Was ich lese und gelesen habe

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petrasmiles

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IV. Krimis
6. Doris Gercke, Bella Block

Ich muss gestehen, dass es mir bei ‚Bella Block‘ mitnichten um die Autorin ging, sondern um die Figur, und die wurde (gegen Geld) adaptiert und bis auf zwei Verfilmungen der Romane mit eigenen Drehbüchern ausgestattet.
Die Rede ist natürlich von der gleichnamigen Krimreihe, die von 1994 bis 2018 im ZDF ausgestrahlt worden war und von der großartigen Hannelore Hoger in der Titelrolle verkörpert wurde.

Warum Vorlagengeberin und Fernsehreihe konsequent auseinandergingen, liegt an den deutlichen Unterschieden zwischen der sperrigen und kompromisslosen Autorin und der gefälligeren Adaption. Für meinen Geschmack ist das kein Nachteil.

Ich las (bisher alle) Krimis, nachdem ich die da noch laufende Reihe sah, und habe die radikalere Gercke-Bella in die Filmfigur für mich ‚eingebaut‘; das schimmert durch, dass Bella, auch im Film eine wenig anschmiegsame Frau, diesen harten, kompromisslosen Kern hat, und auch diese Haltung, im Zweifel für die Verletzten und Beladenen Verständnis aufzubringen, ist eine Gerckesche Zutat.

Die Gercke-Bella ist in allem konsequent bis zur Radikalität. Sie hat kein Liebesleben, sondern ein Sexleben; sie trinkt mehr, als ihr gut tut und kehrt nach dem ersten Fall dem Polizeidienst den Rücken, weil dies ein rassistischer und frauenverachtender Verein sei. ‚Karrieregeile Kraftprotze‘ zitiert Wikipedia. Diese Haltung, die unweigerlich zu Verachtung führt, ist mir nicht angenehm. Es ist eine feministische Version der ‚Einsamer-Wolf-Attitüde‘ und damit für mich nicht nur nicht besonders originell, sondern damit werden die gleichen Schwächen dieses ‚Konzepts‘ auf eine Frau übertragen, was für mich ein Widerspruch in sich ist – und in der Annäherung der Geschlechter eher einen Rückschritt darstellt.
Verachtung für ein Geschlecht wird nicht besser, wenn es eine Frau macht.

Als hoffnungsvolle Romantikerin ist es für mich ein großer Verlust, wenn man der Liebe – in welcher Form auch immer – grundsätzlich keine Chance gibt. Mein Menschenbild entspricht eher dem einer Entwicklung, die zu einer Heilung von Wunden führt und der Mensch sein Potential erreicht – indem er sich mit sich auseinandersetzt und an sich arbeitet. Jeden Tag treffen wir diese Entscheidungen, ob wir das sind, was wir da gerade tun. Da sich aber kein Mensch selbst gemacht hat – was ebenfalls eine meiner Maximen ist – und die Talente zur Selbstschau unterschiedlich ausgeprägt sind, muss man auch Bella einfach gernhaben, die am Ende auch bei Gercke nur eine Figur ist, deren Wiedererkennungswert Teil des Produkts ist.

Der erste Fall, den ich als Film nicht sah, sondern erst im Roman kennenlernte, hat mir ein Ekel-Trauma eingebracht, das ich hier nicht wiedergeben möchte. Es handelt sich um den Fall Weinschröter, du mußt hängen, in dem es um den Fall einer ‚besonders schrecklichen Vergewaltigung‘ geht, wie es Wikipedia umschreibt. Das ist gleichzeitig die erste Folge der Fernsehreihe: Die Kommissarin (die ich noch nicht gesehen habe).

Gercke, Jahrgang 1937, hat 17 Bella Block Bücher verfasst – den letzten 2012. Sie nennt Chandler und Sjöwall Wahlöö als Vorbilder. Ich kann mich an Sjöwall Wahlöö nicht erinnern, aber Chandler hat in den 40er und 50er Jahren geschrieben – und er war ein Mann. Und hier passt dieser unsentimentale Blick auf eine harte Realität. Wie man als Frau hard boiled schreibt, und trotzdem eine Frau ist, hat Sara Paretsky vorgemacht. V. I. Warshawski legt sich mit den Großen an und muss viel einstecken, aber sie kopiert keinen Mann. Bei Gercke reibt sich Bella an dummen Männern, mokiert sich über Selbstmörder und schaut Fliegen beim Sterben zu (alles im Weinschröter). Ich weiß nicht, ob ich das seinerzeit ‚überlesen‘ hatte, oder noch von der Eingangsszene die Kanäle dicht waren. Ich überlege, ob ich ihr noch eine Chance gebe, bevor ich sie einmotte. Aber allzu viel dieser ärgerlichen Abrechnungshäppchen sollten mir nicht mehr unterkommen.

Ich habe dann noch einmal in Nachsaison (1988), dem Nachfolgeroman reingeschnuppert. Am Anfang steht ein äußerst brutaler Mord und eine zerstörte Familie. Dann Schwenk auf Bella, die sich einen spanischen Mann als ‚Zugehfrau’ hält, der sich um ihr Haus und ihren Kühlschrank kümmert. Sie ist ausgesprochen freundlich zu ihm, weil sie merkt, dass ihm seine Macho-Erziehung zusetzt. Gerade serviert er ihr eine Flasche Wodka mit Eis und zwei Gläsern – sie erwartet Beyer, Ex-Kollege, Liebhaber. Dann erscheint eine teuer gekleidete, sehr junge Frau bei ihr und will einen Mord bei ihr in Auftrag geben. Sie macht den Eindruck einer ausgehaltenen Frau; erst gefällt sie Bella wegen ihres Selbstvertrauens, dann wieder nicht, weil sie etwas Vulgäres an ihr sieht. Zwischenzeitlich kommt Beyer, den sie gleich nach oben schickt. Die junge Frau wird verabschiedet – sie würde niemanden ermorden; Beyer kommt nicht runter, sie sieht nach und findet ihn schlafend auf ihrem Bett. Aber dafür hat sie ihn ja nicht herbestellt und am nächsten Morgen geht ein unausgeschlafener Beyer ins Büro und sie schläft bis 12h. Dann macht sie Morgengymnastik am offenen Fenster und sinniert über ihren üblichen Spanner, geht spazieren und findet ein paar Fotos in einer Hülle. Die Fotos zeigen jeweils den Unterleib einer nackten Frau, teilweise in Ketten, und auf der Rückseite steht, wer die Frauen erkennt, gewinnt einen Preis oder so ähnlich. Das hat mir dann gereicht. Ich möchte gar nicht mehr wissen, wie es weitergeht.

Mir kommt der Verdacht, dass ich bei der Gercke-Bella beim Lesen zuviel ausgeblendet habe. Heute finde ich diese pointierte Männerfeindlichkeit und das Vorführen der Rollenbilder ermüdend. Die Fälle orientieren sich am Schlimmsten, was Menschen einander antun können, und es wird hauptsächlich geschimpft über die üblichen Verdächtigen – das ist für mich schon nicht mehr Gesellschaftskritik. Vielleicht waren die 80er Jahre für diese Art des feministischen Aufmischens des Krimigenres empfänglich, ich bin es nicht mehr.
 

petrasmiles

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V Reiseliteratur
2. Bettina Baltschev, Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand*)

Dieses Buch war wieder eine Empfehlung von Cornelia Geissler aus der Berliner Zeitung und wieder eine, die ich nicht bereut habe.

Der Titel ist Programm und adressiert an die Leute, bei denen sofort das Herz hüpft, wenn sie das Wort ‚Strand’ nur hören. Aber auch für alle anderen Reisefreunde bietet der Band eine historisch und literarisch eingebettete Reise an Strände Europas.

Prolog und Besuchen sind folgende Worte von Agnès Varda, der französischen Filmemacherin, vorangestellt: „Öffnete man die Menschen, fände man Landschaften. Öffnete man mich, fände man Strände“. Und das, obwohl sie mitten in der Region Brüssel geboren worden war und in Paris starb. Diese innere Landschaft ist uns nicht unbedingt in die Wiege gelegt, mir will scheinen, sie entspricht der inneren Weite.

Baltschevs Themeneröffnung beginnt mit einer Erfahrung des wahrhaft menschenleeren Strandes am ‚Ende der Welt’ auf Schiermonnikoog in der Nordsee. Gedenkend an Havarien, auch eigene, schreibt sie: „Dazu kommt man doch an den Strand. Nicht wahr? Um uit te waaien, wie die Niederländer das nennen, sich vom Seewind durchpusten zu lassen, den Kater vom Vorabend im Meer zu versenken und alle schweren Gedanken und schlechten Stimmungen gleich mit. Und wenn man Glück hat, weht einem derselbe Wind frische Ideen zu, Zuversicht und Gottvertrauen. Mir gelingt an diesem Ort immerhin, die Strände meines Lebens zu sortieren.“

Spätestens jetzt weiß man, dass es mitnichten um Badelaken, Sonnenmilch und Wassersport geht, sondern die Auseinandersetzung mit dieser mächtigen Kraft der Natur.

Ich habe mal eine Dokumentation gesehen über den Drang der Menschen an jedwede Gestade. Und der überraschte Ton der Dokumentare kreiste um das Ergebnis ihrer Untersuchung, dass die Menschen mitnichten den Weg in die Fluten suchten, sie oft nicht einmal aufsuchten, sondern es der Ort am Ufer war, der ihnen genügte - wie eine Art spirituelle Zwiesprache mit einem unmittelbar wirkmächtigen Gott, das Flüstern in uns in Form von Wellengesang, und sei es nur ein müdes Gekräusel an windstillem See.

Bei Baltschev geht es nicht nur um den Austausch zwischen Natur und Mensch, sondern auch um den Ort selbst, wie geschunden er ist, wie unschuldig er wirkt und doch nicht sein kann.

Das 280 Seiten umfassende Buch besucht die Strände in Scheveningen, Brighton, Ostende, Utah Beach, Hiddensee, Ischia, Benidorm und Lesbos.

Wie schreibt Cornelia Geissler: „Wellenrauschen, Sand und Sonne findet man durchaus in diesem Buch (…) Doch ist dies keine zum blinzelnden Träumen verleitende Lektüre, sondern ein Werk mit beglückendem Tiefgang. (…) Es ist oft erstaunlich, wie sie den Bogen spannt, mit leichter Hand verbindet sie die Themen und Zeiten. So schaut sie sich auch die Villen an der Ostsee an, die volks- oder FDGB-eigen wurden und blickt von Hiddensee aus mit den Helden von Christoph Hein und Lutz Seiler in die Ferne. Wie trügerisch die Freiheit sein kann, wenn man es übers Meer geschafft hat, zeigt sich schließlich auf Lesbos.“***)

Immerhin erhielt Baltschev für dieses Buch den Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis 2021 zuerkannt. In der Begründung heißt es: „Vor dem Leser werden soziale und kulturelle Themen ausgebreitet, über die (unsere) Strandkultur wird reflektierend nachgedacht, denn ein Leben ohne unsere Inbesitznahme von Stränden ist nicht mehr vorstellbar. Dieser Blick auf die Strände ist aus Sicht der Jury überraschend, neu und gewinnt erstaunlich an Dimension, da die Autorin, ganz im Sinne Seumes, in ihren Betrachtungen, Ländergrenzen überschreitet.“[6] (…) und „im Frühjahr 2022 gehörte das Buch außerdem zu den acht Nominierten des Deutschen Sachbuchpreises. Hier schreibt die Jury unter anderem: „Ein Buch, das den Blick auf die Welt verändert. So, wie Bettina Baltschev über den Strand schreibt, hat man die Grenze zwischen Meer und Land noch nie wahrgenommen.“[7] ****)

Was mich neben diesem Buch sehr für sie einnimmt ist die Tatsache, dass sie über den holländischen Exilverlag Querido eine Monographie verfasste, in dem zwischen 1933 und 1940 (1950) deutsche Autoren veröffentlicht wurden, unter anderem die hier schon besprochene Irmgard Keun.*****) Da scheint sich ein Kreis zu schließen.

Das Buch lag schon lange auf meinem Schreibtisch, um hier angepriesen zu werden und nun ist es endlich geschafft, und nach der intelligenten aber auch anstrengenden Lektüre von Bob Dylan in Interviews wird erneut nach dem ‚Rande der Glückseligkeit’ gegriffen.



*) Berenberg, Berlin 2021
**) Ebd. S. 10
***) Cornelia Geissler, Beglückender Tiefgang. Bettina Baltschev ist zu den Stränden Europas gereist – eine literarische Erkundung, BLZ #184, 11.08.2021, S. 15
****) https://de.wikipedia.org/wiki/Bettina_Baltschev
*****) Bettina Baltschev, Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur, Berenberg Berlin 2016
 

Lokterus

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Hallo Petra.

Ich habe mir das Buch gekauft. Kindle meldet nun einen Download-Fehler und rät mir, es doch etwas später erneut zu versuchen. Deine Gedankenwelt scheint demnach nachweislich schwer zugänglich zu sein. :p

Sollte ich die technischen Schwierigkeiten überwunden und das Buch gelesen haben, werde ich hier eine Stellungnahme verfassen.

Liebe Grüße
loki
 

John Wein

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Werte Petrasmiles,

Ich kannte die Autorin bis dato nicht. Es ist interessant, dass sie sich im Ozean der Meeresgeschichten, gerade für die Strände interessiert. Normalerweise sind es immer die Klippen oder die See, die für uns eine Küste reizvoll macht, aus genommen einmal, wie du schreibst, die Sonnenanbeter und Muschelsammler. Die Anziehungskraft liegt doch in erster Linie in einer unendlichen Weite, die uns von der Enge unsere Binnenwelt auf einfache Weise entbindet und da hat für die meisten von uns das Meer sein großes Sehsuchts Stillen im Angebot. Das menschliche Auge wandert automatisch erst einmal zum Horizont (ausgenommen, da sind ein paar Strandnixen) und dann zurück über das Wasser zum Strand. Ich erinnere mich, als Schüler im 8. Schuljahr, überredete ich meinen Freund mit dem Rad (ohne Gangschaltung) von Oldenburg an die Nordsee zu fahren, wir waren damals gerade aus dem Binnenland dorthin gezogen. Was lag da näher als der Jadebusen. Als wir den Deich bei Dangast sahen, schlug mein Herz Purzelbaum, doch wir mussten noch ein einige Äcker und Wiesen bis zur Deichkrone bewältigen. Und dann……!? Oben angekommen, wie ungezogen, hatte sich das Meer einfach zurückgezogen, und unsere Hochspannung auf Meeresweite sehr enttäuscht. Da war nur Watt und mittendrin ein Leuchtturm. Danke für diesen Beitrag, ich habe ihn zwar nicht ausführlich gewürdigt, aber er hat mich ein wenig zurückkatapultiert in meine Jugend.

LG John
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber John Wein,

solche Reminiszenzen sind doch auch schön - die Würdigung liegt doch schon im Lesen und dem eigenen Erleben.

Passend zu Deinem Hinweis, am Meer würde einen doch die Weite reizen, habe ich bei Baltschev - sie hat ihr Thema gut recherchiert! - folgendes Zitat von Alain Corbin gelesen (Alain Corbin, Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750-1840)*: "Mehr noch als das Land verkörpert der Ozean die unwiderlegbare Natur, die sich nicht schmücken lässt und keine Lüge duldet. So entsteht das Paradox, auf dem die Mode des Strandaufenthaltes beruht. Das Meer wird eine Zuflucht, es gibt Hoffnung, weil es Angst einflößt. Es eben deshalb zu genießen, den Schrecken unter Abwendung jeder realen Gefahr zu empfinden, ist die neue Strategie des Kuraufenthalts an der Küste. Hinfort begegnet man dem Meer mit der Erwartung, dass es die Ägnste einer Elite beruhigt, die Harmonie zwischen Körper und Seele wiederherstellt und dem Verlust der Lebensenergie einer Gesellschaftsschicht (...) entgegenwirkt."**)

*) So ist das bei mir, habe ich mir jetzt auch bestellt ...
*) Zitiert nach Baltschev siehe #62, ebd., S. 58 (Kursivstellung im Original)

Liebe Grüße
Petra
 
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