petrasmiles
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Was ich lese und gelesen habe
I. Bekenntnisse und Anfänge
Um es gleich vorweg zu nehmen – bei all der Liebe zum ‚Schöngeistigen’ bin ich doch früh eine echte ‚Krimitante’ geworden und geblieben.
Mich hat immer der soziale Aspekt interessiert, was über den Menschen und die Zeit – bewusst oder zwischen den Zeilen – offenbart wurde.
Wenn man Simenons Maigret der ersten Periode liest, taucht man quasi ein in die Gesellschaft der 20er und 30er Jahre eines Frankreichs,
das es so nicht mehr gibt, verschwunden wie Les Halles in Paris, die Treidler an der Seine, die Gehöfte rund um die große Stadt.
Maigret – und erst recht Simenon – würde mit einigen Geschichten MeeToo erhitzte Gemüter auf die Barrikaden treiben –
was nicht nur an der Schilderung seiner ‚ergebenen’ Gattin liegt, sonder insgesamt der Darstellung der Frau.
Das Selbstverständnis der französischen Frau ist bis heute zwiegespalten zwischen Selbstbestimmung und dem Einverständnis in die kulturell
zugewiesene Rolle des ‚Objekts der Begierde’; eine Rolle, die sie fast jeder Französin ansehen können, die sie zumindest als Potential angenommen hat.
Und hier offenbart sich die eklatante Schwäche eines ‚wertebasierten’ Lesens: Fragt man die Vergangenheit, wie es war, erfährt man sehr viel darüber,
wo wir herkommen.
Bewertet man die Vergangenheit nach den aktuellen Maßstäben, schiebt man sie zurück in den Zeitkanal und erfährt nichts.
Es ist der freiwillige Verzicht auf ‚verstehen’, die Herrschaft der Projektion über die Realität.
Angefangen habe ich natürlich mit den britischen Klassikern, allen voran Agatha Christie, Dorothy Sayers und P.D. James.
Ich hatte nicht eher Ruhe, bis ich alle Fälle Agatha Christies gelesen hatte, durchaus befeuert durch den Spielfilm Das Geheimnis der Agatha Christie
von 1979, der die Autorin in einen romantischen Zauber tauchte und die Selbstbestimmtheit einer Frau ihrer Generation herausarbeitete.
Dabei sind ihre Krimis klassische Whodunits, und die sozialen Aspekte sind eher im unbewussten Subtext und in der Person der Autorin zu sehen.
Für sie war die Klassengesellschaft eine Normalität und Böses durchaus vererbbar. So faszinierend ihr Leben auch war, war sie doch eine Vertreterin
der ‚Upper Class’ und Repräsentantin eines Selbstverständnisses des ‚British Empires’.
Es erschüttert, dass sie in ihrer Autobiografie bekannte, dass die glücklichste Zeit ihres Lebens ihre Kindheit gewesen sei; doch dieser Satz scheint
der Schlüssel zum Verständnis ihres Werkes zu sein, das so viel wie möglich aus der guten alten Zeit in die bedauerliche Gegenwart einfließen lassen wollte.
Vor wenigen Jahren neu gelesen wanderte das Konvolut in die hinterste Ecke des Bücherschranks.
Das Beste, was Agatha Christie heute noch zu bieten hat, sind die intelligenten und witzigen Adaptionen der französischen Fernsehserie
Kleine Morde und Mörderische Spiele.
Ganz anders Maigret, den ich alle paar Jahre, bevorzugt im Herbst, hervorkrame und mich durch meine Lieblingsfälle als Bettlektüre
durch die dunkler und kälter werdenden Wochen bringen lasse.
In den 80ern kam dann Sara Paretsky hinzu und ihre toughe Protagonistin V.I. Warshawski, der ich bis heute die Treue halte und
die glücklicherweise auch wieder übersetzt wird.
Ich kann mich sehr genau erinnern, wie ich als Vorschulkind die prächtigen Bände meines großen Bruders von Karl May in die Hand nahm und gebannt
auf die schwarzen Zeichen starrte, als würde ich sie entziffern können, wenn ich nur lange genug hinschaute.
„Bald werde ich Euch entschlüsseln“ schwor ich ihnen. Ich habe nie eines zu Ende gelesen.
Für mich wurden es dann Hanni und Nanni oder Tini und ich liebte alle Texte der Schulbücher ‚Wort und Sinn’, aber darüber hinaus habe ich wenig
konkrete Erinnerung an Autoren aus der frühen und mittleren Schulzeit.
Im heimischen Bücherregal fand ich Hesses Roßhalde (1910/12), Ricarda Huchs Weiße Nächte (1943) oder den Roman Ehepaare (1968) von John Updike
– ich las es einfach. Im Nachhinein kommt es mir vor, als habe ich meinem Kopf etwas gegeben, was irgendwann Synapsen bilden konnte.
Es hat mich nie gestört, etwas nicht zu verstehen, weil ich von Stimmungen und Atmosphären eines Buches getragen werde – das Verstehen kam später.
Ich habe auch nie Werturteile gefällt – auch das kam später – das Gelesene war wie Nahrung und die Verdauungsprozesse hinterfragte ich auch nicht.
Die Pubertät lassen wir diskret beiseite. Erwachsenwerden war ein hartes Brot und nur durch Liebesromane, die die Realität schluckten, zu ertragen;
das war nicht besser als Alkohol oder Drogen, aber bedeutend weniger schädlich.
In den späten Siebzigern erhielt ich dann meinen Schliff von einem klugen Deutschlehrer am Abendgymnasium, der uns an den Canon der deutschen Literatur
und an Shakespeare heranführte.
Das waren die literarisch bedeutsamsten Jahre meines Lebens, weil ich schon alt genug war, etwas zu verstehen, aber noch jung genug, dass noch ein bisschen
‚Schwamm’ übrig war. Ich erinnere die Zeit als etwas, das durch das Bild des modernen Sherlock (2010-2017) mit Benedict Cumberbatch sehr gut
symbolisiert wird, vor dessen Gesicht Hologramme mit Informationen erscheinen.
Ich begriff Wissen als ein Koordinatensystem, das sich auf die Realität legt und an jedem Punkt in unzählbare Einzelinformationen zerfällt.
Jeder Baustein war wertvoll, jede Analogie Erkenntnisgewinn, die Zahl der Erklärungsmuster gegen unendlich und alle legitim.
Es war ein Rausch – der eigentlich auch nie aufhörte.
Wahllos holte ich mir Bücher aus der Stadtteilbibliothek und fing mit A an, betrachtete das Cover, las, wenn vorhanden, den Klappentext.
Ich habe Jahre meines Lebens Bücher herumgeschleppt. Bis zur Universität kam ich insgesamt nur bis C, aber immerhin waren die Meistererzählungen
von Joseph Conrad dabei, den ich bis heute ebenso verehre wie Robert Louis Stevenson, den ich verschlang.
Kürzlich sah ich mit Wonne den Vierteiler der Schatzinsel (1966) , der mich schon als Kind fasziniert hatte.
An der Universität entschied ich dann, doch nicht Germanistik im Hauptfach zu studieren, um mir die Freude am Lesen nicht durch einen sezierenden Blick
zu zerstören, und wählte stattdessen Geschichte. Dadurch hat sich mein offener Blick auf die Literatur tatsächlich erhalten.
Insgesamt gesehen war das Studium Lust und Last zugleich. In Germanistik beschränkte ich mich auf die Klassik und angeregt durch eine befreundete
Anglistik-Studentin erschloss sich mir die englischsprachige Literatur wie z.B. Malcolm Lowry, Maugham kannte ich schon, Theaterstücke. Überhaupt: Theater,
Kino, Konzerte, Lesungen. Nie wieder war mein Leben so voll davon.
Auf meinem Fachgebiet lag die Last der vielen wichtigen Bücher und Inhalte. Die wenigsten konnte ich komplett lesen, immer gab es Häppchen zu verdichten.
Auch hier das Bild der schweren Taschen, der Strafgebühren, das schlechte Gewissen.
Ich musste lernen, mich nicht in die Welt hinter der Welt hinter der Welt entführen zu lassen. Ich wollte alles wissen und verstehen, gierig, maßlos.
Ich lernte es. Es hat Jahre gedauert, bis ich wieder ein Sachbuch in die Hand nehmen wollte.
Aber es gab ja so Vieles, das gelesen werden konnte. Und ich wollte.
I. Bekenntnisse und Anfänge
Um es gleich vorweg zu nehmen – bei all der Liebe zum ‚Schöngeistigen’ bin ich doch früh eine echte ‚Krimitante’ geworden und geblieben.
Mich hat immer der soziale Aspekt interessiert, was über den Menschen und die Zeit – bewusst oder zwischen den Zeilen – offenbart wurde.
Wenn man Simenons Maigret der ersten Periode liest, taucht man quasi ein in die Gesellschaft der 20er und 30er Jahre eines Frankreichs,
das es so nicht mehr gibt, verschwunden wie Les Halles in Paris, die Treidler an der Seine, die Gehöfte rund um die große Stadt.
Maigret – und erst recht Simenon – würde mit einigen Geschichten MeeToo erhitzte Gemüter auf die Barrikaden treiben –
was nicht nur an der Schilderung seiner ‚ergebenen’ Gattin liegt, sonder insgesamt der Darstellung der Frau.
Das Selbstverständnis der französischen Frau ist bis heute zwiegespalten zwischen Selbstbestimmung und dem Einverständnis in die kulturell
zugewiesene Rolle des ‚Objekts der Begierde’; eine Rolle, die sie fast jeder Französin ansehen können, die sie zumindest als Potential angenommen hat.
Und hier offenbart sich die eklatante Schwäche eines ‚wertebasierten’ Lesens: Fragt man die Vergangenheit, wie es war, erfährt man sehr viel darüber,
wo wir herkommen.
Bewertet man die Vergangenheit nach den aktuellen Maßstäben, schiebt man sie zurück in den Zeitkanal und erfährt nichts.
Es ist der freiwillige Verzicht auf ‚verstehen’, die Herrschaft der Projektion über die Realität.
Angefangen habe ich natürlich mit den britischen Klassikern, allen voran Agatha Christie, Dorothy Sayers und P.D. James.
Ich hatte nicht eher Ruhe, bis ich alle Fälle Agatha Christies gelesen hatte, durchaus befeuert durch den Spielfilm Das Geheimnis der Agatha Christie
von 1979, der die Autorin in einen romantischen Zauber tauchte und die Selbstbestimmtheit einer Frau ihrer Generation herausarbeitete.
Dabei sind ihre Krimis klassische Whodunits, und die sozialen Aspekte sind eher im unbewussten Subtext und in der Person der Autorin zu sehen.
Für sie war die Klassengesellschaft eine Normalität und Böses durchaus vererbbar. So faszinierend ihr Leben auch war, war sie doch eine Vertreterin
der ‚Upper Class’ und Repräsentantin eines Selbstverständnisses des ‚British Empires’.
Es erschüttert, dass sie in ihrer Autobiografie bekannte, dass die glücklichste Zeit ihres Lebens ihre Kindheit gewesen sei; doch dieser Satz scheint
der Schlüssel zum Verständnis ihres Werkes zu sein, das so viel wie möglich aus der guten alten Zeit in die bedauerliche Gegenwart einfließen lassen wollte.
Vor wenigen Jahren neu gelesen wanderte das Konvolut in die hinterste Ecke des Bücherschranks.
Das Beste, was Agatha Christie heute noch zu bieten hat, sind die intelligenten und witzigen Adaptionen der französischen Fernsehserie
Kleine Morde und Mörderische Spiele.
Ganz anders Maigret, den ich alle paar Jahre, bevorzugt im Herbst, hervorkrame und mich durch meine Lieblingsfälle als Bettlektüre
durch die dunkler und kälter werdenden Wochen bringen lasse.
In den 80ern kam dann Sara Paretsky hinzu und ihre toughe Protagonistin V.I. Warshawski, der ich bis heute die Treue halte und
die glücklicherweise auch wieder übersetzt wird.
*
Ich kann mich sehr genau erinnern, wie ich als Vorschulkind die prächtigen Bände meines großen Bruders von Karl May in die Hand nahm und gebannt
auf die schwarzen Zeichen starrte, als würde ich sie entziffern können, wenn ich nur lange genug hinschaute.
„Bald werde ich Euch entschlüsseln“ schwor ich ihnen. Ich habe nie eines zu Ende gelesen.
Für mich wurden es dann Hanni und Nanni oder Tini und ich liebte alle Texte der Schulbücher ‚Wort und Sinn’, aber darüber hinaus habe ich wenig
konkrete Erinnerung an Autoren aus der frühen und mittleren Schulzeit.
Im heimischen Bücherregal fand ich Hesses Roßhalde (1910/12), Ricarda Huchs Weiße Nächte (1943) oder den Roman Ehepaare (1968) von John Updike
– ich las es einfach. Im Nachhinein kommt es mir vor, als habe ich meinem Kopf etwas gegeben, was irgendwann Synapsen bilden konnte.
Es hat mich nie gestört, etwas nicht zu verstehen, weil ich von Stimmungen und Atmosphären eines Buches getragen werde – das Verstehen kam später.
Ich habe auch nie Werturteile gefällt – auch das kam später – das Gelesene war wie Nahrung und die Verdauungsprozesse hinterfragte ich auch nicht.
Die Pubertät lassen wir diskret beiseite. Erwachsenwerden war ein hartes Brot und nur durch Liebesromane, die die Realität schluckten, zu ertragen;
das war nicht besser als Alkohol oder Drogen, aber bedeutend weniger schädlich.
In den späten Siebzigern erhielt ich dann meinen Schliff von einem klugen Deutschlehrer am Abendgymnasium, der uns an den Canon der deutschen Literatur
und an Shakespeare heranführte.
Das waren die literarisch bedeutsamsten Jahre meines Lebens, weil ich schon alt genug war, etwas zu verstehen, aber noch jung genug, dass noch ein bisschen
‚Schwamm’ übrig war. Ich erinnere die Zeit als etwas, das durch das Bild des modernen Sherlock (2010-2017) mit Benedict Cumberbatch sehr gut
symbolisiert wird, vor dessen Gesicht Hologramme mit Informationen erscheinen.
Ich begriff Wissen als ein Koordinatensystem, das sich auf die Realität legt und an jedem Punkt in unzählbare Einzelinformationen zerfällt.
Jeder Baustein war wertvoll, jede Analogie Erkenntnisgewinn, die Zahl der Erklärungsmuster gegen unendlich und alle legitim.
Es war ein Rausch – der eigentlich auch nie aufhörte.
Wahllos holte ich mir Bücher aus der Stadtteilbibliothek und fing mit A an, betrachtete das Cover, las, wenn vorhanden, den Klappentext.
Ich habe Jahre meines Lebens Bücher herumgeschleppt. Bis zur Universität kam ich insgesamt nur bis C, aber immerhin waren die Meistererzählungen
von Joseph Conrad dabei, den ich bis heute ebenso verehre wie Robert Louis Stevenson, den ich verschlang.
Kürzlich sah ich mit Wonne den Vierteiler der Schatzinsel (1966) , der mich schon als Kind fasziniert hatte.
An der Universität entschied ich dann, doch nicht Germanistik im Hauptfach zu studieren, um mir die Freude am Lesen nicht durch einen sezierenden Blick
zu zerstören, und wählte stattdessen Geschichte. Dadurch hat sich mein offener Blick auf die Literatur tatsächlich erhalten.
Insgesamt gesehen war das Studium Lust und Last zugleich. In Germanistik beschränkte ich mich auf die Klassik und angeregt durch eine befreundete
Anglistik-Studentin erschloss sich mir die englischsprachige Literatur wie z.B. Malcolm Lowry, Maugham kannte ich schon, Theaterstücke. Überhaupt: Theater,
Kino, Konzerte, Lesungen. Nie wieder war mein Leben so voll davon.
Auf meinem Fachgebiet lag die Last der vielen wichtigen Bücher und Inhalte. Die wenigsten konnte ich komplett lesen, immer gab es Häppchen zu verdichten.
Auch hier das Bild der schweren Taschen, der Strafgebühren, das schlechte Gewissen.
Ich musste lernen, mich nicht in die Welt hinter der Welt hinter der Welt entführen zu lassen. Ich wollte alles wissen und verstehen, gierig, maßlos.
Ich lernte es. Es hat Jahre gedauert, bis ich wieder ein Sachbuch in die Hand nehmen wollte.
Aber es gab ja so Vieles, das gelesen werden konnte. Und ich wollte.