In wie vielen Sprachen wird eigentlich überhaupt nicht gereimt?
Das ist, Tula,
eine gute Übersicht über die "Reim"-Situation
Und eine entscheidende Frage zum Schluß Deines Überblicks.
Das geht in die letzten dreitausend Jahre zurück, und es ist nicht sicher, daß der Bumerang seine Wurfschlaufe zum Werfer zurückführt.
Es ist eigentlich einfach:
1. a) Nicht gereimt sind die großen Liedersammlungen des Rgveda. Das Strukturprinzip in dieser 3000 Jahre (!) alten Literatur ist die quantitierende Metrik, d.h. die Längen und Kürzen der Silben sind zu Versfüßen geordnet, und deren Zählung und Anordnung wird mit den Namen der entsprechenden Verstypen betitelt. Es gibt dreiversige-Strophen und vierversige, oder einfach die Parallel-Ordnung der sieben, zehn oder mehr Verse eines gleichmäßig rezitierten Liedes.
b) Nicht gereimt, aber im epischen Versmaß durchgängig gegliedert sind die zahllosen Sprüche, wie sie etwa in Erzählungen reichlich eingeschoben sind oder den Sentenz-Anfang oder Moral-Abschluß einer Fabel bilden. Und natürlich die 100.000 Verse des Mahâbharata und des Ramâyana. Dieses Versmaß hat vier "Füße" ("pâdas", vgl. lat. "pedes"), zwei pro Doppelvers-Hälfte, beginnt trochäisch und endet iambisch. Das nennt man "Shloka". Die meisten Verse der Bhagavad-Gîtâ sind Shlokas. Vergleichbar dem daktylischen Hexameter bei Homer, Hesiod, Vergil und Ovid.
2. a) Nicht gereimt sind die griechischen und dem zufolge die lateinischen Epen und Lehrgedichte der Antike, also in großer Fülle die vier eben genannten Dichter, deren durchgängige Versform der daktylische Hexameter ist.
b) Nicht gereimt sind natürlich auch die sapphischen, alkäischen und asklepiadeischen Strophen der griechischen Lyrik, fortgesetzt bei Catull und Horaz, wieder aufgenommen bei Hölderlin.
Hier wie auch bei allen bisher genannten Vers-Geschmeiden dient die quantitierende Metrik der dichterischen Form.
3. Die hebräische Dichtung reimt nicht, ihr Hauptstilmittel ist aber nicht die quantitierende Metrik, sondern der Parallelismus Membrorum, d.h. alles wird zweimal gesagt, in je zwei einander entsprechenden Versen eines Doppelvers-Spruchs. An dieser Dichtungsform erkennt man nicht nur die 150 Psalmen, sondern auch die Sprüche der Propheten, das ist die Hälfte der AT-Texte. Eine Menge Dichtung.
Nun also aber:
4. a) Den Reim, gerne durchgängig in Knittelversen, pflegen zunächst einmal die Dichter des Mittelalters, die Minnesänger und Epen-Dichter,
b) parallel zu den arabischen und persischen Dichtern, nein - die gehen ihnen zeitlich voraus; wie der gotische Spitzbogen zuerst im islamischen Kuturraum die Gebäude charakterisiert, und erst nach der Orientberührung der Kreuzzüge in Europa bestimmend wird. Kurz: Reime sind gotisch wie die betende Fingerspitzen-Berührung der Fensterbögen im Mittelalter.
c) Erstaunlicherweise bleibt der italienische Rinascimento wie auch die bürgerlichen Meistersinger in den Städten beim Reim, trotz der Entdeckung der griechischen Tragödien und der homerischen Epen, die ja nicht reimen. Das Sonett ist gereimt.
d) Und so die Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, bei fast aller Dichtung,
und rückweisend auf die nicht-reimende Antike nur beim "Oden"-Mißverständnis (z.B. Klopstocks) oder bei den pointiert-klassizistischen Dichtern.
Interessant der Übergang vom daktylischen Hexameter zum iambischen Knittelreim aus dem Munde von Goethes Helena im Faust. Klassizismus der Deutrschen Klassik.
Zweitausend Jahre
(oder auch viertausend, wenn man die natürlich ungereimte mesopotamische und die ägyptische Dichtung in den Vergleich mit einbezieht)
der reimlosen Versrezitation,
dann tausend Jahre der reimenden Gedächtnisstützen.
grusz, hansz