht einmal gemerkt. Wenigstens ließ sie sich einspruchslos helfen, als ich den Irrtum in Ordnung brachte.
Den Liegestuhl, den wir ihr auf den Balkon gestellt haben, scheint sie nicht zu benützen. Das Polster lag draußen auf dem Boden. Als ich die Schwester fragte, ob sie manchmal raus ginge, erfuhr ich, dass sie fast nur im gemeinsamen Aufenthaltsraum rumläuft. Die Zeitschriften, die wir ihr mitgebracht haben, schaut sie nicht an.
„Aber wenn ich sie schon da habe: bringen sie bitte keine Scheren mehr mit!“ „Warum?“ „Weil sie alles zerschneidet! Wir mussten schon mehrere Tischdecken wegwerfen.“
Oma hat früher in der Schneiderei mitgeholfen. Wahrscheinlich erinnert sie sich jetzt daran und hat uns deswegen immer wieder gesagt, dass sie eine Schere braucht. Wir besorgten sie schon im Dreierpack, weil sie immer wieder verschwunden waren. Dabei hat nicht sie sie verlegt, sonderm die Schwestern haben sie ihr weggenommen. Blöd, dass sie uns das nicht früher gesagt haben!
 

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Sepp hat ein schlechtes Gewissen, wenn er nicht den fürsorglichen Sohn mimt. Heute vormittag holte er seine Mutter nach Hause und war dann erst mal für eine halbe Stunde unauffindbar. Wahrscheinlich dachte er, es genüge, dass unser Übernachtungsbesuch und ich uns mit ihr beschäftigten.
Ich kochte für acht Personen. Sepp half, solange Zuschauer da waren. Nach dem Essen fuhr unser Besuch nach Hause. Sepp schickte seine Mutter mit Struppi spazieren und wollte ihr Viktoria als Begleitung mitgeben. Doch die hatte keine Lust. Also marschierte Oma allein los.
Meine Begeisterung beim Kücheaufräumen hielt sich in Grenzen. Was mich schrecklich ärgert, ist seine Art, die Arbeit an andere zu delegieren. Wenn ich so ungern für Oma da bin, dann wegen Sepp.
Vor zwei Wochen fand sie ihre Schuhe nicht mehr. Daraufhin wollte er, dass ich ihre Kommode aufräume. Wenn ihn das Durcheinander stört, dann soll er es doch beseitigen und nicht an andere delegieren!
Hier schließt sich wahrscheinlich der Kreis zur Erziehung. Er erwartet von den Kindern jeglichen Gefallen. Wenn sie nicht funktionieren, wie er es will, ist es mein Verschulden. Aber wo bleibt sein gutes Beispiel? Warum stellt er sich beim Abwaschen nicht dazu? Warum begleitet nicht er seine Mutter beim Spaziergang? Er schimpft, wenn Stefan seine Schuhe nicht pflegt, selbst tut er es aber auch nicht!
Solange wir uns einigermaßen aus dem Weg gehen können, ist mein Frust viel kleiner. Aber wenn wir, wie an diesem Wochenende, so nah aufeinander hocken, kommt alles wieder hoch. Wenn er mit mir schlafen will, dann glaubt er, es sei sein Recht. Meine diesbezüglichen Gefühle sind unwichtig. Ich lasse es inzwischen stoisch über mich ergehen. Werde unter seinem Gewicht fast plattgewalzt. Des lieben Friedens zuliebe halte ich es aus. Fühle mich dabei benutzt und nicht geliebt.
Ein Glück, dass ich meine Arbeit habe, die mir viel Bestätigung gibt. Ein Glück, dass ich mein Büro habe, in das ich mich zurückziehen kann. Ohne diesen Ausgleich wäre ich ebenso verrückt wie vor Jahren. Hier fange ich mich verhältnismäßg schnell wieder. Fühle mich wohl in meiner Haut. Tanke wieder Ausgeglichenheit und Kraft für das Chaos meines Lebens. Hier ist der Ort meiner Ruhe, mein Mittelpunkt. Das, was ich dem Sepp nicht bieten kann, obwohl ich vermute, dass er genau das von seiner Familie erhofft: Geborgenheit und Sicherheit, Ordnung und Heimat.
Aber ich bin keine Super-Reklame-Frau. Ich bin ein eigenwilliges Lebenswesen, das nicht nur funktionieren, sondern auch leben will. Warum geht das ohne Sepp so viel leichter? Warum erwartet er Anpassung, ohne sich anzupassen? Oder ist das mein Problem? Schließlich fällt mir die Anpassung an ihn auch verdammt schwer!
 

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Lieber Ulrich,
heute bin zum Telefonieren zu aufgewühlt. Lieber schreibe ich Dir.
Ich komme gerade von einer Totenmesse. Stell Dir vor, der Vater von Benjamins Schulkameraden ist gestorben. Er war noch jünger als ich. Das hat mich im innersten Kern berührt. Ich wünsche mir jemanden in meiner Nähe, mit dem ich über meine Gedanken sprechen kann. Kontakte, in denen ich nur auf eine glatte Hochglanzpolitur stoße, sind mir nicht genug... Ich will das mitteilen können, was mich wirklich bewegt. Bin ich bei Dir an der richtigen Stelle?
Mir tat die Witwe heute entsetzlich leid. Ich hatte keine Worte für sie, konnte sie nur stumm in den Arm nehmen.
Auf dem Heimweg habe ich darüber nachgedacht, wie es mir ginge, wenn Sepp nicht mehr da wäre. Für die Kinder wäre es schlimm. Er ist ein lustiger Vater, der seinem Nachwuchs so manches Abenteuer ermöglicht. Denk nur daran, was ich Dir mal vom Skifahren erzählt habe: er hatte mit Stefan und Viktoria einen Tiefschneehang ausgewählt, Viktoria stürzte und flog sehr weit über Stock und Stein. Da hatte sogar er mal Angst! Stefan war noch keine zehn Jahre alt und sollte die verlorenen Ski und Stöcke einsammeln, während Sepp hinter seiner Tochter herhastete. Zum Glück hatte die einen fleißigen Schutzengel und trug außer dem Schock nur ein paar Schrammen davon.
Für mich wäre das Leben ohne Sepp einfacher. Aber wenn er sterben würde, wäre ich trotzdem traurig. Lieber wäre es mir, wenn ich die Schwierigkeiten zwischen uns beseitigen könnte. Wie Du mir mal erzählt hast, ist Eure Ehe auch kein Zuckerschlecken. Manchmal langweilst Du Dich mit Deiner Frau und bleibst lieber länger in der Arbeit, als Dich mit ihr vor den Fernseher zu setzen.
Warum machen wir uns das Leben so schwer? Sepp interessiert nur die Vorstellung, die er von mir hat. Mit meinem Kern will er nichts zu tun haben, obwohl er sogar hin und wieder aufhorcht, wenn ich meine Meinung kund tue. Weil er mich nicht so nimmt, wie ich bin, hasse ich das „Mit-ihm-Schlafen“. Für ihn ist das eine Tätigkeit wie Nasenbohren – man tut es unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um sich anschließend wohler zu fühlen. Für mich ist es mehr als eine solche Betätigung, eher mit einem Ritual wie der Heiligen Messe vergleichbar: Eine Öffnung, um dem anderen die innere Schönheit zu zeigen. Bei Sepp bleibe ich zu. Habe Angst vor Verletzungen. Kann ihm mein Inneres nicht zeigen, weil er mir wieder einzureden versucht, dass ich ganz anders bin. Erst wenn man den Menschen mit allem, was man von ihm weiß, akzeptieren kann, erst dann ist in meinen Augen echte Erfüllung in der Liebe möglich. Es ist nicht gleichgültig, mit wem man das Bett teilt. Wenn dieses „Sich-zueinander-hingezogen-Fühlen“ nicht da ist, kann es doch gar nicht klappen. Außer mit dem Hintergrund: Ich will ein Kind. Aber wenn das ausgeschlossen ist? Dann gibt es nur die „eheliche Pflicht“. Das ist eine ganz andere Art der Liebe. Das ist wie bezahlen. Das ist eine mechanische Handlung, in der das Herz und die Seele eine untergeordnete Rolle spielen. Da zählt der Mensch nicht mehr. Das ist für mich Frust. Das könnte jede Nutte auch erledigen. Manchmal habe ich versucht, das Sepp klar zu machen – aber er will es gar nicht kapieren.
Noch etwas finde ich am Zusammensein von Mann und Frau schwierig: Frauen sind so konzipiert, dass sie auch ohne Lust den Mann aufnehmen können. In meinen Augen hat das etwas mit Misshandlung zu tun. Männer können nur, wenn sie Lust haben – und dann nicht immer. Sie haben ihren normalen Schutzmechanismus, den sie Frauen nicht zugestehen. Darüber ist zumindest mein Mann nicht bereit, nachzudenken. Wie ist es möglich, zwischen so verschiedenen Menschen Einigkeit herzustellen? Nur über Kompromisse! Aber wenn zwei Dickköpfe aufeinander treffen, kann das nicht gut gehen. Vielleicht ist es leichter, wenn man verschiedene Menschen kennt und die miteinander vergleicht?
Ich würde zu gern Deine Meinung dazu kennenlernen. Vielleicht hilft mir das, mein Weltbild zurecht zu rücken und meinen Standort in der Welt zu finden. Du begleitest mich schon so lange aus der Ferne, dass mir meine Offenheit ein Bedürfnis ist. Entweder platzt meine Vorstellung von Dir als Freund jetzt wie ein Ballon mit einem lauten Knall oder wir bereichern uns und helfen uns gegenseitig, das andere Geschlecht besser zu verstehen.
Mit den besten Grüßen
Deine „alte“ Freundin Maria
 

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Hans Bruder feiert seinen achtzigsten Geburtstag. Dazu hat er die ganze Verwandtschaft eingeladen. Sepp und Maria sollen zusammen mit Anna kommen. Sie haben sich im Heim angemeldet und gebeten, Anna rechtzeitig herzurichten. Sie hat ihr bestes Kleid an, auch die Haare sind schön gekämmt. Erst unterwegs, als Anna sehr undeutlich spricht, fällt Maria Annas eingefallener Mund auf. Sie braucht eine Weile, ehe sie erkennt, dass Anna keine Zähne im Mund hat. So wollen sie sie der Verwandtschaft nicht präsentieren. Also drehen sie um und holen die Prothese. Es scheint, als wäre sie Anna lästig, doch darauf können sie keine Rücksicht nehmen.
Anna freut sich über die Begegnung mit ihren Schwagern und Schwägerinnen, Neffen und Nichten. Sie zeigt sich von ihrer geselligsten Seite. Erschrocken beobachten Sepps Tanten, wie sich Anna an einen Tisch mit Fremden setzt und fröhlich drauf los plaudert.
„Die gehören doch gar nicht zu uns!“, empören sie sich. „Ist das peinlich!“
 

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Annas halbes Gebiss ist verschwunden. Trotz Haftcreme hat die untere Prothese nicht richtig gehalten. Seit der letzte Zahn gezogen ist, gibt es ja keine Befestigungsmöglichkeit mehr. Niemand weiß, wo der Zahnersatz geblieben ist.
Die Pflegerin erzählt, was sie beobachten konnte: „Ihre Schwiegermutter nahm die Zähne beim Essen oft aus dem Mund, um die Speisereste abzulecken. Vielleicht hat sie sie in die Serviette gewickelt und wir haben sie aus Versehen weggeworfen. Das tut uns sehr leid, aber bei so vielen Bewohnern können wir nicht auf jede Kleinigkeit achten.“
 

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Anna ist mal wieder bei ihrem Sohn zu Hause. Auf dem Tisch im Garten liegt eine zu den Polstern der Hollywood-Schaukel passende Decke. Sie trinken aus farbigen Gläsern Saft. Plötzlich klirrt es. Anna ist an den Tisch gestoßen und ein Glas zerbrach in tausend Stücke.
„So ein Mist!“, schimpft Maria. „Die hab ich grade erst gekauft!“
„Ich besorg Dir ein neues!“, verspricht Anna.
„Wie willst Du das denn machen?“ Maria ist sauer. Sie weiß ja, dass die Schwiegermutter ihr Versprechen nie wahrmachen kann und es diese Gläser, die sie als Sonderangebot erstanden hatte, nicht mehr gibt.

Wochen später erinnert sich Anna, die so gut wie alles, was gerade geschehen ist, wieder vergisst: „Ich muss Dir ja noch eine Blumenvase kaufen.“
„Eine Blumenvase?“
„Ja, die, die ich kaputt gemacht habe.“
Maria wird allmählich klar, dass sie dieses gelbe Saftglas meint. Nun tut ihr das Geschimpfe leid. Nie hätte sie gedacht, dass das bei ihrer Schwiegermutter so starke Schuldgefühle auslösen würde.
 



 
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