Was ich lese und gelesen habe

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petrasmiles

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Lieber Arno,

ich hatte auch überlegt, ob ich ihn hier erwähnen soll - ich hatte den Beitrag auch gelesen - und ja, man findet eine Bestätigung für seinen Eindruck aus Weßlings Buch. Aber da er so kurz nur da war und sein Tenor hauptsächlich wieder West-Kritik ist, erschien es mir zu wenig. Aber im Grunde ist er meist lesenwert und ein frischer Eindruck ist immer gut.

Liebe Grüße
Petra
 
Du sagst es, Petra, und so ist es. Ich denke, der Grundfehler besteht darin, mit dem Bewerten anzufangen, statt mit der Kenntnisnahme und nachfolgendem Verstehen. Es ist die Frage, ob Vergangenheit sich überhaupt zum Bewerten eignet; sie ist ja, entstanden unter historischen Bedingungen, zumeist in sich abgeschlossen und selbst auf Bewertung nicht angewiesen, ja nicht einmal ihr zugänglich. Vergleichen kann man dagegen sehr wohl und das ist seiner Natur nach ein differenzierendes Verfahren. Vielleicht liegt aber gerade darin der Hauptnutzen der Beschäftigung mit Vergangenem: das eigene Auge daran zu gewöhnen, Strukturen im Detail wahrzunehmen und sich ein möglichst objektives Bild der Umstände zu verschaffen, heute wie damals.

Deine Leseliste enthält für mich bis jetzt kaum Anknüpfungspunkte. Gewiss habe ich im Schulalter auch eine gewisse Anzahl von Kriminalromanen gelesen. Sie haben mir damals, glaube ich, nicht missfallen, aber sie haben die Entwicklung meiner weiteren Lektüre nicht beeinflusst. Ich kann mich so gut wie nicht mehr an sie erinnern. Als ich in die Welt aufbrach, nahm ich diese Bände nicht mit (anderes schon) und sie sind wohl mit der Auflösung des elterlichen Haushalts weggekommen. In späteren Jahrzehnten fand ich die Beschäftigung mit realen Kriminalfällen bzw. auf ihnen basierender Erzählung ansprechender als rein Fiktives.

Jenseits der Krimisparte der Name Hesse. Ach ja ... In meinen Zwanzigerjahren erwarb ich eine ganze Reihe seiner Bücher ("Roßhalde" nicht) und las sie mit mehr als nur Interesse, nein, oft mit Wohlgefallen. Das ist mir schon lange etwas peinlich.

Ich bin gespannt, ob bei Fortsetzung der Beschreibung deiner Lektüren noch mehr Autoren auftauchen, die mich ebenfalls beeinflusst oder stark beschäftigt haben.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
Ja, es ist schon eine Tragik, ganz gewiss. Aber das sind die Zeitläufe.
Ich habe auch gleich meinen Leoparden herausgesucht und angefangen, zu lesen - natürlich mit anderen Augen als 1992, als ich es antiquarisch erwarb.
Schon da kämpften eigentlich Ansprüche und Machtfülle mit diesem 'nicht tun können'. Vielleicht ist es diese Art von Denaturalisierung, den der Adel erst unter Schmerzen erwarb und unter ebensolchen loszulassen lernen musste. Auch der junge Lampedusa hat diesen Habitus, der ihn in gewisser Weise von seiner Individualität trennt. Man hat nicht das Gefühl, dass er jemals der werden konnte, der er hätte sein können.
Und den Eindruck, den ich von diesem Königreich bekomme, wirft noch einmal ein ganz anderes Licht auf die Monarchie. Waren das nicht alles Nichtstuer, die ihrem ökonomischen oder persönlichen Geltungsdrang folgen konnten? Neben allem anderen, man kann seiner Demokratie - so gebeutelt sie auch erscheint - einges abgewinnen.
Gute Nacht!
Petra
Hallo Petra,
das ist ja interessant was Du da über den Verfasser des Leoparden schreibst. Hätte Lampedusa noch die Drucklegung des Romans erlebt, hätte das bestimmt seine Zustand zum Besseren beeinflusst. Ähnlich ging es ja Sylvia Plath. Sie war zwar nicht krank, aber ihr Mann hatte sie und die Kinder verlassen, als mehre Absagen für die "Glasglocke" aus Amerika eintrafen. Letztlich drehte sie den Gashahn auf. Ich denke, wenn ihr Buch? angenommen worden wäre, hätte sie das nicht gemacht. Viele Autoren schreiben ja ihre besten Werke wenn sie in einer gesundheitlichen oder emotionalen Krise sind. So, außer Proust, auch Wolfgang Herrndorf. "Bilder deiner großen Liebe", kurz vor seinem Selbstmord, halte ich für sein bestes.
Merkwürdig finde ich auch, dass viele bedeutende Werke der Weltliteratur erst mal abgelehnt wurden. So neben der "Recherche" auch "Der Fänger im Roggen", derselbe Verlag hat doch tatsächlich auch "On the road", von Jack Keroac nicht drucken wollen. Sylvia Plath "Glasglocke" hatte ich ja schon erwähnt, aber man stelle sich mal vor auch "Giovannis Zimmer" von J. Baldwin hat es erwischt. Seine Lektorin gab ihm ernsthaft zu verstehen, er soll das Manuskript vernichten. Ihnen stieß sauer auf, dass der Schriftsteller die Liebe zwischen Männern in den Mittelpunkt stellt und dann noch, dass er der schwarz ist, seinen Ich-Erzähler als Weißen auftreten lässt.
Wie können sich erfahrene Verlagsmitarbeiter nur so dermaßen irren? Ich hab mal den Satz irgendwo gelesen, dass sie, die sich mit guter Literatur auskennen, mit Genie überfordert sind. Wie kann man ernsthaft den "Catcher in the rain" ablehnen. Das ist doch für einen Verlag bares Geld, dass er vernichtet hat.

So intensiv, wie Du Dich mit dem "Leoparden" auseinandergesetzt hast, habe ich mich mal mit einem anderen Werk beschäftigt. Während einer ABM-Maßnahme lernte ich jemanden kennen der von dem "Garten der Finci Contini" besessen war. Darüber habe ich auch mal was geschrieben. Bei Interesse ins Weltweite eingeben: Bei wieviel Grad brennt Papier von allein - wortkrieger.
Ich kannte nur den Film und las dann endlich auch mal das Buch. Bald interessierte mich alles über die Finci-Continis. Es gibt auch haufenweise Beiträge dazu. Ich sah mir Videos über Ferrara an. Bassini beschreibt ja jeden Baum und jede Pflasterstein. Besonders beschäftigte mich die Frage wer eigentlich "Micol" war. Dasselbe ging auch vielen anderen im Kopf rum. Im Grund kam raus, dass keiner es wusste. Bei der Familie Finci-Contini, an die sich der Roman sehr eng anlehnt, gab es keine junge Frau, die in Frage kommen könnte. Die Familie hat ihm die Micolfigur auch sehr übel genommen.
Da kam mir die Idee, dass Basini, dem man auch einen Hang zum eigenen Geschlecht nachsagte, vielleicht eine unerfüllte Liebe zu dem Sohn der Familie, den es wirklich gab, in der Micolstory verwendet hat. Ich wunderte mich schon, dass sie in diesen sittenstrengen Zeiten einen Mann in ihrem Zimmer empfangen darf, als sie mit Grippe flachliegt. Und dass sie sich nachts im Park mit einem heimlichen Verhältnis trifft. Kann ja möglich sein. Schließlich ist sie eine moderne junge Frau.
Ich entwickelte richtig kriminalistischen Spürsinn.
Les nicht so viele Kriminalromane. Gruß Friedrichshainerin
 

John Wein

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V. Reiseliteratur
6. Juan Moreno, Glück ist kein Ort*)
Danke Petra,
für diesen Hinweis! Es entspricht meinem Geschmack und ich werde es mir in Audible herunterladen als Hörbuch. Ich habe diese Möglichkeit entdeckt und schätzen gelernt. Meine müden Augen vetragen die vielen aneindargereihten Buchstaben nicht mehr so gut. Sie werden mit der Zeit schief, verschwimmen, sogar manches Wort fällt dann aus der Seite und ich in einen anderen Seelenzustand. Vorgelesen verpasse ich nichts mehr!
Weil ich ja auch viel gereist bin, nicht nur in fremde Länder, sondern auch in mein Innerstes, ist mir diese Art der Literatur ein bisschen auch ein Erinnern und Wiederspüren und das wiederum ist ja auch eine Art des Reisens.
Literarische Grüße,
John (Walker)
 

petrasmiles

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Les nicht so viele Kriminalromane.
Liebe Friedrichshainerin,

und werd' ich doch!
Habe mir den 7. Teil von Robert Galbraith im Urlaub gegönnt - über 1.200 Seiten - und bin wieder begeistert!
Zuvor habe ich die Krimis der leider schon verstorbenen Magdalen Nabb gelesen, deren Florentiner Polizist ein ganz eigener Fall ist - und sehr italienisch.
Und weil es das letzte veröffentlichte ist, auch den letzten Fall von Fred Vargas und kann nur hoffen, dass da noch etwas kommt. Und bald werde ich mir den neuesten von Petros Markaris besorgen - 1937 geboren, ich hoffe sehr, dass Schreiben jung hält!
Dieser besondere Zugang, den gute Kriminalliteratur auf eine Gesellschaft gewähren kann, denn lasse ich mir nicht nehmen.

Danke für Deinen üppigen Kommentar - von dem Buch habe ich noch nichts gehört - Du schreibst viel über Deine Lesebefindlichkeit, aber nicht einmal den Autorennamen :) sehr überwältigt offensichtlich. Dass Du lange grübelst, wer denn nun diese eine Person ist, die andere - aus dem Buch oder deinem Umfeld? - auch nicht kennen, nenne ich nun keine Empfehlung. Sag mir mal bitte den Autor, dann schaue ich mir das mal an.

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Vorgelesen verpasse ich nichts mehr!
Ich freue mich sehr, dass Du mit einer meiner Besprechungen etwas persönlich anfangen konntest!
Das die Augen irgendwann mal müde werden, fürchte ich schon lange - vielleicht wird es auch für mich bzw. uns keine andere Möglichkeit geben als Hörbücher, aber momentan finde ich keinen Zugang. Lesen ist für mich eine ausschließliche Aktivität und Hören passiert so nebenbei. Wir werden sehen.

Liebe Grüße - und noch einen schönen Pfingstmontag!
Petra
 

petrasmiles

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Nachtrag zu Kommentar 14, Bruno Chef de Police

Ich hatte ja mein Befremden schon in der Besprechung kundgetan.
Aber wider besseren Wissens habe ich dann doch wieder einmal zugegiffen, als ein neuer Band auslag.
Wieder sehr spannend, man kennt das Ensemble, und dann wird die ganz große Bühne gebaut: Milliardäre aus Silikon Valley, revolutionäre Pläne in der Halbleiterherstellung, Geheimdienste, ganz große Politik. Wie gewöhnlich stecken die Russen, die Chinesen oder vielleicht auch Araber hinter dem bösen Plan - der auf der 318. von 374 Seiten noch nicht offenbart wurde.
Und dann der Hammer; ich wusste ja, dass er ein Transantlantiker ist, aber das geht dann doch zu weit:
Ausgehend vom absoluten Herrscher Ludwig XIV wird - ohne sachliche Vernüpfung zur Story - ein Bogen zu Peter dem Großen gezogen:" zumal sich zu dieser Zeit Zar Peter der Große selbst zum absoluten Herrscher aufschwang und seine Macht auf Europa auszubreiten drohte. Peter dem Großen war das so gut gelungen, dass die Macht Russlands seither bedrohlich über Europa hing, eine Tradition, an die Putin jetzt anzuknüpfen versuchte."

Das ist schlicht und ergreifend nicht wahr. Zum einen waren die russischen Herrscher auf eine Weise absolut, da konnte Ludwig XIV von träumen, natürlich um den Preis der Rückständigkeit in der Fläche. Zum anderen ging es Peter I. um ein Aufholen an Bildung und Kultur, eine Art Anschluss, und er wollte das große Russland europäischer machen. Ja, am Ende seiner Herrschaft war Russland eine Macht in Europa, er besiegte die konkurrierenden Schweden im Ostseeraum, aber wer solche Sätze sagt wie Martin Walker, der weiß nicht nur nichts von russischer Geschichte, er weiß auch nichts von europäischer Geschichte.

Sowas liest man en passant in einem Krimi und wenn man sich nicht ein bisschen mit der russischen Geschichte auskennt, glaubt man diese böswillige Verleumdung sogar möglicherweise.
Und das alles nur, um tagespolitische Akzente zu setzen. Der Mann ist Historiker!
Niemals wieder werde ich ein Buch von ihm kaufen.
 
Hallo Petra,
jetzt kann ich Dir auch mal einen Krimi empfehlen. Kennst Du von Simone van der Vlught: "Klassentreffen. ich hatte mal nach dem Begriff gegoogelt und dann kam eine Leseprobe von dem Roman. Normalerweise bin ich kein Fan von Kriminalliteratur. Die Leseprobe machte aber neugierig.

Und hier tritt der Fall auf, dass eine Autorin, die sehr begabt ist, sich mit Trivialliteratur zufrieden gibt. Wahrscheinlich verkauft sich das sehr gut. Was hätte in der Geschichte der beiden Freundinnen für ein Potential gesteckt, auch ohne, dass eine ins Jenseits verbracht wird. Wenn ich die Lektorin gewesen wäre, ich hätte alles Kriminelle weggestrichen.

Das die Beziehung zwischen den beiden Mädchen eine authentische Geschichte ist, spürt man. So ähnlich war es zwischen meiner Schul-und Kindheitsfreundin aus meinem Dorf auch. Darüber habe ich in "Holly" geschrieben. Das ich ausgerechnet in einem Krimi meine Kindheitsfreundin, die mich verließ, wiederfinde, hätte ich nicht erwartet.

Auch war die Autorin wohl genauso wie ich totale Außenseiterin in der Schule.
Ihre ehemals beste Freundin ist wohl nicht im Jenseits gelandet, sondern hat heute das schönste Haus am Platz und führt eine glückliche Beziehung. Ihre Kinder sind auf dem Gymnasium, auf dem schon sie selber war und ihre Tochter ist genauso hübsch wie die Mutter und auch die Beliebteste.

Im Gegenzug geht bei ihrer verlassenen Freundin alles schief und sie hangelt sich durch ihr Leben. Sagt mir auch irgendwas. Warum haben die daraus bloß einen Krimi gemacht? Klar, Mordgedanken hat man schon, wenn man verlassen wird. Auch bei Frauenfreundschaften. Vielleicht hatte ich damals ähnliche Gedanken.

Die Freundin meiner Kindheit, die mich sehr an das Mädchen aus dem Buch erinnert, hat sich aber ein Haus mit ihrem Mann, mit dem sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr zusammen ist, gebaut, in der Nähe ihrer Eltern. hat ihr Studium gemacht und arbeitet als Ökonomin bei den Wasserwerken. Ihre Tochter ist verheiratet. Ein Wochenendhaus an der Ostsee haben sie auch noch. Sogar ihre Schönheit hat sie über die Jahre gerettet, erzählte mir jedenfalls meine Mutter.

So wird es dem einen der zwei Mädchen, die schon in der Schule die Angesagteste war, in der Wirklichkeit auch ergangen sein. Dafür verdient jetzt die Andere als Bestsellerverfasserin bestimmt einen Haufen Geld.

Tipp: Unbedingt lesen.
Gruß Friedrichshainerin
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
Liebe Friedrichshainerin,

das finde ich ja nett, dass Du mir einen Krimitipp gibts.
Aber mal im Ernst: Du hast im Grunde die Geschichte derart mit Deiner eigenen Einschätzung und Vergangenheit verwoben, wo soll da der Anreiz für mich sein? Das hat sich jetzt vor meinen eigenen Eindruck geschoben.
Ich glaube auch nicht, dass mich solche privaten Fehden interessieren.
Und ich habe noch nie - in meinem ganzen Leben - Mordgedanken gehabt. Der Gedanke ist mir zutiefst fremd, das es mir besser gehen könnte, wenn es jemanden nicht mehr gibt, egal, was eine Person mir angetan haben könnte. (Eine Ausnahme vielleicht - ich sage nur Bachmeier - aber auch nur theoretisch, weil ich keine Kinder habe.)

Trotzdem: Danke!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

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III Werke
8. Caroline Peters, Ein anderes Leben*)

Das war keine geringe Überraschung, als ich auf Streifzug durch mein Lieblingsantiquariat auf dieses Buch - mit dem nicht besonders ansprechenden Cover - sah und mein Blick an dem Namen hängen blieb: Caroline Peters. Nun schätze ich sie sehr (als Schauspielerin, nicht so sehr für ihr Engagement für Annalena Baerbock, wie Wikipedia verrät) und der Klappentext machte mich neugierig. (Der reduzierte Preis tat sein Übriges.)

Ich habe es nicht bereut, sehr im Gegenteil!
Im Zentrum steht eine außergewöhnliche Patchworkfamilie; die Eltern waren noch Kinder der Nachkriegszeit, die drei Töchter profitieren vom materiellen Aufstieg. Aber darum geht es nicht. Aus der Perspektive einer Heranwachsenden, der beobachtenden und erzählenden jüngsten Tochter geht es um Annäherung an das Thema 'Familie', das Frau- und Mutter-Sein, auch das Vater-Sein. Von vergangenen Zeiten, die nachwirken, prägen, sich durch die Leben mahlen, mit den Menschen nicht vergehen. Es beginnt mit der unhinterfragten Haltung der Eltern, wie sie in Verhalten und Äußerungen sichtbar werden - oder unsichtbar bleiben - der eigenen Hinterfragung und sich entfaltenden Reife, bis dann die Eltern auch als Menschen gesehen werden können, die Protagonistin 'erwachsen' geworden ist, ihren eigenen Dämonen begegnet. Im emotionalen Zentrum steht die Mutter, von der sie am Ende weiß, dass sie in ein Leben hineingesaugt worden ist, das im Widerspruch zum Ansporn der persönlichen Entwicklung stand. Man hat es schon öfter in psychologischen Artikeln lesen können, wie sehr die Elternrolle durch die eigene Prägung der Rollenvorbilder determiniert wird, wie das Elternsein uns potentiell abtrennt von persönlichen Anlagen oder Ambitionen. Hier wird es nachvollziehbar und die vielen blinden Flecke bei uns und anderen sichtbar - und man bekommt einen Eindruck davon, wie viel Liebe notwendig ist, diese zu ertragen. Überhaupt ist die Tiefe der emotionalen Beobachtung herausragend, da dringt der Blick unter die Haut und hinter die Augen und macht sichtbar, was für fragile (und unvollkommene) Gebilde wir Menschen sind - und wie hilflos, wenn wir kein Instrumenatrium haben, uns selbst und den anderen zu verstehen.
Besonders lehrreich ist der Ansatz der familientypischen 'Erzählungen', wie Ereignisse immer wieder geschildert werden, wie diese Erzählungen kaum etwas mit Wahrheit zu tun haben, sondern einzig dem Zweck des Zusammengehörigkeitsgefühl dienen - und wie diese gemeinsamen 'Erinnerungen' nicht nur einen sozialen Zweck erfüllen, sondern auch psychologisch wirksam sind, die eigene Verortung ermöglichen, aber auch die Entwicklung behindern können.

Das Buch wird mit einer eigenen Stimme erzählt, man 'vergisst', wer sie 'ist' (auch, wenn manche Buchbesprechungen gerade den Wiedererkennungsfaktor betonen. Wie soll das gehen bei einer Schauspielerin, die fremde Texte vorträgt? Das bestärkt mich in meinem Misstrauen gegen professionelle Rezensenten ...) Es ist eine sensible Sprache, nicht kompliziert oder banal, weder detailverliebt, noch reduziert. Es entsteht der Eindruck der Angemessenheit des Tons, in dem sie diese Geschichte(n) erzählt, eigentlich eher an sie heranführt und die vielen, vielen Räume dazwischen sichtbar macht - und dass inmitten von Worten Sprachlosigkeit herrschen kann.
Am Ende wird man daran erinnert, dass 'Familie' nie einfach ist. (Und wer sie nur erlitten hat, aber nicht gestalten musste - so wie ich - der kann eigentlich gar nicht mitreden.)


*) Rowohlt, Berlin 2024
 

John Wein

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Ein anderes Leben
Kann man wohl sagen und ich fand es nicht einmal schlecht, das Leben oder besser mein Leben in jener Zeit. Alles geregelt, alles im Lot.
Vielleicht bin ich ein bisschen altmodisch in meinen Ansichten, aber ich fand Familie früher, mit ihren Rollenverteilungen kindgerechter. Wenn man später im Älterwerden hinauskrabbelt aus dem "Gefängnis" Famile, ist er Weg frei für das Leben, der Grundstock für die eigene Persönlichkeit gelegt und die geknüpften Bindungen geben Halt.
Ja, vielleicht bin ich wirklich von gestern!
LG, John
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber John,

es spricht einiges dafür, dass Du mit Deiner Ansicht nicht so falsch liegst, wie das gerade angesagt ist, anzunehmen.

Man kann da nur von Modellen sprechen, weil im konkreten Fall immer ein hohes Maß an sittlicher Reife dazu gehört, diese 'Lebenspläne' auch durchzuziehen. Im vorliegenden Fall wurde die Mutter - vor allem vom Mann, aber dann auch von den Kindern - weder als Akademikerin noch als Künstlerin wahrgenommen. Ein kleines Beispiel: Als die älteste Tochter auszog und die Mutter das freiwerdende Zimmer für sich als Arbeitszimmer beanspruchte, wurden dieser Anspruch ignoriert - ein Gästezimmer war wichtiger. Als die mittlere Tochter auszog, die Mutter sogar schon ihren Schreibtisch hineingeschafft hatte, wurde ihr Anspruch wieder ignoriert und stattdessen mit einem Mauerdurchbruch das Zimmer der verbliebenen Tochter vergrößert. Da kann man schon irre darüber werden.

Meine Analyse als Blinde, die von der Farbe spricht: Es geht bei diesem Projekt Kinderaufzucht immer auch um die Frage, ob die Opfer, die zu bringen sind, gleich verteilt werden und ob es gelingt, dass keine Rolle marginalisiert wird.
Wenn ich höre, dass momentan Kleinkinder schon bei zentralen Dingen nach ihren Wünschen gefragt werden sollen, wobei der Prozess der Impulskontrolle erst mit siebzehn Jahren dran ist, der braucht sich nicht wundern, wenn kleine Ego-Monster entstehen. Da wird der Individualismus auf die Spitze getrieben zum Schaden vor allem der Kinder.
Kinder bringen die Balance von Möglichkeiten der Selbstverwirklichung für zwei Menschen in Unordnung. Ein festgefügtes Rollenverständnis würde da eher patriarchalische Strukturen fördern. Der erste Anspruch der Verteilung des 'Sich zurück Nehmens' funktionierte also nur auf Augenhöhe, was durch kapitalistisch dominierte Wertigkeiten in der Gesellschaft erschwert wird. Es bliebe an der Frau 'hängen', die sich nach diesem Modell keinen Respekt verdiente. Wenn aber die beiden Eltern sich einig sind, dass keiner verzichten soll, kann es nur zu Lasten des Kindes gehen. Auch da habe ich ein Beispiel aus meinem Umfeld, wie das Kind einer durchgängig akademisch berufstätigen Mutter austickte und nicht mehr einzufangen ist, wohingegen das Kind aus einer Arbeiterfamilie aus dieser Altersgruppe alles lernte für ein selbstbestimmtes Leben und schon auf eigenen Füßen steht.

Wie auch immer die Lösung aussieht: Alles für alle und für alle ohne Opfer wird nicht funktionieren und angesichts der sich abzeichnenden Entwicklungen in der Kindererziehung wird es mehr haltlose Kinder geben und immer weniger. Verzicht wird nicht mehr gelehrt.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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