Szenen ...

Haremsdame

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Annas Klinikaufenthalt war für Maria die reinste Erholungszeit. Wenn sie von der Arbeit kam, wurde sie nur vom Dackel freudig begrüßt. Keine verwirrte Schwiegermutter fragte, wo sie denn gewesen sei. Mit emotionalem Abstand fielen ihr die Besuche in der Klinik nicht schwer. Dort erfuhr sie von netten Ärzten, was alles untersucht worden sei und was noch anstand. Mehrmals wurde Annas Kopf durchleuchtet, um einen eventuellen Tumor auszuschließen. Auch fand sich kein Hinweis auf einen Schlaganfall.

Anna bekam ein Heft, in dem sie das tägliche Datum, Besoderheiten des Tages und sonstiges notieren sollte. In unbeholfener Schrift steht darin:

FREITAG, 12.3.1993
6 UHR 30. AUFGESTANDEN
Gebadet + HAARE GeWASCHEN
HAARE GefÖHNt GefrüHStüKT
1 SemeL Mit ButtER
GNSCHLIESEND im ZiMMER RÄTSELGELÖST.
UM 10 AM OrientierungsTRÄINING TeiLGENOMMEN
VOr DEM AUFSTEHEN HATTE iCH EiNE BLUTENTNAHME AUSSERDEM HABE ICH EINE ORINPROBE ABGEGEBEN. ½ 12 UHR gab es MITTAGESSEN FISCH + KARTOEFELSALAT DANN WAR BTTRUHE
MONTAG 15.3.1993. 6 UHR 30 BAD
6 UHR 30 WECKEN 7.30 FRÜSTÜCK
….
GESTERN DURfeten WiER Kegeln ES WAR SEHR LUSTig

Am 17. März brauchte Anna mehrere Versuche, um ein W zu schreiben. Es gelang ihr nicht mehr, es blieb ein M. Insgesamt schrieb Anna während ihres Krankenhausaufenthaltes drei Seiten des Schulheftes voll, wobei sich ihre kognitiven Probleme immer deutlicher zeigten.
Nach zwei Wochen nahm Maria Anna mit der Diagnose „Demenz vom Alzheimer Typ“ wieder mit nach Hause.
 

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Sepp war stocksauer auf seine Frau. Solange er nicht wusste, was seiner Mutter fehlte, konnte er sich gut zurückziehen. Nun gab es eine Krankheitsdiagnose, die alles auf den Kopf stellte. Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit gewesen, sich um die Zukunft Gedanken zu machen. Stattdessen bombadierte er Maria mit Vorwürfen. Sie hatte nun nicht nur die kranke Schwiegermutter am Hals, sondern auch einen Ehemann, der sie mehr und mehr verachtete.

Wieder mal Tagebuch nach anstrengenden Tagen. Ich fühle mich teilweise in der Depression. Manchmal bäume ich mich auf, um anschließend erneut zu versinken. Gestern habe ich in der Hoffnung, das tiefe Tief wieder hinter mich zu bringen, einen Arzttermin ausgemacht. Die Auseinandersetzung mit Omas Krankheit bereitet mir Probleme. Ich muss sie so hinnehmen, wie sie ist; kann höchstens versuchen, mich weitgehend abzugrenzen und Sepp mit einzubinden. Manchmal lähmt mich die Angst vor der Zukunft. Manchmal fühle ich mich allein bei dem Gedanken an Oma überfordert.
 

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Gestern war Babsi nach langer Zeit mal wieder da. Ich war sehr früh aufgestanden, um vor der Arbeit zwei Kuchen zu backen. Nachmittags wartete ich – wie früher: sie kam mit 45 Minuten Verspätung. Anfangs war ich froh, ein paar Minuten für mich zu haben, dann ärgerte ich mich. Schließlich hatte Stefan Fussballtraining und wollte nicht darauf verzichten. Babsis Ältester hatte sich auf ihn gefreut und musste nun enttäuscht ohne den Spielkameraden mit den drei Mädchen und dem kleinen Benjamin zufrieden sein. Sie hatte Mitleid mit ihm und beschuldigte mich wegen mangelndem Mitgefühl.
Dann fragte ich sie nach dem Befinden ihres Vaters, der seit einem halben Jahr im Pflegeheim lebt (sie hatte ihn dort auf dem Weg zu uns besucht). Ich wagte, seine Senilität mit Omas zu vergleichen und hatte damit schon wieder mangelndes Mitgefühl gezeigt. „Das mit ihm ist etwas ganz anderes“, erklärte sie mir. Sie leide unter der Erinnerung an ihn. Akzeptiert. Es stimmt, das kann ich nicht nachvollziehen. Ich entschuldigte mich, ich wollte ihr nicht wehtun.
Warum ließ ich mir von ihr anschließend so weh tun? Gut, sie versuchte Sepp meine Panik näher zu bringen, stritt sich zirka eine Stunde mit ihm herum, während ich als heulendes Elend daneben saß. Bei mir kam sehr viel Schmerz hoch, leider zu einem unpassenden Zeitpunkt. Sepp teilte eifrig Spitzen aus, die zwar trafen, aber heute wieder vergessen sind. Ich bin im Einstecken schon ganz gut geworden, habe auch versucht, mich im Verteidigen zurück zu halten.
In einem späteren Gespräch hörte ich Babsi lange zu, gab einige der mir an den Kopf geworfenen Fehler einverständig zu. Sie redete weiter und als sie mir klar machen wollte, dass das Problem mit Oma nur an meiner fehlenden Liebe, meinem mangelndem Einfühlungsvermögen und meiner Widerborstigkeit läge, verteidigte ich mich. „Wenn du nicht auf mich hörst, dann belästige mich bitte nicht mehr mit deinen Problemen“, war ihre Reaktion.
Ich möchte versuchen, ihre Worte wörtlich zu nehmen. Wir müssen beide unsere Grenzen annehmen. Ich will meine Sache so gut es mir möglich ist machen. Ich will kein Märthyrer werden, auch wenn das nach außen hin liebevoller aussieht. Ich lasse mir nicht mehr von anderen vorschreiben, wo meine Grenzen zu liegen haben. Vielleicht bin ich tatsächlich noch viel zu sehr auf mich konzentriert. Gefühle, die ich selbst kenne, kann ich bei anderen nachempfinden. Aber Gefühle, die ich noch nie hatte, sind mir so fremd, dass ich sie niemandem nachempfinden kann.
Ich muss endlich konsequenter zu meiner Auffassung stehen. Ich muss dieser Bevormundung entrinnen. Ich fühle mich auf dem für mich richtigen Weg. Ich bemühe mich, anderen nicht mehr allzu gescheit zu kommen. Durch meine Erfahrungen kann ich toleranter werden und andere Meinungen gelten lassen. Babsis „Du tust immer so, als wäre bei dir alles viel schlimmer, als hätterst du viel mehr Arbeit, als machtest du alles viel besser!“ könnte ich wortwörtlich zurückgeben. Viele Bemerkungen, die ich von anderen zu hören bekomme, schaue ich mir von zwei Seiten an. Wahrscheinlich haben wir hier beide die gleichen Minderwertigkeitskomplexe. Aber ich war nicht fähig, ihr das zu sagen. Nachdem ich früher gut austeilen konnte, weil ich meinte, genau zu wissen, wo es lang ging, versuche ich mich jetzt zurückzuhalten. Ich sollte mir durch gut gemeinte Verbesserungsvorschläge kein allzu schlechtes Gewissen machen lassen.
 

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Heute nacht träumte ich, in einem fahrerlosen Auto auf der Beifahrerseite zu sitzen. Der Wagen fuhr ganz knapp an parkenden Fahrzeugen vorbei. Mir wurde klar, dass ich etwas tun muss, um zuviel Blechschaden zu vermeiden. Vorsichtig lenkte ich den Wagen. Trotzdem entstanden Beulen: an meinem und den fremden Fahrzeugen. Beim Weiterfahren dachte ich darüber nach, ob ich den Schaden der Polizei melden soll. Immerhin hatte ich mindestens zwei andere Wägen gestreift. Oder sollte ich abhauen? Würde der Ausgleich der Schäden nicht ins Unermessliche gehen? Womöglich würden sich mehr Geschädigte melden, als es tatsächlich gab...
Da fuhr ich auf einen Unfall zu: ein querstehendes Auto, ein LKW und ???. Ein Polizist winkte. Ich konnte vom Beifahrersitz aus rechtzeitig bremsen und rechts vorbeifahren - ohne weitere Blessuren!
Fazit: Ich muss meinen Wagen fahren und mich nicht auf andere verlassen. Ich kann das auch! Ich tue mich aber leichter, wenn ich am richtigen Platz sitze und nicht daneben. Ich darf mich von der Meinung der anderen nicht zu abhängig machen. Meine Beulen stören mich dabei weniger. Nur wenn andere mich auf diese Beulen ansprechen, wurmt mich das.
 

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Im Krankenhaus, in dem die Gedächtnissprechstunde ihre Untersuchungen durchführte, wurde regelmäßig eine Angehörigengruppe angeboten. Die Teilnehmer wälzten Probleme, mit denen sie sich täglich herumschlugen. Endlich gab es Menschen, bei denen Maria auf Verständnis stieß.
Die meisten Anwesenden hatten erkrankte Ehepartner. Auch eine ältere, alleinstehende Frau nahm teil. Sie hatte die gleiche Diagnose wie Anna bekommen und wollte wissen, wie es mit ihr weitergehen sollte. Eine andere Angehörige war in Marias Alter und musste mit der Erkrankung ihres Ehemannes zurecht kommen. Er war noch keine 50 Jahre alt und schon erwerbsunfähig. Seine Rente fiel jedoch für die vierköpfige Familie zu gering aus, sodass seine Ehefrau, eine ehemalige Lehrerin, die seit der Geburt der Kinder zu Hause gewesen war, wieder in ihren Beruf einsteigen musste.
Maria litt mit den anderen, was ihre eigenen Schwierigkeiten etwas relativierte.
 

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Seit unserer Angehörigengruppe hat sich das Verhältnis zwischen Sepp und mir verändert. Ich kann seine Nähe wieder ertragen und somit auch die momentane Situation. Heute beim Abendessen saßen wir lange debattierend mit Oma zusammen. Sie fühlte sich „geschimpft“, aber Sepp stand auf meiner Seite, als ich ihr klar machte, dass ich in ihr einen erwachsenen Gesprächspartner sehe. Sepp betonte, dass wir nicht bereit wären, ihr zu sagen, was sie denken solle. Sie ist zwar überfoderdert, begreift nicht so recht, was wir von ihr wollen; scheint aber zu ahnen, dass es nichts Böses ist.
Sepp ist erschüttert, seit er ihre Unselbständigkeit, die sich durch ihr ganzes Leben zieht, erkennt. Endlich setzt er sich mit ihr auseinander. Das lässt in mir Hoffnung entstehen.
 

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Heute habe ich bei der Gemeindeverwaltung Anträge auf „Hilfe zur Pflege“, einen Schwerbehindertenausweis und Berücksichtigungzeiten wegen Pflege für die Rente geholt. Bei der Krankenkasse läuft ein Antrag auf Pflegegeld.
Es tut mir gut, endlich etwas tun zu können und nicht däumchendrehend der Dinge zu harren, die da kommen werden. Das gestrige Gespräch mit Oma, die sozialen Hilfestellungen und Sepps Auseinandersetzung mit der Situation machen die Zustände hier erträglicher. Dass nicht mehr alles als selbstverständliche Leistung ohne jede Anerkennung ist, hilft mir ein wenig über den Frust. Zwar geschieht der ganze Aufwand für einen Hungerlohn, aber nicht mehr umsonst. Jetzt kann ich Sepps Angriff, dass ich noch nie für den Lebensunterhalt sorgen musste, leichter abwehren. Ich leiste meinen Teil für den Lebensunterhalt und der ist nur schlechter bezahlt als seiner. Dass durch Omas Betreuung eines Tages meine Rente etwas höher ausfällt, tröstet mich ein wenig.

Heute nachmittag schrie ich mit Viktoria. Ausgerechnet, als ich feststellte, dass meine Waschmaschine das Wasser nicht mehr abpumpte, deswegen der Keller überschwemmt war und aufs Trockenlegen wartete, rief sie nach mir. Sie brauchte Hilfe bei den Hausaufgaben. Es geht nicht alles auf einmal! Ich weiß das, aber dass sie es nicht wusste, regte mich auf...
In den Momenten, in denen ich überfordert bin, kann ich nur selten gelassen bleiben. Einerseits tut es mir gut, lautstark meine Ärger hinauszubrüllen, andererseits ist es mir peinlich, weil ich nicht weiß, was andere von mir denken und inwieweit Außenstehende dadurch belästigt werden. Jetzt bin ich von der Sache her wieder ruhig, aber mein Ausflippen belastet mich.
 

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Während Maria Tagebuch schrieb, hielt Anna in ihrem in der Klinik begonnenen Heft fest:

DIENSTAG, 4. MAi/1993
HEUTE IST 6. Mai: BENjaMiNs UND MEiN HOChZEiTSTAg
7 Uhr
FRÜHSTÜK
DiENSTAg 4.MAi 19,93
MiTTMOCH 5.MAi = MUTTErTAG
AUF DEM TiSCH StAND EiN SCHÖNER BLUMENSRAUSSSS
HAT MiCH SEHr GEFRUET.


Wann die letzten beiden, in verschiedenen Farben geschriebenen Wörter nach einer Unterschriftenprobe auf der gleichen Seite entstanden sind, ist nicht mehr nachvollziehbar:

[blue]ZUKER[/blue]
[red]AM KÜCHENFNSTER[/red]
 

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Der Muttertag hatte für Maria in den vergangenen Jahren einen üblen Beigeschmack bekommen. Zwar freute sie sich über die Gedichte und selbstgebastelten Geschenke der Kinder – auch wenn sie schon um sechs Uhr morgens am Bett standen - ; dass sie ihren Müttern einen schönen Tag bereiten sollte, ärgerte sie jedoch. Schließlich war sie jetzt diejenige, deren Kraft täglich von Kindern in Anspruch genommen wurde. Mutter und Schwiegermutter dagegen führten inzwischen ein ruhiges Leben.

Samstag 8.Mai 1993
Ich bin stolz auf meinen heute erschienenen Muttertagsartikel. Die Fotos sind gut geworden. Sogar Sepp fand den Artikel "nett". Ihn störte nur das „häusliche Fest“. Ein positiver Aspekt dieses Artikels ist, dass sich meine ursprüngliche Bissigkeit in Einsicht verwandelt hat. Meine Gedanken zu diesem Thema haben diesem Tag Spannung entzogen. Schön, dass ich schreiben kann. Damit verfüge ich über einen unerschöpflichen Schatz!
Meine Kuchen für heute nachmittag warten auf Fertigstellung (Oma putzt noch den benötigten Rhabarber). Benjamin baut Lego und hört nebenbei Pumuckel, Stefan mäht den Rasen und Sepp hilft ihm dabei. Viktoria ist mit den Nachbarmädchen und deren Eltern in den Bayerischen Wald gefahren. Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel. Ein schöner Tag. Ein friedlicher Tag. Danke!
 

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Manchmal frage ich mich, wie meine Nerven das durchhalten sollen: Oma suchte mal wieder ihren Geldbeutel, wollte erneut zur Bank. Nach ca. 45 Minuten fand sie ihn: im Wäscheschrank. Nun hat sie mir 550 Mark in Verwahrung gegeben, hat selbst noch 50 Mark und Kleingeld behalten. Gegen Unterschrift(!) bekommt sie von mir Geld. Ohne nicht, denn das Vertrauen ist nicht mehr da.
Gestern ärgerte ich mich über sie: Sie bringt es nicht übers Herz, die Kinder etwas allein probieren zu lassen. Bejamin brüllt, weil er nicht aufräumen will und Oma springt. Benjamin will Obst für Salat schnippeln und Oma drängt ihm ihre Hilfe auf.
Am Samstagnachmittag half sie noch die Kaffeetafel herzurichten. Als wir uns alle setzten, wollte sie in ihre Wohnung raufgehen. Es kotzt mich an! Zu diesem Spiel mache ich keine gute Miene mehr. Ich muss meine Haut retten! Warum kann sie sich nicht mehr so selbstverständlich in die Familie einreihen, wie es ihr zusteht? Warum erwartet sie von uns, dass wir sie bitten dazubleiben?
Stefan hat sich den Fuss angebrochen. Nun darf er bis Ende Mai keinen Sport mehr treiben. Beim Badewannenputzen kam Benjamin: „Mami, mein Radlrahmen ist gebrochen.“ Natürlich der, für den wir erst neue Reifen gekauft haben. - Nun sitzen Stefan und Benjamin im Legokrusch, sie bauen statt aufzuräumen! In einer Stunde muss ich Benjamin zum Judo bringen. Ächz! Dann steht noch ein kleiner Einkauf fürs Abendessen an.
 

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„Maria, ich möchte zum Friseur gehen. Darf ich?“
„Wieso fragst du, ob du darfst? Du kannst doch machen, was du willst!“
„Kann ich bittschön a Geld haben?“
„Na klar, sag doch was du willst!“
„So weit ist scho.“
„Du musst mich nicht fragen, ob du darfst! Ich hebe dir das Geld nur auf, weil mir das ewige Suchen zu blöd ist.“

Ihr leidender Ausdruck bringt mich auf die Palme. Da fühle ich mich unter Druck gesetzt. Eben schaute sie nochmal rein. Normal schauend.

„Maria, heute ist nicht Mittwoch?“
„Nein, Dienstag.“
„Nicht, dass ich umsonst zum Friseur gehe.“
„Das hätte ich dir schon gesagt. Außerdem hat der Friseur am Montag zu, nicht am Mittwoch. Am Sonntag und am Montag.“
„Danke“

Eine schreckliche Konversation, in der nichts gesagt wird. Nicht umsonst gehört der folgende Spruch in ihr Repertoire: „Ich sag ja bloß, weil...“ - “Ja, du red'st, um zu reden“, ist ein Giftspruch von Sepp. Damit hat er mich schon oft verletzt. Dabei meint er wahrscheinlich gar nicht mich. Seit er beginnt, sich mit der Art seiner Mutter auseinander zu setzen, kommt es mir vor, als brächte er mir mehr Achtung entgegen. Wahrscheinlich weiß er doch, was er an mir hat. Nur war ihm nie bewusst, wie er mich behandelt hat. Seitdem ich mich gegen diese Behandlung massiv zur Wehr setze; seitdem ich mir nicht mehr vorschreiben lasse, was ich zu tun habe, kommt es mir so vor, als würden die ersten Früchte reif. Dabei war ich schon am Aufgeben.
 

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Anna konnte sich immer weniger an Abmachungen halten. Maria setzte sich mit der Krankheit auseinander, indem sie jedes Buch über Alzheimer las, das sie auftreiben konnte.
Wortwechsel wie: „Du weißt doch, dass ich alles vergesse.“ - „Ich werde in Zukunft auch alles vergessen! Dann ist mein Leben viel leichter!“ ließen sich trotzdem nicht vermeiden.

Das Buch über Alzheimer gibt mir viel zu denken. Hat Oma wirklich Alzheimer? Sepp meint, ihre Persönlichkeitsstruktur hat sich nicht verändert. Nur treten ihre Macken stärker hervor, ihr Unselbständigkeit hat Auswirkung auf uns. Heute erzählte sie uns von Hollerkücheln und konnte das Rezept aus dem Kopf hersagen. Hat sie plötzlich wieder Sicherheit? Sie kann noch eine ganze Menge. Man kann sie noch mehrere Stunden allein lassen. Manche Dinge, wie zum Beispiel Schlüssel, sind ihr jedoch fremd. Als wir gestern zur Verwandschaft fuhren, wusste sie, wo man zu meinen Eltern abbiegt, sagte mir dann auch den genauen Weg zu ihrem Bruder. Wovon hängt ihre Orientierungslosigkeit ab?
Bei mir verändert sich was: Ich habe mehr Kraft für sie, solange sie mir nicht hinterläuft. Zu ständiger Begleitung bin ich noch(?) nicht bereit. Mir hilft es schon, wenn Sepp mir nicht zusätzliche Steine in den Weg legt. Zur Zeit lässt er mir weitgehend freie Hand.
Da ihre Schrift immer unleserlicher wird, werde ich mich demnächst um die Bankvollmacht bemühen. Denn zu Bankgeschäften ist sie eigentlich nicht mehr fähig.
Heute habe ich über einen Stadtbummel mit ihr nachgedacht. Sie hätte bestimmt Freude daran. Ich habe Angst, dass sie sich dadurch noch stärker an mich hängt – öfter so etwas will. Deshalb kann ich mich nicht dazu entschließen. Ich habe Angst, von ihr aufgefressen zu werden.
 

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Über Pfingsten fuhr Sepp mit den Kindern im Wohnmobil fort. Maria blieb bei ihrer Schwiegermutter zu Hause. Sie erhoffte sich ein paar ruhige Tage. Am Abend spielte sie mit Anna Kniffel. Der fiel das Aufschreiben der Punkte in die richtige Spalte schwer, obwohl sie es schon jahrelang geübt hatte. Und das Zusammenzählen mutierte zur Katastrophe, die Maria abermals in ihrem Tagebuch verarbeitete.

Wollte ich ihr beweisen, dass sie nicht mehr fähig ist, mit Zahlen und damit auch mit Geld umzugehen? Kürzlich war sie wieder auf der Bank, um anschließend nach dem Geld zu suchen. Ich streike! Soll sie alleine suchen, bis sie kapiert, warum ich ihr Bargeld bei uns deponiert habe und ihr nur das gebe, was sie braucht. Aber überfordere ich sie damit? Auf meine Frage: „Weißt du eigentlich, warum ich dein Geld bei uns aufhebe?“ antwortete sie: „Du wirst es schon wissen.“
 

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Anna begann für ihre Schwiegermutter Tagespläne zu schreiben. Sie erhoffte sich davon einen einfacheren Tagesablauf und weniger Fragen, wie es nun weitergeht. Dabei übersah sie allerdings, dass Uhrzeiten Anna nichts mehr sagten.

Sie kann die normale Uhr nicht mehr lesen, kennt fast nur noch ganze Stunden. Sie liest die Tagespläne oft durch. Trotzdem ist das Wissen ums Datum oder den Inhalt Glückssache.
Zum Beispiel besuchten wir gestern Luise zum Geburtstagskaffee. Omas größte Sorge: ohne eigenes Geschenk hingehen... Der anfängliche Tagesplan klappte: Frühstück im Garten, Kirchgang, Kartoffelschälen. Die darauffolgende Nichtbeschäftigung verleitete sie dazu, sich schön zu machen. Kurz nach zwölf stand sie ausgehbereit da; mit Tasche in der Hand. Als ich ihr erklärt hatte, dass wir erst in drei Stunden losgingen, zog sie sich um und suchte dann eine zum Kleid passende Tasche. So konnte sie sich bis zum Losgehen beschäftigen. Nur fürs Mittagessen unterbrach sie ihre Tätigkeit.
Am Abend vergaß ich ihre Tabletten. Und prompt ging es ihr am nächsten Morgen wieder schlechter.
 

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Wie wird das weitergehen? Mit der augenblicklichen Ruhe ohne Kinder kann ich mich gut auf Oma konzentrieren. Im Trubel der Familie geht sie unter. Wenn meine Nerven strapaziert sind, ist sie mir zuviel. Obwohl sich mein Zorn allmählich in Mitleid wandelt. Die vielen Bücher über Alzheimer helfen mir dabei.
Das Wissen um die Orientierungsverschlechterung bei einer Heimeinweisung macht mir ein ungutes Gefühl. Dabei ginge es ihr jetzt im Heim viel besser. Dort gäbe es Gesellschaft für sie. Aber nähme sie die an? Ihr Kuraufenthalt vor über zwei Jahren hat ja schon ihre Hinfälligkeit gezeigt. Damals war sie so orientierungslos, dass sie ihr Zimmer nur noch an dem an der Tür hängenden Bild erkannte. Wenn wir sie besuchten, freute sie sich am meisten über Struppi. Schon damals versuchte ich sie zum Essen auf Rädern zu überreden. Aber das fruchtete nichts, fehlte doch jegliche Unterstützung von Sepp. Damals ließ er sie sogar noch Auto fahren, obwohl... Damals konnte ich mich noch nicht dagegen wehren, machte das böse Spiel mit. Lernte erst in meiner Reha, anders damit umzugehen. Und nun muss ich sie doch adoptieren! Solange ich mich durch die Vielfalt meiner Aufgaben nicht überfordert fühle, kann ich viel hinnehmen. Kann leichter verzeihen als früher. Kann ihre Unfähigkeit als Tatsache hinnehmen, muss mich nicht mehr mit Händenund Füßen dagegen wehren.
Wenn sich Sepp fernhält, alles mir überlässt, kocht mir die Galle über. Ich bin bereit, die Pflege seiner Mutter zu managen, aber nur, wenn er auch mittut. Ich bin neugierig, wie der August verläuft, wenn ich mit den Kindern wegfahre. Dann müssen die beiden miteinander klar kommen. Wie wird das gehen, wenn er den ganzen Tag außer Haus ist? Wird er ihr auch Tagespläne schreiben? Wird er sie abends mit verpflegen? Oder ist ihm das alles ebenso gleichgültig wie bisher?
Oft sagt er im Gespräch, das wir seit der Angehörigengruppe manchmal führen: „Sie war noch nie die Schlaueste.“ Dann hoffe ich, dass es doch nicht Alzheimer ist. Wenn sie keine Uhr lesen kann und mich bei normalen Fragen verständnislos anschaut, begreife ich, dass ein unnormaler Verfall vor sich geht. Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden und können nur hoffen, dass das Leid und die Anforderung nicht zu groß werden.
 

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Letzte Woche habe ich ihren Briefkastenschlüssel von ihrem Schlüsselbund entfernt. Nicht, dass wieder wichtige Post für sie verschwindet. Mit schlechtem Gewissen unterschlug ich ihren Rentenbescheid. Der letzte Brief, den ich ihr gab, hatte große Unruhe in ihr ausgelöst. Ich wusste ja nicht, dass es um den Mitgliedsbeitrag des Frauenbundes ging. Ich gab ihr diesen Brief mit dem Tagesplan, auf dem stand, dass wir den ganzen Tag nicht da seien. Das war ein Fehler, der sie aus der Fassung brachte. Während wir weg waren, ging sie auf die Bank und zahlte den Mitgliedsbeitrag. Mir erzählte sie am nächsten Tag etwas von 300 Mark. In Wirklichkeit waren es 32 Mark.

Wenige Tage später begegnete Maria einer Bekannten. Die teilte ihr mit, dass sie an jenem Tag Anna getroffen habe. Sie sei ganz aufgeregt gewesen und habe erzählt, dass die Jungen in Urlaub gefahren seien, ohne ihr etwas zu essen dazulassen. Sie hätten sie einfach alleine gelassen...
 

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Als Maria mittags gegen eins aus der Arbeit heimkam, fand sie einen Brief für Anna im Kasten. Er war von deren Schwester Maral. Als sie ihn hochbrachte, fand sie ein Häufchen Elend vor: Anna hatte, da sie ja keinen Schlüssel mehr hatte, Post von oben aus dem Schlitz gefischt und dabei einen Brief von der Krankenkasse erwischt. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass rückwirkend ab Anfang Mai Pflegegeld bewilligt wird.
"Warum weinst du da?", wollte Maria wissen.
„Weil ich mich abgeschoben fühle!“
Vergeblich versuchte Maria Anna den Inhalt des Briefes zu erläutern.
"Das Pflegegeld ist dazu da, dass du die Menschen, die dir helfen, deinen Alltag zu meistern, bezahlen kannst."
Worauf Anna meinte: „Der Vati hat immer gesagt, solange der Sepp da ist, kann mir nichts passieren. Ich hab mich so darauf verlassen!“
"Dir passiert doch auch nichts! Ich kümmere mich doch so weit wie möglich um dich! Von meinen Kindern werde ich das aber nie verlangen!"
"Ihr wollt mich also doch loswerden!"
"Wenn wir dich ins Altersheim gäben, müssten wir viel Geld dazuzahlen. Dafür reicht das Pflegegeld, das du nun bekommst, nicht. Wenn wir dich also irgendwann ins Heim bringen, darfst du das nicht als Abschieben ansehen."
Annas Tränenfluss wollte nicht enden.
Deshalb fuhr Maria fort: „Ich verspreche dir, dass ich mich so lange um dich kümmere, wie es mir möglich ist.“ Dann zählte sie ihr auf, was sie jetzt schon alles für sie täte. Anschließend nahm sie sie in den Arm. Nun schien Anna wieder etwas ruhiger.
Um künftig ähnliche Vorkommnisse zu umgehen, rief Maria bei der Krankenkasse an und bat, Post statt an Anna künftig an ihren Sohn zu addressieren. Dort erfuhr sie, dass das ohne Vollmacht nicht möglich sei. Die könnte beim Vormundschaftsgericht beantragt werden.

Mir wurde ein weiteres Mal klar, dass die Pflegschaft nicht mehr zu umgehen ist – auch, um ihr das Leben leichter zu machen. Dann könnten wir Post von der Krankenkasse oder anderen Ämtern an uns adressieren lassen und sie würde sie nicht öffnen. Zumindest tat sie das bisher noch nie.
Habe diesbezüglich mit Frau F. vom Medizinischen Dienst telefoniert. Es tat gut, mit jemandem zu sprechen, der meine Sorgen verstand. Sie hat selbst ihre Mutter und Schwiegermutter versorgt und daher einen Einblick in meine Probleme. Sie redete mir zu, die Pflegschaft zu beantragen. Ich brauche diese kleinen Unterstützungen und Bestätigungen, um sicher zu sein, das Richtige zu tun.
 

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Sepp und die Kinder sind aus dem Urlaub zurück. Er ist so stur wie eh und je. Ich erzählte ihm von den vergangenen Tagen zu Hause.
„Jetzt will sie die Oma erziehen!“, meckerte er. Für mich gehört das Achten auf ihre Körperflege dazu. Seine Bemerkung zeigt mir, dass er meine Worte gar nicht verstanden hat. Er ist sauer, dass ich Oma einen Dauerauftrag fürs Pflegegeld, das auf ihr Konto gezahlt wird, abgerungen habe. Wem steht es denn sonst zu? Wer kümmert sich denn sonst um sie? Wenn jemand anderes es tut, dann steht es dem auch zu.
Ich habe Sepp von der Episode „Ich habe mich so darauf verlassen“ erzählt, worauf er meinte: „Ich habe mich auch auf meine Ehefrau verlassen!“ Da bekomme ich wieder die Wut. Wie kann er das so sagen? Ich kümmere mich ja! Aber ich will nicht alles alleine tragen. Wenn Entscheidungen anstehen, funkt er immer dazwischen. Eigentlich wollte ich mit ihm über die Pflegschaft sprechen. Aber es scheint nicht möglich zu sein. Noch nicht? Vielleicht sollte ich abwarten, wie es wird, wenn er vier Wochen mit ihr alleine war. Vielleicht sieht er dann manches mit anderen Augen.
 

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Oma macht Fortschritte in positivem Sinn. Sie sah mich gestern mit einem Buch und wollte auch lesen. Ich drückte ihr das Buch 'Alter als Herausforderung' in die Hand. Sie las begeistert und fasste anschließend zusammen: Der Frau ginge es wie ihr. Der Mann sei gestorben und sie fühlte sich furchtbar allein. Andere hätten ihr gesagt, sie müsse sich eine Beschäftigung suchen und dann wurde sie wieder gesund.
Wir konnten uns unterhalten und sie fragte mich, was sie tun könne. Manchmal traut sie sich etwas zu. Leider ist ihr Selbstwertgefühl nicht sehr ausgeprägt. Schade, dass sie schon so alt ist und diese bescheuerte Krankheit hat. So möchte ich nicht enden!
 

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Heute ist wieder ein Tag zum Verzweifeln. Viktoria frisst mich fast auf, ist ständig gegenwärtig. Wenn ich sie nicht sehe, höre ich sie. Zum Glück geben mir die Buben etwas Freiraum. Ohne Oma wäre es schon auszuhalten.
Ihre Anwesenheit belastet mich. Jedesmal wenn sie mir begegnet, würde ich am liebsten unsichtbar. Sie tut mir nichts, aber jeder Kontakt zwischen uns regt mich auf. Ich wünsche sie weit weg; gleichzeitig mache ich mir viele Gedanken um ihre Krankheit. Die habe ich noch nicht akzeptiert, fühle mich von ihr ausgenützt. Ich würde mich auch am liebsten dumm stellen und mich versorgen lassen. Omas Grundcharakterzug, keine Verantwortung zu übernehmen, andere vorzuschieben, andere denken zu lassen, nervt mich - unabhängig von ihrer Krankheit.
Ich bin nicht bereit, für ihre Belange die Verantwortung zu übernehmen, solange sie sie selbst tragen kann. Ich will ihr Spiel der Hilflosigkeit, mit dem sie andere so unter Druck setzt, nicht mehr mitspielen. Ich will mich abgrenzen, schützen. Ein Leben leben, in dem ich Oma nicht als viertes Kind adoptiere. Ein Leben, in dem ich zuerst meinen Kindern gerecht werde – eine Aufgabe, die schon schwer genug zu bewältigen ist.
Ich möchte meinen Nachwuchs selbständig werden lassen, ihm nach Möglichkeit meine Probleme ersparen. Manchmal gelingt mir der Umgang mit ihnen nicht so, wie ich es gerne hätte. Mein Drang nach Freiheit beeinflusst auch die Freiheit, die ich meinen Kindern zugestehe. Hoffentlich vernachlässige ich sie nicht – manchmal kommt es mir so vor, als sähen mich andere als Rabenmutter.
Oma bemüht sich, sich zurückzuhalten. Das spüre ich, fühle mich aber nicht wohl dabei. Vielleicht wird dieser Teufelskreis durch meine Abwesenheit im August aufgelöst. Ich wehre mich ja nicht grundsätzlich gegen das Geben. Mich nervt nur die Erwartungshaltung der anderen. Wenn ich mich dagegen zur Wehr setze, hört sie dann eines Tages auf, so dass ich aus freien Stücken geben kann?
Ich möchte, dass es mir gleichgültig ist, was Oma tut oder nicht tut. Zuerst brauche ich die durchgeschnittenen Ketten, die Freigabe von ihrer Seite aus. Ja, ich möchte frei auf sie zugehen können, ohne Zwang von ihrer oder Sepps Seite.
 



 
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