Nur damit du direkt einschätzen kannst, wo du dich gedanklich in dieser Geschichte befinden wirst: Stell dir vor, du startest am Fuß des Bärenkopfes, einem Eintausendneunhunderteinundneunzig Meter hohen Berg am Rande des Achensees in Österreich. Diesen möchtest du heute erklimmen, denn die Wanderlust hat dich gepackt. Der Anstieg von Tausend Höhenmetern ist nichts Wildes im Vergleich zu den zahlreichen Dreitausendern, die man in den Alpen erklimmen kann. Dennoch sagen die Daten der Tour deinen Beinen direkt: „Obacht, morgen tut es weh“.
„Naja“, denkst du dir, „in letzter Zeit posten fast alle auf Instagram Bilder von luftigen Höhen, überragenden Aussichten und der uneingeschränkten Verbundenheit zur Natur, so schlimm kann es also nicht sein“. Wenn das sogar die Leute schaffen, die in deinem Sportkurs auf dem Gymnasium keine Tausend Meter am Stück laufen konnten, ohne sich über die Hitze, den Sportlehrer oder ihre seltsamerweise in viel zu kurzen Abständen auftretende Regel beschwerten, dann schaffst du das auch.
Zu Beginn der Tour musst du direkt am Parkplatz durch ein kleines hölzernes Tor mit der Aufschrift: „Achtung Wildtiere, bitte unbedingt Abstand halten“. Geil. Vielleicht siehst du einen Bären. Zum Glück hast du ein 8 in 1 Multitool in deinem Decathlon-Wanderrucksack. Pfeife, Kompass, Thermometer, Taschenmesser, Wanderstock, Klappstuhl, Campingkocher und Wurfzelt, ausgestattet mit Bluetooth zur optimalen Anpassung des Equalizers. Als du dich vor 2 Wochen in deiner Altstadtwohnung in Hamburg auf die Tour vorbereitet hast, hat dir jeder empfohlen, dir dieses coole Stück Technik zuzulegen. Soll der Bär doch kommen. Der kann dir nichts. Schon jetzt fühlst du dich wie Crocodile-Dundee.
Nach den ersten Hundertfünfzig Höhenmetern machen sich in deinem Kopf bereits erste Zweifel breit. Was, wenn der Weg weiterhin so steil ist? Die Steigung macht dir jetzt schon zu schaffen. Aber andererseits kannst du zu Hause vor deinen Freunden Carlos und Annita damit prahlen, wie krass deine Wanderung war. Die werden Augen machen. Also geht es weiter über einen Forstweg bis zur Einkehrstation „Bärenbadalm“. Du bist jetzt immerhin Eineinhalb Stunden marschiert, da hast du dir einen Russ´ und eine Gulaschsuppe verdient. Irgendwie seltsam, wie die Gesamtheit der Gäste hier oben zusammengesetzt ist. Am Tisch nebenan sitzen drei Paare, zwei davon mit Kind. Das sind wohl irgendwelche Touri´s, die mit der „Karwendelbahn“ zur Alm hochgefahren sind. Dir gegenüber sitzt ein älteres Ehepaar. Er sieht total wild aus mit seinem grauen Bart, fast schon wie der Opa von Heidi. Das müssen echte Bergsteiger sein, wie ihre Ausrüstung verrät. Dann gibt es da Wanderer mit Hund, Wanderer ohne Hund, viel zu laut lachende Frauentische und eine Gruppe Männer, die schon längst vergessen haben, wie sie wieder nach unten kommen. Und mittendrin du, ein 24-jähriger Student aus Hamburg, der immer noch auf die Begegnung mit einem ausgewachsenen Braunbären hofft, damit er so richtig fest in seine Pfeife pusten kann. Natürlich schaffst du dein Weizenradler nicht ganz, aber das ist nicht schlimm. Du bist ja zum Wandern hier und nicht zum Saufen.
Ab jetzt soll es so richtig krass werden, hat dir das ältere Bergsteigerpaar verraten. Voller Vorfreude machst du dich also auf den Weg. Dieser führt dich über einen schmalen Pfad durch den Wald. Überall ragen Wurzeln aus dem Boden. Immer wieder hörst du in der Nähe ein Glockenläuten. Schon seit Beginn der Wanderung fragst du dich, wer auf die Idee kommt, eine Kirche mitten in den Wald zu bauen. Plötzlich trottet in Seelenruhe eine Kuh aus den Bäumen hervor und legt sich mitten auf den Weg. Ist zwar nicht so cool wie ein Bär, aber trotzdem nimmst du deinen Rucksack vom Rücken und fängst an nach deinem Survival-Gadget zu suchen, um alle Menschen im Umkreis von 3 Kilometern mit Hilfe deiner Pfeife auf die drohende Gefahr hinzuweisen.
„Sind Sie sich sicher, dass das eine gute Idee ist?“
Neben dir steht ein Paar mit ihrem deutschen Schäferhund, der sich hinter den Beinen seines Herrchens vor der Kuh versteckt. Ein weiteres Paar mit Kindertragerucksack gesellt sich dazu. Zusammen brainstormt ihr, wie ihr mit dieser anti-urbanen Situation umgehen sollt. Das Bergsteiger-Ehepaar überholt euch und geht mit etwas Abstand an der Kuh vorbei. „Ist zwar nicht ganz so cool, aber erfüllt seinen Zweck“, denkst du dir, und tust ihnen gleich.
Nach einiger Zeit wird der Weg immer anspruchsvoller. Gestein und Geröll kennzeichnen den letzten Abschnitt zum Gipfel. Jetzt kann es nicht mehr weit sein.
„Entschuldigen Sie, wie lange läuft man noch?“
„Circa zehn Minuten würde ich sagen“.
Jackpot. Das ist genau die Motivation, die du gebraucht hast. Aber irgendwie sind das ganz schön lange zehn Minuten.
„Guten Tag die Damen, würden Sie mir wohl den zeitlichen Aufwand nennen, den ich bis zum Erreichen des Gipfelkreuzes einplanen muss?“
„Zehn Minuten, weiter ist es nicht mehr“.
Die Damen schauen verwirrt. Naja, wenigstens bist du jetzt bald da. Es wird auch wirklich Zeit, du bist ganz schön erschöpft.
„Sagen Sie, könnten Sie und ihr sehr verschwitzter Hund abschätzen, wie weit es noch bis oben ist?“
„Wenn Sie an diesem Felsvorsprung vorbeigehen, können Sie den Gipfel schon sehen. Insgesamt noch zehn Minuten würde ich sagen.“
Du beendest das Gespräch mit einem erzwungenen Lächeln und gehst weiter. „Wenn ich noch einmal zehn Minuten höre, drehe ich um!“
Aber die letzte Dame hatte Recht. Da vorne ist es zu sehen. Das weiße Gipfelkreuz, dessen Bild deine Tollkühnheit heute Abend in den sozialen Medien bezeugen soll. Mit neuer Motivation gepackt bezwingst du Zielgerade bis du zur Belohnung einen 360 Grad Blick über die beeindruckende Bergwelt der Alpen erhält. Da hinten liegt sogar noch Schnee auf den Gipfeln.
Der Weg hier hin war genauso entspannend wie anstrengend. Als du neben dem Gipfelkreuz sitzt und einen Wanderkollegen Bilder von dir knipsen lässt, erinnerst du dich an die zahlreichen Eindrücke, die du auf deiner Tour gewonnen hast.
Und trotzdem könntest du glücklicher sein. Den ganzen Weg musst du jetzt wieder nach unten gehen. Deine Motivation hält sich in Grenzen. Außerdem lässt dich das Gefühl nicht los, dass diese Geschichte nicht wirklich erzählenswert ist. Keine Bären, keine Lawinen und auch keine explodierenden Flugzeuge, die an der Bergwand zerschellen. Die wunderschöne Aussicht lässt sich auch nicht in Bildern festhalten, für das Internet also absolut ungeeignet. All die Anstrengung soll also nur dafür gut sein, um zu dir selbst zu finden und mit dir alleine die Aussicht zu genießen? Nur an deinen nächsten Schritt zu denken und zu überlegen, wie du deinen Fuß als nächstes positionierst, um diesen einen großen Stein überwinden zu können? Diese Rechnung geht für dich nicht auf.
Du öffnest deine Augen und starrst auf die Graffiti, die auf die Fassade des Hauses gegenüber eher geschmiert als gekünstelt wurden. Du hast dich ohnehin schon gewundert, wieso es im Wald nach Abgasen gerochen hat. Vielleicht ist es besser, du bleibst daheim. Holst dir einen Kaffee unten beim Bäcker direkt um die Ecke, setzt dich mit Carlos und Annita auf deinen Eineinhalb Quadratmeter großen Balkon und genießt die Stadtluft während ihr euren nächsten Ausflug zu „Körperwelten“ plant, ihr seid ja schließlich Medizinstudenten.
„Naja“, denkst du dir, „in letzter Zeit posten fast alle auf Instagram Bilder von luftigen Höhen, überragenden Aussichten und der uneingeschränkten Verbundenheit zur Natur, so schlimm kann es also nicht sein“. Wenn das sogar die Leute schaffen, die in deinem Sportkurs auf dem Gymnasium keine Tausend Meter am Stück laufen konnten, ohne sich über die Hitze, den Sportlehrer oder ihre seltsamerweise in viel zu kurzen Abständen auftretende Regel beschwerten, dann schaffst du das auch.
Zu Beginn der Tour musst du direkt am Parkplatz durch ein kleines hölzernes Tor mit der Aufschrift: „Achtung Wildtiere, bitte unbedingt Abstand halten“. Geil. Vielleicht siehst du einen Bären. Zum Glück hast du ein 8 in 1 Multitool in deinem Decathlon-Wanderrucksack. Pfeife, Kompass, Thermometer, Taschenmesser, Wanderstock, Klappstuhl, Campingkocher und Wurfzelt, ausgestattet mit Bluetooth zur optimalen Anpassung des Equalizers. Als du dich vor 2 Wochen in deiner Altstadtwohnung in Hamburg auf die Tour vorbereitet hast, hat dir jeder empfohlen, dir dieses coole Stück Technik zuzulegen. Soll der Bär doch kommen. Der kann dir nichts. Schon jetzt fühlst du dich wie Crocodile-Dundee.
Nach den ersten Hundertfünfzig Höhenmetern machen sich in deinem Kopf bereits erste Zweifel breit. Was, wenn der Weg weiterhin so steil ist? Die Steigung macht dir jetzt schon zu schaffen. Aber andererseits kannst du zu Hause vor deinen Freunden Carlos und Annita damit prahlen, wie krass deine Wanderung war. Die werden Augen machen. Also geht es weiter über einen Forstweg bis zur Einkehrstation „Bärenbadalm“. Du bist jetzt immerhin Eineinhalb Stunden marschiert, da hast du dir einen Russ´ und eine Gulaschsuppe verdient. Irgendwie seltsam, wie die Gesamtheit der Gäste hier oben zusammengesetzt ist. Am Tisch nebenan sitzen drei Paare, zwei davon mit Kind. Das sind wohl irgendwelche Touri´s, die mit der „Karwendelbahn“ zur Alm hochgefahren sind. Dir gegenüber sitzt ein älteres Ehepaar. Er sieht total wild aus mit seinem grauen Bart, fast schon wie der Opa von Heidi. Das müssen echte Bergsteiger sein, wie ihre Ausrüstung verrät. Dann gibt es da Wanderer mit Hund, Wanderer ohne Hund, viel zu laut lachende Frauentische und eine Gruppe Männer, die schon längst vergessen haben, wie sie wieder nach unten kommen. Und mittendrin du, ein 24-jähriger Student aus Hamburg, der immer noch auf die Begegnung mit einem ausgewachsenen Braunbären hofft, damit er so richtig fest in seine Pfeife pusten kann. Natürlich schaffst du dein Weizenradler nicht ganz, aber das ist nicht schlimm. Du bist ja zum Wandern hier und nicht zum Saufen.
Ab jetzt soll es so richtig krass werden, hat dir das ältere Bergsteigerpaar verraten. Voller Vorfreude machst du dich also auf den Weg. Dieser führt dich über einen schmalen Pfad durch den Wald. Überall ragen Wurzeln aus dem Boden. Immer wieder hörst du in der Nähe ein Glockenläuten. Schon seit Beginn der Wanderung fragst du dich, wer auf die Idee kommt, eine Kirche mitten in den Wald zu bauen. Plötzlich trottet in Seelenruhe eine Kuh aus den Bäumen hervor und legt sich mitten auf den Weg. Ist zwar nicht so cool wie ein Bär, aber trotzdem nimmst du deinen Rucksack vom Rücken und fängst an nach deinem Survival-Gadget zu suchen, um alle Menschen im Umkreis von 3 Kilometern mit Hilfe deiner Pfeife auf die drohende Gefahr hinzuweisen.
„Sind Sie sich sicher, dass das eine gute Idee ist?“
Neben dir steht ein Paar mit ihrem deutschen Schäferhund, der sich hinter den Beinen seines Herrchens vor der Kuh versteckt. Ein weiteres Paar mit Kindertragerucksack gesellt sich dazu. Zusammen brainstormt ihr, wie ihr mit dieser anti-urbanen Situation umgehen sollt. Das Bergsteiger-Ehepaar überholt euch und geht mit etwas Abstand an der Kuh vorbei. „Ist zwar nicht ganz so cool, aber erfüllt seinen Zweck“, denkst du dir, und tust ihnen gleich.
Nach einiger Zeit wird der Weg immer anspruchsvoller. Gestein und Geröll kennzeichnen den letzten Abschnitt zum Gipfel. Jetzt kann es nicht mehr weit sein.
„Entschuldigen Sie, wie lange läuft man noch?“
„Circa zehn Minuten würde ich sagen“.
Jackpot. Das ist genau die Motivation, die du gebraucht hast. Aber irgendwie sind das ganz schön lange zehn Minuten.
„Guten Tag die Damen, würden Sie mir wohl den zeitlichen Aufwand nennen, den ich bis zum Erreichen des Gipfelkreuzes einplanen muss?“
„Zehn Minuten, weiter ist es nicht mehr“.
Die Damen schauen verwirrt. Naja, wenigstens bist du jetzt bald da. Es wird auch wirklich Zeit, du bist ganz schön erschöpft.
„Sagen Sie, könnten Sie und ihr sehr verschwitzter Hund abschätzen, wie weit es noch bis oben ist?“
„Wenn Sie an diesem Felsvorsprung vorbeigehen, können Sie den Gipfel schon sehen. Insgesamt noch zehn Minuten würde ich sagen.“
Du beendest das Gespräch mit einem erzwungenen Lächeln und gehst weiter. „Wenn ich noch einmal zehn Minuten höre, drehe ich um!“
Aber die letzte Dame hatte Recht. Da vorne ist es zu sehen. Das weiße Gipfelkreuz, dessen Bild deine Tollkühnheit heute Abend in den sozialen Medien bezeugen soll. Mit neuer Motivation gepackt bezwingst du Zielgerade bis du zur Belohnung einen 360 Grad Blick über die beeindruckende Bergwelt der Alpen erhält. Da hinten liegt sogar noch Schnee auf den Gipfeln.
Der Weg hier hin war genauso entspannend wie anstrengend. Als du neben dem Gipfelkreuz sitzt und einen Wanderkollegen Bilder von dir knipsen lässt, erinnerst du dich an die zahlreichen Eindrücke, die du auf deiner Tour gewonnen hast.
Und trotzdem könntest du glücklicher sein. Den ganzen Weg musst du jetzt wieder nach unten gehen. Deine Motivation hält sich in Grenzen. Außerdem lässt dich das Gefühl nicht los, dass diese Geschichte nicht wirklich erzählenswert ist. Keine Bären, keine Lawinen und auch keine explodierenden Flugzeuge, die an der Bergwand zerschellen. Die wunderschöne Aussicht lässt sich auch nicht in Bildern festhalten, für das Internet also absolut ungeeignet. All die Anstrengung soll also nur dafür gut sein, um zu dir selbst zu finden und mit dir alleine die Aussicht zu genießen? Nur an deinen nächsten Schritt zu denken und zu überlegen, wie du deinen Fuß als nächstes positionierst, um diesen einen großen Stein überwinden zu können? Diese Rechnung geht für dich nicht auf.
Du öffnest deine Augen und starrst auf die Graffiti, die auf die Fassade des Hauses gegenüber eher geschmiert als gekünstelt wurden. Du hast dich ohnehin schon gewundert, wieso es im Wald nach Abgasen gerochen hat. Vielleicht ist es besser, du bleibst daheim. Holst dir einen Kaffee unten beim Bäcker direkt um die Ecke, setzt dich mit Carlos und Annita auf deinen Eineinhalb Quadratmeter großen Balkon und genießt die Stadtluft während ihr euren nächsten Ausflug zu „Körperwelten“ plant, ihr seid ja schließlich Medizinstudenten.
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