Szenen ...

Haremsdame

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Anna begann, Viktoria von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Während der Untersuchung in der Klinik waren Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit geweckt worden.
Einmal kam Viktoria völlig verstört zu Maria zurück.
„Die Oma hat erzählt, dass ihre Mami gestorben ist. Da war sie neun Jahre alt. Mami, du lässt uns aber nicht allein?“
Maria, die im Klinikgutachten gelesen hatte, dass sich Annas Mutter wahrscheinlich das Leben genommen hatte, wurde hellhörig und begann, Anna auszufragen.
Zu der Zeit, in der Anna sich oft aufhielt, hatte sie drei ältere Geschwister. Die Familie bewohnte in Passau ein Haus an der Ilz. Annas Vater war Maschinist auf einem Donauschiff gewesen und nur selten Daheim. Wenn das Schiff im Heimathafen lag, arbeitete er auf der gegenüberliegenden Flussseite. Dann kam es vor, dass die Mutter am Wasser stand und laut nach ihrem Mann rief.
„Die Mama war oft krank. Sie lag im dunklen Zimmer und wir durften nicht zu ihr rein. Irgendwann ist sie nicht mehr aufgewacht. Zur Beerdigung bekam ich ein schönes Kleid und einen Hut. Um den haben mich alle beneidet."
 

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Die meisten Tage mit Anna bedeuteten für Maria Kampf: für die Kinder und gegen Sepp. Immer wieder bäumte sie sich gegen die Anforderungen auf, die ihr Mann als selbstverständlich ansah.
Oder waren es ihre eigenen Forderungen? War es das Gewissen, das sie quälte, weil sie unfähig war, allen gerecht zu werden? Die Verantwortung lastete schwer auf ihr. Es gelang ihr kaum, die Gedanken an und über Anna loszulassen. Dabei wäre sie so gern eine fröhliche Mutter für ihre Kinder gewesen. Wie konnte sie Sepp stärker einbinden?
Auch andere hatten Probleme mit Annas Veränderung. Marias Mutter zum Beispiel ergänzte ihre Geburtstagseinladung mit den Worten: „Aber die Oma bringt ihr bitte nicht mit!“
 

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Endlich Urlaub mit den Kindern! Vier Wochen unterwegs von Jugendherberge zu Jugendherberge. Maria hatte ihre Reise haargenau geplant und genoss die sorglosen Tage, in denen sie die neuen Bundesländer erkundeten. Sie wanderten im Spreewald, ließen sich durch die Kanäle staken und kämpften gegen die Mücken. Auf der Insel Rügen bauten sie Strandburgen und besuchten die Störtebeckerfestspiele. Auch ein Abstecher in den Harz stand auf dem Programm. Maria fühlte sich frei, rief kaum zu Hause an.
Stattdessen frischte sie Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und Ferien bei der Großmutter in Salzwedel auf. Der letzte Besuch sollte stattfinden, als Stefan noch kein Jahr alt war. Ihn wollten sie vorstellen, doch sie kamen zu spät. Ihre Großmutter war ganz plötzlich gestorben: nachdem sie im August im Nachthemd auf der Straße spazieren gegangen war, war sie ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Nachbarn erzählten sich schreckliche Dinge von ihr. Die Besucher – auch Marias Mutter war dabei – nutzten die Tage ihrer Anwesenheit, um die Wohnung zu entrümpeln. Sie fanden Butter im Wäscheschrank und einen Kühlschrank voller ranziger Lebensmittel... Damals verstand das keiner, inzwischen ahnte Maria jedoch, dass ihre Großmutter wahrscheinlich auch an Demenz gelitten hatte. Und innerlich beschuldigte sie die Pflegekräfte in der ehemaligen DDR, anders damit umgegangen zu sein.
Doch sie wollte sich die wertvollen Sommertage nicht mit traurigen Gedanken verderben. Jetzt war Urlaubszeit und die sollte genutzt werden. Zu Hause war wieder genug Gelegenheit, sich mit dieser verdammten Krankheit zu beschäftigen.
 

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Nach einer kurzen Entspannungsphase nehmen die Schwierigkeiten mit Sepp wieder zu. Er erwartet, dass ich mich meiner Pflichten entsinne und endlich dieses „Emanzengetue“ ablege. Er meint, mein jetziges Verhalten sei „aufgesetzt“. Ich kann ihm mit keinem vernünftigen Argument kommen. Solange ich nicht bereit bin, mich ihm zu unterwerfen, will er mich nicht mehr. Er fühlt sich von mir gedemütigt und lässt sich das nicht mehr gefallen. Ich fühle mich unterdrückt und weiß nicht, wie ich das aufmüpfige Etwas in mir zum Schweigen bringe. Ich muss eine Entscheidung treffen: Entweder gebe ich einen Teil meines Lebens auf, ordne mich unter und mache Sepp glücklich. Oder ich kämpfe für mich, sorge für mich, lebe und schüttle Sepp ab. Er ändert sich bestimmt nicht mehr, wahrscheinlich wird er immer mehr verhärten.
Heute hat er mir gesagt, dass er den Machtkampf gewinnen will. Für mich ist es nur noch ein Kampf ums Überleben. Wenn ich meinen immer lauter werdenden Kern, das sich immer wieder aufmuckende Etwas entfernen könnte, vielleicht würde ich es mir amputieren lassen. Aber wer kann mir dabei helfen? Wer macht diese Gehirnwäsche mit mir? Das würde mir bestimmt viel weniger übel genommen werden als ein Selbstmord – obwohl es fast das Gleiche wäre...
Zum Glück ist mein Wunsch nach Leben größer. Ich bin auch bereit, Lasten zu tragen – nur nicht die Lasten anderer. Ich bin nicht mehr bereit, alles auf mich zu nehmen, damit Sepp gut und sorgenfrei leben kann. Ich bin nicht mehr bereit, von ihm Vorwürfe einzustecken, weil ich die Organisation hier schaukle. Auch will ich unseren Kampf nicht auf dem Rücken der Kinder austragen.
In der Angehörigengruppe wurde mir heute dringend eine Gesprächstherapie empfohlen. Ich kam dem Arzt etwas überfordert vor. Nur in Sepps Augen tue ich zuwenig – oder zuviel Falsches.
 

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Eigentlich wollte Maria alles aufschreiben, was sie mit Anna erlebte. Zeitnah. Aber es gelang ihr nicht. Der Alltag mit drei Kindern, einer geliebten Arbeit und einer immer schwieriger werdenden Schwiegermutter zollte seinen Tribut. Dazu die Streitereien mit Sepp, wenn er denn mal zu Hause war. Marias Verzweiflung wuchs. Sie fühlte sich von allen unverstanden.
In ihrer psychosomatischen Kur hatte sie gelernt, sich abzugrenzen. Nun musste sie wieder umdenken. Denn es ist auf Dauer nicht möglich, sich von hilflosen Menschen abzugrenzen. Die brauchen jemanden, der ihnen beim Leben hilft. Wenn das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, gerät alles in Vergessenheit, sogar das Essen.
Maria brachte es nicht übers Herz, Anna hängen zu lassen. Sie fühlte sich für deren Wohlbefinden verantwortlich. Aber auch die Kinder waren in einem Alter, in dem sie die Mutter brauchten. Egal ob es um schulische Belange oder Freizeitaktivitäten ging, Maria musste stark bleiben. Wie oft dachte sie: „Die Kinder haben ihr Leben noch vor sich, Anna hat es schon gelebt – und das nicht schlecht.“
Kaum jemand verstand ihre Sorgen. Die eigenen Eltern wollten nichts über Anna hören. Nach Möglichkeit wollten sie sie auch nicht sehen. Wahrscheinlich machte ihnen ihr Zustand Angst. Vielleicht befürchteten sie, eines Tages auch so zu enden? Eine ältere Kegelfreundin, die sich rührend um ihren alzheimerkranken Vater und die ihn pflegende Mutter kümmerte, verstand Marias Niedergeschlagenheit. Auch ein langjähriger Freund, dessen Vater an dieser unheilbaren Krankheit litt, versuchte ihr seelischen Beistand zu geben, indem er erzählte, wie seine Mutter alles meisterte.
Marias Fall lag jedoch anders. Ein Ausweg musste her! Und der hieß „Pflegeheim“ - egal wie sie es drehte und wendete. Also begann sie, sich danach umzusehen.
 

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„Man sollte Demente so lange es geht zu Hause lassen“, erörterte die Heimleiterin beim Besichtigungstermin. „Außerdem dürfen wir niemanden ohne Einwilligung aufnehmen. Haben Sie eine Vollmacht für ihre Schwiegermutter, in der sie über den Aufenthalt bestimmen dürfen?“
Maria erfuhr von langen Wartelisten in den Heimen und stellte sich innerlich darauf ein, noch ein oder zwei Jahre überbrücken zu müssen. Schon allein die Aussicht auf ein Ende dieser Überlastung gab ihr wieder etwas Kraft. Doch Sepp wollte von all dem nichts hören. Seine Mutter ins Heim abschieben? Das kam gar nicht in Frage!
Maria kümmerte sich gegen seinen Willen um die Aufenthaltsbestimmung und meldete ihre Schwiegermutter in zwei gut erreichbaren Heimen an.
 

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In den Herbstferien besuchte Maria mit den beiden jüngeren Kindern eine Freundin.
Ich bin froh, dass wir mit dem Zug gefahren sind. Es war viel erholsamer als hinter dem Lenkrad die Verantwortung für den Transport zu tragen. So konnte ich den Kindern ein Buch vorlesen, fand Zeit für die Zeitungen der vergangenen Tage und sah auch etwas von der Landschaft. Das im-Zug-sitzen machte mir deutlich, wie wichtig für mich das „Vorwärtskommen“ ist. Diesmal geschah es ohne mein Zutun. Auch genoss ich die Bahnhofsathmosphäre, die für mich Ankommen und Abfahren, Begrüßung und Abschied vereint.
Mir ist klar geworden, dass ich es nicht allzu lange an einem Fleck aushalte. Ich suche immerzu das Neue, das Weitere, den Fortschritt. Stillstand ist mir zuwider. Vielleicht bin ich meist so sehr an einem Ort oder in einer Situation, dass ich zur Erholung einen Ortswechsel brauche. Ich versuche, meine augenblicklichen Wünsche so intensiv zu befriedigen, dass ich für den Moment satt bin. Um nicht übersättigt zu werden, brauche ich dann wieder Distanz.
Oma habe ich satt, da kommt nichts Neues mehr. Sepp habe ich seit seiner Versteinerung satt – es ist kein Fortschritt mehr möglich.
 

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Im Dezember war Sepp mit seinem Großen auf der Fussballerweihnachtsfeier. An diesem Tag dehnte Maria das Abendessen mit Anna aus. Dabei offenbarte sie ihrer Schwiegermutter, dass sie in ein paar Tagen ein Heim besichtigen würden. Während sich die Kleinen zum Spielen zurückzogen, erlebte Maria positve Nähe zu Anna. Später fragte sie sich in ihrem Tagebuch:
Warum ist das nur so selten möglich? Warum ist das mit Sepp gar nicht mehr möglich? Wenn er da ist, entsteht Unruhe, Hektik, spitze Bemerkungen fallen. Wenn er und ich zusammen sind, herrscht eine so negativ aufgeladene Spannung, dass sich andere ebenso unwohl fühlen wie wir. Wenn Sepp da ist, regt mich Oma oft auf. Heute fühlte ich mich wohl in ihrer Gesellschaft.
„Mir tut meine Krankheit nicht weh. Ich lass es mir noch gut gehen, solange es geht, und wenn es nicht mehr geht, kratze ich ab.“ Ein Satz, der mich nur groß schauen ließ. Er kam von Herzen. Warum fallen solche Sätze nicht in Sepps Beisein?
Er ist sauer, dass ich Annas Heimeinweisung forciere. Aber bei der Betreuung hilft er mir nicht. Oma scheint bereit zu sein, sich mit den Tatsachen abzufinden. Sie bekundete mir gegenüber sogar Verständnis, dass mir alles zuviel wird: „Ich habe schon oft darüber nachgedacht, warum du dir das mit dem Journalismus auftust. Aber ich habe auch gearbeitet, obwohl ich es nicht gebraucht hätte.“ Sie schien zu verstehen, dass mich meine Arbeit glücklich macht, während ich mich als Hausfrau oft unglücklich fühle.
Diese Stunde mit Anna war voller Einklang. Aber ich kenne das schon: ohne Sepp ist vieles leichter. Dabei glaubte ich einmal, dass wir zusammen ein gutes Leben führen könnten. Heute verbreitet er oft eine schreckliche Aggressivität. Aus lauter Angst vor Vorwürfen bin ich ständig in Hab-Acht-Stellung. So ein offenes Gespräch wie heute mit Anna ist in seinem Beisein undenkbar. Er meint zu wissen, dass wir das, was wir aussprechen, gar nicht wirklich denken.
„Ich muss meine Mutter für dich opfern“, warf er mir kürzlich vor. Freunden gegenüber kann er zugeben, dass es mit Omas Krankheit manchmal nicht mehr auszuhalten ist. Mir gegenüber hackt er, beschuldigt mich wegen meiner Unfähigkeit, das durchzustehen.
 

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Für nächstes Wochenende hat Sepp meinem Bruder versprochen, dessen ein und vier Jahre alte Buben zu hüten. Ich wurde nicht gefragt und habe daher auch vor, ihn allein damit zurecht kommen zu lassen. Gestern abend kam dann der unvermeidliche Vorwurf: „Mir wird immer mehr aufgehalst. Ich werde nie entlastet.“
Natürlich wies ich ihn darauf hin, dass er sich seine Babysitterdienste selbst eingebrockt habe. Ich hätte in der momentanen Situation „nein“ gesagt. Dabei finde ich es nicht einmal schlecht, dass mein Bruder den Taufpaten seines Jüngsten um Hilfe bat. Aber wenn der diese Hilfe zusagt, darf er sie nicht wie üblich selbstverständlich an seine Frau weitergeben. Dieses Auseinanderhalten von Dein und Mein ist hart. Aber wenn ich es nicht konsequent durchziehe, werde ich aufgefressen.
Es trifft mich jedesmal hart, wenn Sepp mir Egoismus vorwirft. Dabei tue ich im Endeffekt nichts anderes als das, was er sich schon seit vielen Jahren herausnimmt. Ich wehre mich mit Händen und Füßen gegen die Aussage, auf seine Kosten zu leben. Ich habe eher das Gefühl, von ihm ausgenutzt zu werden.
Es ist alles so verzwickt! Ich sehne mich nach Frieden. Ein Trost ist, dass ich ohne meinen „Gebieter“ diesen Frieden oft erlebe. Nicht die Arbeit frisst mich auf, sondern die von außen an mich herangetragenen zusätzlichen Ansprüche.
In mir ist etwas, das genau weiß, was mir gut tut. Das wird immer lauter und eindringlicher. Die Stimmen von außen gehen dagegen an, aber was siegen wird, ist schon deutlich herauszuspüren.
 

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Weihnachten 1993
Heute war ich mit Viktoria in der Kirche. Ich hatte Angst, mich der Musik hinzugeben, denn sie trieb mir Wasser in die Augen. Vor allem beim laut und freudvoll gesungenen „Stille Nacht, Heilige Nacht“ kullerten mir Tränen übers Gesicht. Viktoria sah mich fragend an und ich versuchte über mich selbst zu lachen, wobei ich fast die Fassung verlor. Sicher hätte es mir gut getan, mich fallen zu lassen.
Seit heute Nacht habe ich das Gefühl krank zu werden. Alle Muskeln sind angespannt, die Glieder und der Kopf, vor allem um die Augen herum, schmerzen. Auch der Hals ist nicht okay. Eigentlich würde ich mich gerne schonen, hinlegen, schlafen, lesen. Aber scheinbar brauche ich als Rechtfertigung dazu eine Krankheit. Mit Fieber bekäme ich vielleicht weniger Vorwürfe von Sepp.
 

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Am 28. Dezember klingelte schon morgens das Telefon. Der Anruf kam aus einem Heim. Dort sei ein Platz frei geworden. Anna könne am nächsten Tag einziehen.
Maria war ebenso geschockt wie Sepp. Dass dieser Anruf ausgerechnet über die „harmonischen“ Feiertage kam, erschwerte die Umsetzung. Die Entscheidung musste schnell gefällt werden, denn es standen noch andere Notfälle auf der Warteliste.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, entschied Sepp und Anna blieb weiter da, wo sie nun schon über drei Jahre lebte.
 

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Am Sylvesterabend entlud sich die zwischen Sepp und Maria aufgestaute Spannung mit viel Geschrei und Frust.

Nachdem ich ihm meinen Körper zur Verfügung gestellt hatte, wurde er wieder umgänglicher. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf diesen Handel einzulassen. Auch wenn ich mich dabei nicht wohl fühle...

Die schlechte Stimmung ging weder an den Kindern noch an Anna spurlos vorüber. Sie schürte Annas immer stärker werdendes Misstrauen. Ständig hatte sie Angst, bestohlen zu werden. Und sie fühlte sich ungeliebt – womit sie nicht unbedingt falsch lag.
 

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Liebe Uschi,
Sepp schaut sich im Fernsehen mit den Kindern und der Oma „Batman“ an. Das reizt mich gar nicht. Wäre es als gute Ehefrau meine Pflicht, dem Rest der Familie Gesellschaft zu leisten? Irgendetwas in meinem Leben läuft völlig verkehrt. Wahrscheinlich ticke ich nicht richtig.
Heute nachmittag rief ich bei meinen Eltern an und wollte mich erkundigen, wie es meiner Mutter geht. Sie hatte die letzten Monate oft Probleme beim Luftholen, es ging ihr teilsweise so schlecht, dass sie glaubte, ihr letztes Stündlein würde nahen. Heute ging es ihr zum Glück einigermaßen.
Wie soll ich Dir nur erzählen, wie mein Empfinden, nicht in Ordnung zu sein, zustande kam? Ich fragte meine Mutter, ob Sepp vergangenen Sonntag noch sehr über mich geschimpft hat. „Nein“, war ihre Antwort. „Aber so wie du dich verhalten hast, hätte ich es nie getan! Du hast zwar gefragt, ob wir etwas dagegen hätten, wenn du in die Kirche gehst. Mir war das auch egal. Aber hättest du nicht Sepp zuliebe darauf verzichten können? Ich steh ja über der Sache, ich werde mich auch auf keine Seite schlagen, mische mich nicht ein. Du schlägst so richtig in die Familie deines Vaters. Ihr denkt nur an euch!“ Das ist ein Teil dessen, was bei mir angekommen und hängen geblieben ist. Es ging aber noch weiter: „Dein Vater hat mir klipp und klar gesagt, dass er geht, wenn ich meine Mutter ins Haus hole. So habe ich jahrelang mit einem schlechten Gewissen gelebt.“
Ich kann mich nur daran erinnern, dass sie oft und viel über die Unselbständigkeit ihrer Mutter geschimpft hat. Als Kind empfand ich das als übertrieben und ungerecht. Nun habe ich meine Schwiegermutter im Haus, die viele Parallelen aufweist. Das, was meiner Mutter früher durch die Aussage meines Vaters erspart blieb, muss ich nun durchmachen.
„Bei uns wäre es nicht gegangen, unsere Wohnung wäre viel zu klein gewesen“, sagt sie heute und hält mir vor, dass ich mich durch meine Arbeit außer Haus beweisen will. „Ich wäre lieber bei meinen Kindern geblieben, aber ich musste schon arbeiten, als du zwei Jahre alt warst. Als ihr größer wart, wollte ich nicht mehr aufhören. Ich habe gut verdient und wollte mir meine Rente sichern. Erst da habe ich mich auch profiliert.“
Ist meine „Profilierung“ denn wirklich so verachtenswert? Ich bin doch wenigstens nachmittags bei den Kindern, was sie auch sichtlich genießen. Ich war als Kind bis abends allein. Ich bemühe mich, es besser zu machen, werde aber ständig angegriffen. Oder fühle ich mich nur angegriffen? Kommt dieser Angriff von innen oder von außen?
„Männer denken anders als Frauen und danach müssen wir uns richten“, sagte mir meine Mutter. Sie fühlt sich unfrei und ärgert sich, dass sie nicht lesen kann, wenn mein Vater fernsieht. Sie beklagt sich, dass sie ins Bett muss, wenn er ins Bett geht. Sie schimpft, dass er sich alle Freiheiten heraus nimmt und sie immer kuschen muss.
Ich habe mir vorgenommen, es anders zu machen, aber das ist entsetzlich schwer. Ist das mein Erbe als Tochter meiner Mutter oder als Frau? In meiner Umgebung ist Individualismus nicht gefragt. Sepp sieht dadurch die Gemeinschaft bedroht. Auch das selbständige Denken bei den Kindern liebt er nicht, sobald es nicht seiner Denkweise entspricht.
Nach dem heutigen Telefonat mit meiner Mutter bemühte ich mich mal wieder um ein Gespräch mit Sepp. Es hagelte aber nur Vorwürfe: „Du hast mein Leben kaputt gemacht! Du hast mir mein Selbstvertrauen genommen! Du meinst, Du bist etwas besseres!“ Auf meine Frage, wie er sich die Zukunft vorstelle, antwortete er: „Nimm Deine Sachen und geh! Du bringst dich doch nicht alleine durch! Aber die Kinder bleiben hier!“
So geht das aber nicht, denn es sind auch meine Kinder. Sie lieben uns beide, sie brauchen uns beide! Warum finden wir keinen Mittelweg? Sepp meint, ich wolle nur meinen Willen durchdrücken. Will ich das wirklich? Bin ich so blind, dass ich es nicht erkennen kann? Er sagt, er sei zu keinem Kompromiss mehr bereit. Ich solle nicht so blöde Bücher lesen. Da wurde es mir aber doch zuviel:
„Warum schaust du dir das Buch „Scheiden vermeiden“ nicht an? Warum hast du dir die „Familienkonferenz“ gekauft und sie sofort weggestellt, als ich freudig dieses Buch begrüßte? Hast du es etwa für mich gekauft?“
„Ich kann es mir leisten, ein Buch zu kaufen und es nicht zu lesen. Ohne deinen Kommentar hätte ich es ja gelesen, aber so interessiert es mich nicht!“
Es schmerzt, vor Dir die schmutzige Wäsche zu waschen. Aber ich weiß nicht mehr weiter. Ich wünsche mir so sehr Frieden! Ich will nicht mehr streiten. Doch sobald ich mich um ein Gespräch bemühe, bekomme ich nur Vorwürfe. Ich weiß ja selbst, dass ich kein Engel bin. Ich weiß, dass ich Fehler habe. Vielleicht ist es wirklich nicht leicht, mit mir zu leben. Aber so ein Teufel, wie er ihn an die Wand malt, bin ich wirklich nicht!
Jedesmal, wenn ich in den Spiegel sehe, erschrecke ich: wie der Tod auf Latschen sehe ich aus. Warum nur machen wir uns das Leben so schwer? Er leidet, ich leide, aber den Weg zueinander finden wir nicht. Meine Mutter schlug vor, mal alte Fotos von uns anzusehen. Ob ich dadurch wieder fügsamer werde? Sepp sagt, ich wäre nicht mehr ich selbst, ich hätte durch die Emanzipationslektüre ein „aufgesetztes Ich“. Eine Therapeutin sagte mir einmal, ich müsse mir meine Machtlosigkeit gegenüber meinem Willen eingestehen. Sie hat ja recht, ich habe einen starken Willen, er gehört zu mir und macht mir und meiner Umgebung das Leben schwer. Dabei will ich meiner Umgebung das Leben gar nicht schwer machen!
Jetzt, wo ich Dir geschrieben habe, was bei uns momentan an Kommunikation läuft, kannst Du Dir vielleicht eher vorstellen, dass Absprachen nicht möglich sind. Es ist leichter, etwas zu tun, als darüber zu reden. Um weiteren Ärger zu vermeiden, werde ich im Ehebett bleiben. Vorerst zumindest. Da gehen Deine und meine Meinung eben auseinander. Lieber lasse ich mich vergewaltigen, als ständige Prügel durch Worte zu beziehen...
 

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Hier herrscht augenblicklich herrliche Ruhe. Sepp und die Kinder sind irgendwo im Haus – ich suche sie vorsichtshalber nicht. Oma putzt die Treppe – wahrscheinlich hat sie wieder keine Ahnung, dass heute Sonntag ist. Dafür kam von Sepp ein Friedensangebot. Er meckerte heute früh mal nicht an mir herum, deckte den Frühstückstisch während ich duschte und forderte die Kinder auf, beim Abräumen zu helfen.
 

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Über den Hausarzt fand Maria einen Ergotherapeuthen für Anna. Er sollte ihr Lebensmut zurückgeben und sie beruhigen. In seinem Beisein erzählte Anna von einem Traum: „Ich bin ganz selbständig in den Sarg geklettert und habe den Deckel von innen zugemacht.“
Beim Abendessen fragte Anna ihre Schwiegertochter, wo sie diesen Therapeuten gefunden hätte. Er sei „recht anständig“ und habe ihr versprochen, sich um einen Heimplatz für sie zu kümmern.

Sie will ins Heim, um uns zu entlasten! Dieser Mann hat eine tolle Leistung vollbracht! Als ich damals mit ihr das Haus ansehen wollte, hielt sie die Augen geschlossen. Wie lange ihre Zustimmung wohl anhält?
Herr Z. sieht sich vorerst als „Blitzableiter“. Später will er sie etwas aufbauen. Hoffentlich gelingt es ihm! Um kein zusätzliches Misstrauen entstehen zu lassen, will er sie auf neutralen Boden holen und sie nicht in ihren eigenen vier Wänden behandeln.
Mein Hoffnungslichtlein ist wieder angezündet. Diesmal musste ich lange drauf warten...
Inzwischen habe ich erfahren, wieviel wir zum Pflegeheim dazu zahlen müssen. Auch wenn es kein Pappenstiel ist, wird es schon gehen. Wenn Oma im Heim ist, kann ich ja mehr arbeiten.
 

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Maria nutzte Annas Motivation, um ihren Kleiderschrank zu durchforsten. In die meisten Teile nähte sie Namensetiketten. Dennoch wuchs der Stapel der unbrauchbar gewordenen Stücke – und damit auch Annas Widerstand. Je mehr Anna litt, desto größer wurde Marias schlechtes Gewissen.

Wieder einmal kam Annas Schwester zu Hilfe. Die treue Seele besuchte sie immer häufiger. Um Maria zu entlasten, nahm sie Anna für ein paar Tage mit zu sich.

Sepp war gelöst, hat von sich, von seiner Arbeit erzählt. Bringt sich trotz vieler Abwesenheit gedanklich in die Familie ein. Ist durch die Abwesenheit seiner Mutter eine solche Last von ihm gefallen? Die Gespräche am Familientisch haben sich geändert. Das schlechte Gewissen, Oma zu wenig Zuwendung zukommen zu lassen, ist weg. Plötzlich fällt mir auf, wie selbständig Benjamin schon geworden ist. Abends geht er allein ins Bett, ist morgens ausgeschlafen. Zwischen meinen Buben und mir zeigt sich eine tiefe Vertrautheit. Stefan ist trotz seiner Pubertät ansprechbar, strahlt mich manchmal richtig an. Wir lachen mehr als sonst , obwohl ich fast jeden Abend einen Pressetermin habe.
Oma bleibt bis Sonntag bei ihrer Schwester. Ich fahre am Freitag zu Uschi und komme am Sonntag mit Viktoria und Benjamin zurück. Sepp gibt mir sein Auto, betont aber, dass er es ungern macht. Ich fühle mich trotzdem nicht in die Ecke gedrängt, kann zu meinem Vorhaben stehen. Die letzten Tage führen wir ein Leben, wie ich es mir oft gewünscht habe. Der ständige Druck ist weg.
 



 
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