Es tut mir leid, wenn ich etwas Magenbitter in diesen Sud aus zuckersüßen Lobeshymnen schütte, aber wenn es das Sonett allein noch nicht schaffen konnte, so hat spätestens diese Litanei aus lobgesudeltem Spam mir das Menü verdorben.
Eine blahblah-Formel wie
"ehrlich und wahr aus dem Leben, wie es nun mal ist" würde ich nicht einmal mehr dazu verwenden, ein Gedicht in absoluten Misskredit zu bringen, denn dazu ist sie selbst in ironischer Absicht einfach zu abgenutzt: Sie schlägt erbarmungslos auf ihren Sprecher zurück.
Und wenn hier gleich zu Anfang jemand seine Vorstellung von einem
"wirklichen Dichter" an diesem Gedicht festmacht, weil es etwas zu sagen hat, was beim
"Leser hängen bleibt", dann frage ich mich, ob damit auch das übliche sentimentale Altersresümieren gemeint ist, was bei den meisten "Dichtern" hier ohnehin schon einen Logenplatz einnimmt.
Wer von dem Sonett so begeistert ist, dass er nicht umhin kann, fünf Sternchen zu vergeben, sollte das Werk einmal genauer betrachten, zumindest nach formalen Gesichtspunkten: Metrik und inhaltliche Sonettgestaltung, sofern seine Kenntnisse dies gestatten. Um es gleich zu sagen: Ich finde das Gedicht gar nicht so übel - allerdings auch nicht so spitzenmäßig, wie es der Sternchenregen erwarten lässt.
Worum geht es:
Das Sonett versucht eine Versöhnung mit dem nicht aufzuhaltenden Prozess der Alterung und begibt sich dazu auf die Pfade der Selbstironie:
- Besser eine Wolkenspiegelung auf der Glatze anstatt störender Haare. Doch was hier für die Herren noch glimpflich ausgehen mag, funktioniert
"für Heike" sicher nicht so gut.
- "
das Foto mit uns beiden drauf beweist:
Im Grunde sind wir ganz und gar die alten!"
Die alten? Oder nicht besser: Die Alten? Das wäre sicher eine trefflichere, weil paradoxe Schreibweise, weil es dem LyrIch im Bedauern seiner verflossenen Jugend den Läufer unter den Füßen wegziehen würde: Das LyrIch, das jetzt nicht alt sein will, freut sich, dass beide noch "die Alten" geblieben sind.
Der restliche Inhalt bedarf eigentlich keiner gesonderten Erörterung, weil er sich ausschließlich mit den üblichen Topoi befasst, die üblicherweise auf eine sentimentale Rückschau abonniert sind: Der verklärte Blick auf die wunderbare gemeinsame Zeit wird kontrastiert mit den Faltenbildungen, Haarausfällen und Gewichtszunahmen, die sich im Laufe der Jahre eingestellt haben. Verstärkt wird dieser sich am Mainstream orientierende Effekt noch durch gängige Redewendungen (
Verdammt lang her; wer zu früh flennt, den bestraft). Das alles ist nicht gerade neu, es wird auch nicht ironisiert oder im letzten Terzett transzendiert, sondern humorvoll vorgebracht und signalisiert auf diese Weise, wie damit umgegangen werden sollte. Das kommt gut an, weil es einen Kern der hiesigen Leser trifft, die ausschließlich in der humorvollen Betrachtung ihrer Alltagsprobleme die Aufgabe einer guten Lyrik sehen.
Ich möchte dem allerdings hinzufügen, dass auch humorvolle Lyrik um eine formale Betrachtung nicht herum kommt, und da wundert's mich nun schon, das hier keiner in seinen Lobeshymnen auf die Sonettform überhaupt eingegangen ist. Um es gleich zu sagen: Nicht alles, was aus 4 Strophen und 14 Versen besteht, ist automatisch ein Sonett.
Und hier läuft das Metrum recht hart gegen den Strich: Ich weiß nicht wie ich es betonen soll! Entweder man liest (deduktiv) metrisch, dann bekommt man es mit Beugungen zu tun - oder man liest (induktiv) sinngemäß, dann ergibt sich häufig ein Betonungsprall und ein verwirrendes Muster. Jedenfalls sind beide Lesarten hier nicht sonderlich deckungsgleich. Ich habe zur Verdeutlichung einmal die induktive Betonung gewählt:
Erinnerst du dich? Weißt du noch? Na klar!
xXx x X X x x x X
Die Zeiten, die wir unbeschwert verbrachten.
x Xx xx XxX xXx
Wenn‘s manchmal nichts zu lachen gab, wir lachten!
x Xx X x Xx X x Xx
Weil dann die graue Werkstatt bunter war.
x X x Xx Xx Xx x
Wir kamen ziemlich weit, und offenbar [Nebenbei: Das Komma sollte besser weg]
xXx Xx X x XxX
auf Wegen, die wir nicht im Traum bedachten.
x Xx X x X x X xXx
Das Altern kann man dabei so betrachten:
x Xx X x xX X xXx
Wo sich heut‘ Wolken spiegeln, störte Haar.
X x X Xx Xx Xx X
Verdammt lang her! Ein Fetzen Jugend reißt
xX x X x Xx Xx X
sich täglich los von uns. Nichts wird sie halten. [Nebenbei:
"... von uns los" wäre
sicher besser]
x Xx X x X X x x Xx
Quatsch! Wer zu früh flennt, den bestraft … Das heißt:
X X x X x X xX x X
Trotz ein paar Kilo mehr und Lächel-Falten,
X x x X x X x XxXx
das Foto mit uns beiden drauf beweist:
x Xx X x Xx x xX
Im Grunde sind wir ganz und gar die alten!
x Xx X x X x X x Xx
Nun mag man die metrische Form des Sonetts für überflüssig erachten - es gibt da ja inzwischen alle (un)möglichen Formen - es in einem Kommentar völlig unerwähnt zu lassen, ist aber keine Alternative. Wer sich so positiv für ein Gedicht einsetzt, der sollte sich auch die Mühe zu einer eingehenderen Betrachtung machen, ansonsten bleibt's oberflächliches Schultergeklopfe.
Und warum nun diese große Begeisterung? Meine Erklärung: Hier hat der Kuckkuck sein Ei ins fremde Nest gelegt und freut sich nun über das Resultat!
Naja.
Liebste Grüße
JB