Was ich lese und gelesen habe

5,00 Stern(e) 3 Bewertungen
Ja, Petra, das ist schon ein ganz besonderer Stoff, besonders ergreifend, meine ich. Das Leben von Tomasi di Lampedusa und sein verspäteter Durchbruch als Autor, das kam mir immer ausgesprochen tragisch vor - vielleicht ist der Ausdruck nicht ganz zutreffend, aber wie sollte man das sonst nennen? Der einzige Roman bis zum Tod des Autors von Verlagen abgelehnt und dann der Riesenerfolg posthum, ich wüsste nichts Vergleichbares in dieser Größenordnung im 20. Jahrhundert. Vielleicht der Fall Friedo Lampe, aber Werk wie Nachwirkung können sich mit "Il Gattopardo" doch nicht messen. Bei Letzterem und seinem Verfasser spürt man so etwas wie eine Tragik, die in Transzendenz mündet, gesehen aus der Perspektive des Autors.

Den Roman habe ich wiederholt gelesen, den Film mehrfach angesehen, beides tiefe kulturelle Eindrücke für mich. Mit kam es so vor, als sei das Werk vielleicht auch als Roman der definitive Abschluss einer Tradition. Mit deiner Besprechung hier hast du mir Lust gemacht, zunächst wieder einmal den schmalen Band Erzählungen zu lesen, den ich besitze. "Freude und moralisches Gesetz" gefiel mir auch sehr gut. Es ist in einem ganz anderen Milieu angesiedelt als "Il Gattopardo". Aufschlussreich ist auch "Die Stätten meiner frühen Kindheit". Wir waren 1978 in Palermo und haben die damals sehr heruntergekommene Altstadt gesehen.

Schönen Abend
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Ja, es ist schon eine Tragik, ganz gewiss. Aber das sind die Zeitläufe.
Ich habe auch gleich meinen Leoparden herausgesucht und angefangen, zu lesen - natürlich mit anderen Augen als 1992, als ich es antiquarisch erwarb.
Schon da kämpften eigentlich Ansprüche und Machtfülle mit diesem 'nicht tun können'. Vielleicht ist es diese Art von Denaturalisierung, den der Adel erst unter Schmerzen erwarb und unter ebensolchen loszulassen lernen musste. Auch der junge Lampedusa hat diesen Habitus, der ihn in gewisser Weise von seiner Individualität trennt. Man hat nicht das Gefühl, dass er jemals der werden konnte, der er hätte sein können.
Und den Eindruck, den ich von diesem Königreich bekomme, wirft noch einmal ein ganz anderes Licht auf die Monarchie. Waren das nicht alles Nichtstuer, die ihrem ökonomischen oder persönlichen Geltungsdrang folgen konnten? Neben allem anderen, man kann seiner Demokratie - so gebeutelt sie auch erscheint - einges abgewinnen.
Gute Nacht!
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
II Autoren
2. Christine Brückner

Ich muss gestehen, dass ich Christine Brückner (geboren 1921) über die Verfilmung ihrer ‚Poenichen‘-Trilogie lieben lernte – was natürlich auch an der darstellerischen Leistung von Ulrike Bliefert, Arno Assmann und anderen lag.

Es geht um den Lebensweg einer 1918 auf einem Herrensitz in Hinterpommern geborenen Frau, deren Vater in den letzten Kriegstagen fällt und deren Mutter – eine moderne Frau der 20er Jahre – dem Land den Rücken kehrt und nach Berlin zurück geht. Maximiliane, wie die Protagonistin heißt, wächst in der Natur auf, angeleitet durch ihren Großvater und betreut von Erzieherinnen. Mit 18 Jahren heiratet sie einen Nazi, und im Februar 1945 macht sie sich mit ihren Kindern auf den Weg in den Westen.

Das dargestellte Schicksal von Vertriebenen aus Pommern zeigte die menschliche Seite eines historischen Faktums jenseits von Rührseligkeit oder Parteinahme. Und das ist die schönste Seite der Kunst, dass sie Unerfahrbares erfahrbar macht, über die Empathie teilnehmen lässt jenseits von Fragen nach Schuld oder gar Sühne.

Das Faszinierende ist aber die Art der Persönlichkeit der Protagonistin, dieses Herausschälen eines Charakters aus dem Zustand der lange Zeit Empfangenden, in einer bestehenden Ordnung Lebende, die auf sich gestellt nachreifen muss. Und es wird so nachfühlbar, wie schwer der Verlust von einer Heimat sein muss, auch, wenn man nicht über Jahrhunderte in einer Gegend verwurzelt war wie die Quints. Diese Entwurzelung haben alle Flüchtenden gemeinsam – was wieder belegt, dass gute Stoffe nie aus der Zeit fallen.

Hier verarbeitet Christine Brückner die eigenen Fluchterfahrungen, allerdings zunächst in umgekehrter Richtung: 1943 wurde die Familie in Kassel ausgebombt und reiste zu Verwandtschaft nach Pommern, wo sie ihre ersten Eindrücke für das Land bekam. Es dauerte bis 1960, bis sie wieder in Kassel sesshaft wurde.

Über diesen Umweg habe ich also meine Liebe zu Christine Brückner entdeckt, und ihr weiteres Werk kennengelernt und zusammengekauft, zuletzt gelesen in den 2010er Jahren. Damals war ich ein bisschen genervt, dass Verlage (hier Ullstein) in einer weniger produktiven Phase des Autors gerne Textschnipsel zu Anthologien mit schmissigem Titel verarbeiten, und darum erlahmte mein Eifer. Jauche und Levkojen, Nirgendwo ist Poenichen und Die Quints sind nicht dabei; die las ich noch zu einer Zeit, als ich mir die Bücher aus der Bücherei auslieh.

Christine Brückner war schon sehr früh erfolgreich. Gleich für Ihr erstes Buch ‚Ehe die Spuren verwehen‘ bekam sie einen Preis (1954) und erzielte auch einen kommerziellen Erfolg und konnte sich als freie Schriftstellerin niederlassen. Sie schrieb eine Reihe von ‚Frauenromanen‘ wie das Wikipedia*) nennt, um dann 1975 den ersten Teil der Poenichen Trilogie zu veröffentlichen. Es fällt schon auf, wie akribisch die Werke anderer Autoren aufgelistet werden – ich dachte, das sei Standard - aber bei Christine Brückner nur ‚Hauptwerke‘. Zuletzt das Werk ‚Wenn Du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen‘ 1984 und dann noch ein paar Sätze zu ihrer Autorenschaft für das Theater. Überhaupt ganz schön lieblos gestrickt der Artikel, aber immer noch hinreichend, um ein wenig über sie zu erfahren. Für mehr muss man sie lesen.

Es wird wieder einmal Zeit - warum nicht mit 'Jauche und Lvkojen' anfangen?

Übrigens scheint Christine Brückner zu Schulstoff geworden zu sein, wie angehängte ‚Anfrage‘ auf ‚Gute Frage.net‘ belegt – leider scheint das mit dem einfach Lesen! aber keine Variante mehr zu sein:

„Aussagen & Absichten von "Nirgendwo ist Poenichen"?

Hey,

Ich muss für Deutsch eine Präsentation über das Buch "Nirgendwo ist Poenichen" von Christine Brückner machen. Leider finde ich nichts zu den Aussagen & Absichten des Buches. Wisst ihr da zufällig etwas?

LG“**)

*) https://de.wikipedia.org/wiki/Christine_Brückner
**)https://www.gutefrage.net/sprache-l...ssagen--absichten-von-nirgendwo-ist-poenichen
 

petrasmiles

Mitglied
V Reiseliteratur
1. Martha Gellhorn, Reisen mit mir und einem anderen. Fünf Höllenfahrten, Originalausgabe Travels with Myself and Another, Eland Books London 1978, deutschsprachig, Dörlemann Verlag AG Zürich, 2011, Neuauflage Fischer Taschenbuch 2018.

Für Martha Gellhorn bzw. vorliegendes Buch muss man eigentlich eine eigene Rubrik kreieren und da ich Reiseliteratur liebe, wird es hiermit eine solche geben.

Martha Gellhorn, mit der ich mich zuvor nicht eingehender beschäftigt hatte, erweist sich in diesem Buch mit einer Reihe von Reisen, die sie zu den schlimmsten zählt, die sie je machte, zu einer einnehmenden Persönlichkeit. Zu einer Pionierin macht sie schon ihr Freiheitswille, ihre große innere Unabhängigkeit und ihr Wagemut, sich zu Zeiten auf die Reise begeben zu haben, als entweder Krieg war, und/oder von Infrastruktur keine Rede sein konnte.

Während der Zeit des chinesisch-japanischen Krieges wollte sie unbedingt nach China, einen Auftrag als Kriegsreporterin im Gepäck und während des Zweiten Weltkriegs suchte sie in der Karibik nach Spuren des Krieges – und fand doch nur Spuren des Geldes – und in Ost- und Westafrika wollte sie sich auf einer privat finanzierten ‚Safari’ von Sinneseindrücken überwältigen lassen und fand Kolonien in Auflösung vor. In den Siebzigern führte sie eine Reise nach Russland inspiriert durch eine Brieffreundschaft mit einer 72jährigen russischen Autorin und an Israels Küste fand eine Begegnung mit ganz anderen Reisenden statt: Blumenkindern, die in Naturcamps abhingen, von Indien schwärmten und im Rausch Zeit aßen.

Reisen ist ihr Lebensthema. 1937 ging sie mit Ernest Hemingway nach Spanien, trampte durch Europa und fand sich immer wieder als Kriegsreporterin in den Krisengebieten dieser Welt ein.

Ich bin mit ihrem Werk noch nicht vertraut und würde aufgrund dieser Lektüre behaupten, dass sie nicht wirklich eine literarische Entdeckung ist. Aber sie besticht durch ihre Freimütigkeit und Abenteuerlust. Es ist immer interessant, worüber und wie sie schreibt und man bekommt einen Eindruck, was der Engländer meint mit ‚one of a kind’. Dabei sind es nicht die ‚Abenteuer’, die die Lektüre so spannend machen, sondern ihre Einsicht in Verhältnisse längst vergangener Zeiten. Als Reporterin verarbeitet sie, was sie selbst aufnimmt, und kommt immer wieder zu verblüffenden Erkenntnissen.

Früher dachte ich immer, der ‚Journalist’ stünde irgendwie immer über dem Rest, erst recht über den Reportern, die sich im Gelände herumtreiben müssen, während erstere gemütlich an Schreibtischen sitzen bleiben und über die wirklich wichtigen Sachen schreiben dürfen. Aber ich zögerte, sie als Journalistin zu bezeichnen, weil sie viel mehr als das ist. Mittlerweile verschwimmen die Grenzen zwischen ‚Journalist‘ und ‚Moderator‘ und gerade in politischen TV-Magazinen fragt sich, ob die Person, die die Beiträge vorstellt, Journalist ist, weil sie diese Texte selbst schreibt. Heute würde man vielleicht ‚investigativer Journalist‘ über sie sagen.

Ich will aber den ‚Journalismus‘ aus vergangenen Tagen nicht in den Himmel loben, denn natürlich waren es Zeiten, in denen die Nachrichtendichte und ihre Überprüfbarkeit aus manchen Regionen der Welt nicht besonders groß war. Es wäre interessant, ihren Artikeln mal auf die Spur zu kommen, aber das kann dieser Text natürlich nicht leisten.

Martha Gellhorns besonderen Charme macht auch ihre Freimütigkeit aus, zuzugeben, wenn ihre Selbstüberschätzung zu dem einen oder anderen Desaster beitrug. Und sie verhehlt auch nicht, wie schwierig und eigensinnig sie sich und anderen das Leben schwer machen konnte. Aber auch das ist faszinierend, dass man die Gelegenheit bekommt, sie wirklich kennen zu lernen (und vielleicht zu dem Schluss kommt, dass man sie lieber nicht in seinem Umfeld hätte haben wollen …). Ohne diese Offenheit bräuchte man eigentlich gar nicht schreiben.

Und natürlich erkennt man an diesen Texten auch, dass sie lange vor einem Bewusstsein von political correctness geschrieben aber vor allem erlebt worden sind. Ihre Beobachtungen und Einschätzungen in und zu Afrika ist wohl nichts für woke Ohren und auch ich dachte manchmal, ob das eine klare oder von Vorurteilen getrübte Sicht auf die wahren Verhältnisse ist.
Sigrid Löffler, die zur deutschsprachigen Ausgabe (2010) ein Nachwort schrieb, sieht hier durchaus latenten Rassismus am Werk; so weit würde ich nicht gehen. Solche Rücksichtnahmen dürfen nicht dazu führen, dass man zensiert, was man wahrnimmt, denn 1. Ist damit niemandem gedient, und 2. Würden rassistische Motive sich auch anders zeigen. Löfflers Anstoß ist Gellhorns Bekenntnis, dass sie – vor allem in Westafrika – die Schwarzen nicht riechen konnte. Das ist für mich ein Sinneseindruck, dem man sich kaum entziehen kann. Zudem können wir heute kaum mehr nachvollziehen, wie die Lebensweise und Ernährung die körperlichen Ausdünstungen einer noch sehr ursprünglich lebenden Bevölkerung beeinflusst und für ‚westliche‘ Nasen unerträglich machen konnte. Auch hat nicht jeder ein so feines Näschen, dass er von Gerüchen stark beeinträchtigt werden kann. Für mich sind es andere Stellen, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie uns wertvolles Verständnis aus eigener Anschauung liefert, oder sich ihr eigenes Urteil aufgrund von Vorurteilen bildet. Für mich gilt da im Zweifel die Unschuldsvermutung, sonst erlegt man sich selbst Gedankenverbote auf. Erhellend war in dem Zusammenhang für mich, dass alle Europäer, mit denen sie sprach und die in Afrika lebten, bekennen mussten, dass sie die Afrikaner nicht kannten.

Sie verwendet auch das N-Wort, was zurecht nicht mehr benutzt wird, aber nicht ausschließlich, sodass ich vermute, dass es von ihr oder dem Übersetzer als Variation desselben Begriffs verwandt wurde. Ich werde hier jetzt nicht die Vergangenheit verdammen.

Mit einer Einschätzung hat Sigrid Löffler allerdings recht: Martha Gellhorn ist fasziniert von Orten und vor allem Landschaften. Sie ist nicht wirklich an Menschen interessiert. Das macht sie weniger anfällig für Pittoreskes und bringt eine eigene Perspektive zu der Frage, ob Europäer nach Afrika ‚gehören‘ und sieht die Natur als entscheidenden Gradmesser. Ganz anders Hemingway, der sie auf die China-Reise begleitet hatte und Menschen um sich scharte, um sich endlos über ihre Geschichten und Erlebnisse zu amüsieren.

Ich möchte auch Martha zu Wort kommen lassen, die natürlich auch selbst über ihre Reisen reflektierte.

Sie sagt auf den ersten Seiten ihrer Afrika-Reise: “Ich hatte eine plötzliche Eingebung, warum die Geschichte ein solches Desaster ist: Die Menschen leben nicht lange genug. Wir lernen nur aus der Erfahrung und haben keine Zeit, sie vernünftig und weiterführend zu nutzen. So kenne ich zum Beispiel die dreißiger und vierziger Jahre dieses Jahrhunderts, aber ich habe auf die fünfziger und sechziger nur kurze Blicke geworfen. Jean [ein in Afrika als Händler lebender Tscheche, der nach 1956 Europa verließ] fängt da an, wo ich aufhöre. Und also sind unsere Schlussfolgerungen, die auf Erfahrungen basieren, natürlich radikal verschieden. Es ist so, als erstelle die Menschheit ständig neue Straßenkarten und sei somit unfähig, sich selbst den Weg zu zeigen – die Anweisungen wechseln andauernd.“ (S. 231f.)

Die Afrikareise nimmt den größten Teil des Buches ein und immer wieder setzt sie sich mit dem schwarzen und weißen Leben auseinander. Sie reiste dorthin als die Unabhängigkeit einer Reihe von westafrikanischen Staaten schon beschlossene Sache war, also vor 1960. Die Personen, die ihr hier begegnen, sind Europäer aus verschiedenen Ländern und beruflichen Interessen. Es sind die Vorbereiter der Unabhängigkeit, Missionare, Händler und auch Gestrandete. Aber immer sind es Kolonialisten und ein Austausch mit der schwarzen Bevölkerung findet nicht statt. Es wird über sie geredet, aber nicht mit ihnen, und so verwundert es mich nicht, dass die schwarze Bevölkerung mit der Landschaft verschmilzt und zu den Bewohnern eines Habitats wird.

Das wird auch deutlich bei dieser Äußerung, die sich aus der Auseinandersetzung mit Missionaren ergab: „Ich würde den Schwarzen gar nichts predigen, überhaupt nichts. Wenn sie unsere medizinische Versorgung haben wollen, sollte man sie ihnen geben; am besten sollten ausgebildete schwarze Ärzte dies tun, obwohl es das Gleichgewicht (im darwinistischen Sinne) ihrer Welt und ihrer Bevölkerungszahlen stören könnte. Jedes Jahr wird ein Kind geboren, die Zähesten bleiben am Leben. Die Überlebenden müssen stark genug sein, um dieses erschreckende Klima und Land zu ertragen. Es wäre besser, man brächte den Frauen die Geburtenkontrolle bei. Aber ich glaube, hier wird noch sehr lange nichts gelehrt und gelernt werden und ich halte das in keiner Weise für ein Unglück. Wie können wir uns auch anmaßen, jemanden zu belehren? Mein Schrei lautet: Lasst sie in Ruhe, lasst sie ihre Antworten selbst finden. Wir verstehen sie nicht, und die Antworten, die wir gefunden haben, sind alles andere als ermutigend, man sehe sich uns bloß an …“ (S. 265)

Hier fasst sie in einer Art Kaskade die Impulse des Beobachters, die Denkprozesse und ihr Fazit zusammen. Ich würde nicht sagen, dass sie gar kein Interesse an den Menschen hat, vielleicht sogar als Außenstehende, die die Weißen als Fremdkörper im Land empfindet, den Finger auf die Wunde legt. Ist es nicht so, dass dieser Impuls zur Hilfe immer den Gradmesser der eigenen Befindlichkeit hat und eine Weltordnung projiziert, die der Erkundung des Fremden vorausgeht? In Wahrheit – und das muss man so brutal eingestehen – ist es immer der Drang nach Profit, der in fremde Habitate eindringt und für sich eine lockere Schicht meist westlicher Zivilisation aufträgt, dem dann pseudohumanistische Betroffenheitsapostel folgen und den Rest auch noch zerstören. Und ist woke nicht ein direkter Abkömmling dieses Phänomens?

Aber bevor man ein altes Europa zu sehr in den Fokus nimmt – die Mechanismen der Kolonisierung funktionieren bis heute, was man an den asiatischen Gegenden entlang der neuen Seidenstraße ablesen kann – nur ohne Missionare.

Martha Gellhorn hat dieses Vorgehen auf einer anderen Reise verdeutlicht, nämlich auf den Karibikinseln. „Das Geld, nicht der Krieg [Zweiter Weltkrieg] hat das alte Leben auf den Inseln zerstört. Der Krieg brachte nur die erste kräftige Dosis Geld ins Land. (…) Lächerlich, über die vergangene Einfachheit und Ruhe und Schönheit zu murren, wo ich doch leben kann, wo ich möchte, und die Inselbewohner dort vor Anker liegen, wo sie nun einmal sind, und vermutlich sind sie wild auf den Fortschritt. Wenn ich sie nun sehe, dann glaube ich nicht, dass sie von seinen gepriesenen Vorteilen profitieren. Sie waren immer knapp bei Kasse, aber niemals hungrig, niemals überbevölkert oder gehetzt. Sie arbeiteten, wenn es nötig war und nicht eine Minute länger. Frei von lästigen Behörden, lebten sie in einer engen Gemeinschaft, so zufrieden wie Sterbliche es nur sein können. Wenn sie das Abenteuer brauchten oder Konsumartikel, dann gingen sie als Seeleute fort, oder sie emigrierten wegen des Dollars, aber alle kamen zu Besuch zurück oder um durchs Alter zu dämmern und wussten, dass sie zu dem zurückkehrten, was sie verlassen hatten, die Heimat veränderte sich nicht, die Heimat war sicher. Jetzt arbeiten sie auf ihrer Insel für Ausländer, und obwohl sie mehr Geld besitzen als jemals zuvor, fühlen sie sich arm im Vergleich. Und sie sind nicht mehr die selbstsicheren, müßigen, schwatzhaften, unkomplizierten Menschen, an die ich mich erinnere.“ Und ein alter einheimischer Weggefährte sagt, trotz des sichtbaren Reichtums „die alte Eintracht ist vorbei, vorbei für immer.“ (S. 194 – 196)

Es gibt noch viele Stellen, die ich mir ankreuzte, und über die ich hier schreiben wollte, aber ich sollte dem potenziellen Leser nicht zu sehr vorgreifen, denn bei aller Zeitgebundenheit gibt Martha Gellhorn hier jede Menge Denkanstöße zu generellen Themen und ihre Reisebeschreibungen sind darüber hinaus ein wertvolles Zeitdokument.

Die China-Reise ist dabei von besonderem Interesse, weil sie letztendlich erfahrbar macht, wo dieses Land vor seiner rasanten Entwicklung stand.

Mein eindeutiges Fazit: Es wird nicht das letzte Buch sein, das ich von Martha Gellhorn lesen werde.
 

petrasmiles

Mitglied
IV Krimis
5. P. D. James, Was gut und böse ist

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich lese pd james nun schon viele Jahre und muss feststellen: Eigentlich mag ich sie nicht. Das klingt nun verwunderlich, wenn man jemandem quasi die Treue hält, obwohl man ihn nicht mag. Aber nur auf den ersten Blick, denn natürlich ist das eine jüngere Erkenntnis und der näheren Beschäftigung mit ihr geschuldet.

Ihre Krimis sind sehr gut und als ich vor einiger Zeit anfing, sie mal der Reihe nach zu lesen – wie ich das schon öfter bei meiner ‚Auslese’ tat, fiel mir auf, dass ich die Romane sehr gerne las, aber am Ende unbefriedigt blieb. Ich habe mit dem ältesten von 1962 angefangen und las zuletzt Was gut und böse ist von 1997. Ein Zeitraum, der nunmehr dreieinhalb Jahrzehnte umfasst und an keiner Stelle wirken die Krimis altbacken oder nicht auf der Höhe der Zeit. Im Gegenteil ist sie so gut im Konstruieren von Plots wie Agatha Christie und Elizabeth George zusammen ohne die soziale Nostalgie der einen oder Überfrachtung der anderen.
Aber gerade, wenn man mehrere Werke hintereinander liest, fallen doch Strukturen auf. Es ist immer so, dass es nach Auffinden der Leiche erst einmal längere Abschnitte gibt, die auf die einzelnen Personen eingehen, die in den Mordfall verwickelt sind. Diese Porträts sind gut geschrieben und das literarischste an den Romanen, sie gehen aber zu Lasten einer Fortführung der Handlung. Im Laufe der Zeit wirkt das sehr statisch, ist aber immer psychologisch sehr genau.

Meistens ist ihr Protagonist Adam Dalgliesh, eine sehr gelungene Figur, aber sie hat auch andere Romane geschrieben, unter anderem hat sie eine weibliche Ermittlerin kreiert, Cordelia Gray, die dann doch ein bisschen 60er mäßig wirkt, wenn auch sehr sympathisch, es aber nur auf zwei Romane brachte. Der erste war richtig gut, der zweite doch etwas zu fahrig und vom Plot her unglaubwürdig. Ich nehme an, das weibliche Soloprojekt wurde durch das Hinzufügen einer weiblichen Ermittlerin (neben einem männlichen) an die Seite von Adam Dalgliesh ersetzt. Das gibt den Romanen mehr Facetten, betont aber auch die menschliche Seite der Ermittler – was nicht jedermanns Sache ist. In den frühen Romanen spielen die Mitarbeiter eine geringfügige Rolle.

Was gut und böse ist hat einen spannenden Einstieg. Eine Anwältin verteidigt einen potentiellen Mörder, bekommt ihn frei und findet ihn später in Begleitung ihrer Tochter vor mit der unfrohen Kunde, dass diese ihn heirate wolle. Das Ausloten der Psyche dieses jungen Mannes, wie böse er wirklich ist, durchzieht den weiteren Roman, erst recht, als jene Anwältin ermordet wird und ihre Tochter ein ansehnliches Vermögen erbt. Aber wieder gibt es ein umfangreiches Ensemble Tatverdächtiger, die allesamt dem anderen Ende der sozialen Skala entstammen wie der junge Mann, aber nicht weniger gute Gründe hätten, die Anwältin aus dem Leben treten zu lassen.

Das ist alles sehr gut geschrieben und mit psychologischer Finesse dargelegt – und doch … gibt es da diesen kleinen inneren Protest bei mir. Mein Gefühl, das ich noch nicht einmal genauer benennen könnte, wird nicht bedient. Wir befinden uns im fiktionalen Bereich, keine der Personen ähnelt einer realen. Warum dann muss gegen Ende ein freundlicher Mann, der seine allein erziehende Schwester beherbergt und unterstützt, aus hehren Motiven in den Fall verwickelt wird, kurz vor Eintreffen der Polizei umgebracht werden?
Vielleicht wird nicht jeder meine Reaktion verstehen, das sei ja alles nur fiktional und so sei das Leben eben. Genau deshalb! Zum einen geschieht dieser Mord vollkommen überflüssigerweise, setzt dem ‚Charakter’ des Übeltäters nur eine Kirsche auf das Sahnhäubchen, macht aber der (außer den Ermordeten) einzigen Person, die Schaden aus dem Fall nehmen könnte, existentielle Schwierigkeiten. ‚So sei das Leben nun einmal’, empfinde ich da als nur zynisch und es genügt, wenn das Leben selbst mitunter zynisch wirkt. Vielleicht fehlt mir da einfach die Menschenliebe.

James fing recht spät mit Schreiben an, hatte dann aber auf Anhieb Erfolg durch eine gute Agentin und einen Verlag, der gleich ihren Erstling veröffentlichte und ihr die Treue hielt. 1920 geboren arbeitete sie ab 1962 als freie Schriftstellerin. Für junge Frauen könnte sie als Vorbild gelten, als sie lebenslang berufstätig und aufgrund einer Erkrankung ihres Mannes in weiten Teilen alleinerziehend den gängigen Mustern weiblichen Lebens zu dieser Zeit widersprach. Und das muss man auch haben: Respekt!

Es folgte eine literarische Karriere mit Verfilmungen ihrer Werke und einer Erhebung in den Adelsstand. Ihre Biographie schrieb sie 1999 Time to Be in Earnest bzw. Zeit der Ehrlichkeit in Deutsch 2001. Und da las ich auch wieder etwas, das mich enttäuschte: Sie ließ sich unschön über Dorothy Sayers aus, nicht über deren Kunst, sondern Charakter. Und dann betrachte ich das Foto James’ auf dem Cover der Biographie und denke, sie sieht aus, als würde sie lächeln, aber sie lächelt gar nicht. Sie ist immens klug und hat viele Ansichten, die ich unbedingt teile, aber sie ist nicht ‚warm’ – und auch das verbindet sie mit Agatha Christie und Elizabeth George.

Es amüsiert, sie bei ihrem Alltag einer hochprevilegierten Dame mit allerlei ‚Verpflichtungen’ zu beobachten – so weit sie es zulässt – und man wird gut unterhalten (!), aber es mutet doch an, als sei sie eine Figur aus Agatha Christies Romanen.

Ich werde die Biographie zu Ende lesen und auch den restlichen Stapel der Krimis mit Vergnügen ‚abarbeiten’, aber ans Herz gewachsen, das ist sie mir nicht. Das ging auch gar nicht, denn dafür müsste sie etwas der Art geben, das dieses Band knüpfen könnte.
 

John Wein

Mitglied
Hallo Petra,

Ich mal wieder. Leider will mir kein rechten Zugang zu der von dir so geschätzten kriminalistischen Literatur gelingen. Doch ich bewundere Deinen Fleiß und die Leidenschaft (Sucht?), die in diesen Rezensionen von Dir für mich/uns zum Ausdruck kommt. Ich sehe Dich kauernd auf einem kleinen Schemel, abgeschirmt vom Publikumsverkehr in der verwunschenen Ecke eines gutsortierten Bücherladens alter Art sitzen, vertieft in die von Dir so geschätzten Bücher, die Deine Gedanken in kniffelig komplexe Sphären tauchen, um darin all die komplizierte Fälle aufzudröseln und einer Lösung entgegenzulesen. Da müssten die Fingernägel eigentlich schon ziemlich kurz geknabbert sein!

Ach ja, lesen, aufmerksam lesen, dazu gehört in der digitalisierten Welt von heute wirklich eine große Portion Leidenschaft. Ich danke Dir!
JW :cool:
 

petrasmiles

Mitglied
Für die Bilder in Deinem Kopf kann ich nichts :D
Tatsächlich bin ich gar nicht an der Aufklärung so sehr interessiert, sondern das sind für mich Sittengemälde und Sozialdramen. Ich habe das in meinem ersten Text unter Bekenntnisse auch erläutert. Es geht um das Vielfältige der menschlichen Psyche, vielleicht sogar Wahrhaftigkeit. Und das hat mit Fleiß nichts zu tun.
Schade, dass Du Martha Gellhorn und andere überlesen hast.
Meine Interessen sind sehr vielfältig!
Danke fürs Vorbeischauen!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Nachtrag zu Christine Brückner

Ich hatte ja von der besonderen Wirkung der Peonichen-Trilogie seinerzeit gesprochen und wagte den Versuch, ob ich die Bücher auch heute gut finden würde. Mittlerweile war eine dreiteilige Sonderausgabe antiquarisch erschwinglich. (Damals hatte ich die Bücher aus der Bücherei gelesen.)

Und ich muss sagen, sie fesseln mich. Was mir jetzt erst auffällt, ist die lakonische Sprache. Da ist nichts dramatisiert worden. Das echte Drama der Zeit hat jede künstliche Dramatik überflüssig gemacht. Wie es sich anfühlte, wussten die Zeitgenossen nur zu gut.

Den ersten Band über die Geburt der Protagonistin 1918 bis zur Flucht 1945 habe ich schon gelesen. Im zweiten Band geht es um die Frage, wie - und ob - jemand wieder Wurzeln schlagen kann, der an seinem Geburtsort so fest verwurzelt war. Nach den unvorstellbaren Volten auf der Flucht folgt ein Leben auf der Suche nach einer gewissen Normalität, die im Westen ebensowenig vorhanden ist. Alles ist in Übergang.
Es ist absehbar, dass dieses sich Einfinden in Zustände zum Lebensmotto werden kann - ohne Hoffnung darauf, jemals wieder ein Heimatgefühl haben zu werden. Ein Leben im Dazwischen, im Praktischen, im Provisorium. Am Ende wird sie die Wurzeln nur in sich finden. Das weiß man.

Und mir fällt wieder ein, dass das Schulstoff wurde. Und ich frage mich, wieviel man aufnimmt, wenn man ohne Empathie liest, oder gar nicht und sich irgendwie durch eine Prüfung bringen will. Was nimmt man davon mit?

Ich freue mich schon auf die nächsten Kapitel!
 

petrasmiles

Mitglied
VI. Bücher, die ich nie gelesen habe
2. Arundhati Roy, Der Gott der kleinen Dinge

Bei diesem Buch ist der Titel so verführerisch, so dass er sich in meinem Hinterkopf einnisteten konnte und bei passender Gelegenheit sich als Kaufentscheidung materialisierte, als der Titel antiquarisch auslag.

Und dann kam die Stunde des Lesens. Ich habe gefühlt vier Anläufe gemacht, mich jedes Mal ein paar Seiten weitergekämpft, aber dann lag auf einmal ein anderes Buch darauf, dann wieder ein anderes; es wurde aufgeräumt in die 'muss ich noch lesen'-Ecke. Zuletzt - beim Aufräumen der 'muss ich noch lesen'-Ecke -
landete es auf dem Nachttisch mit der festen Überzeugung, dass es eines der nächsten sein wird.
Dabei blieb es dann.
Und bevor ich es - aus purem Optimismus - wieder in die 'muss ich noch lesen'-Ecke verfrachte, stelle ich mich der niederschmetternden Wahrheit: Manche Menschen und Bücher sind einfach nicht füreinander gemacht. Also wird es der 'Wird gespendet'-Stapel.

Gemeinerweise habe ich das erst dann festgestellt, als ich in P.D.James Biographie*) eine vernichtende Kritik las.
Sie war damals im Booker-Management-Commitées, das über den aktuellen Preis mitentschied. Sie sagte sehr kluge Sachen über die Schwierigkeiten eines gelungenen Auswahlverfahrens. Die Entscheidung für die Preisträgerin von 1997 soll einiges 'Gemurre' ausgelöst haben. Sie schreibt:" ... ich bin nicht weit damit gekommen. Mir erscheint der Roman etwas zu weitschweifig und übertrieben, der Versuch einer Anfängerin, Naipaul oder Rushdie nachzueifern"**), aber sie gesteht auch ein, dass sie Romane aus Kinderperspektive eher nicht mögen würde und die wenigsten gelungen fände.

Dieses Vorurteil teile ich nicht, aber dennoch stibitze ich diese Ablehnung als Rechtfertigung, dieses Buch loslassen zu dürfen.
Ganz schön inkonsequent, ich weiß, erst die Scharfrichterin rügen (siehe #45) und dann ihr Urteil zum eigenen Vorteil benutzen, aber manchmal verlangt das Seelenheil streitbare Entscheidungen.

*) P.D. James, Time To Be in Earnest, dt. Zeit der Ehrlichkeit, Faber & Faber London 1999, Droemer München 2001
**) Ebd., S. 164
 

zeitistsein

Mitglied
Liebe Petra

Mit der Arundhati Roy konnte ich auch nicht. Mir war's zu wenig literarisch - zu wenig Arbeit an der Sprache oder - um einen Begriff aus deinem Faden aufzugreifen - zu wenig wahrhaftig.
Ich gehe mit dir einig - zumindest glaube ich, dich so verstanden zu haben -, dass Schreiben mit der Suche nach Wahrheit einherzugehen hat. Diesen Anspruch stelle ich schon, denn er macht zugleich die Schwierigkeit und die Besonderheit dieses Handwerks aus.
Wer schreibt, um jetzt noch Roberto Bolaño mit ins Boot zu holen, muss bereit sein, den Blick in einen schwarzen Spiegel zu ertragen.
Gute Autoren können das. Aber auch nur die guten.

Viele Grüsse
Z
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Z,

ich bin sehr froh, dass Du das geschrieben hast.
Meine heimliche Hoffnung war, dass sich jemand meldet, wie er mit dem Buch zurecht kam.
Ich hätte mich auch über eine positive Reaktion gefreut, aber natürlich beruhigt es mich mehr, wenn auch aus anderer Quelle eine ähnliche Einschätzung kommt. Dabei könnte ich es gar nicht so klar benennen, weil ich schon nicht 'rein' kam. Das kann natürlich an den von Dir genannten Gründen gelegen haben.
Ja, das mit der Wahrhaftigkeit ist ein ganz wichtiger Punkt.
Deshalb kann ich kaum noch mit Vergnügen fernsehen, weil die Drehbücher so schlecht geworden sind. Gerade bei Serien. Obwohl es da auch immer wieder Ausnahmen gibt.
Eigentlich lese ich sowieso lieber.
Danke für Deinen Besuch!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
II Autoren
3. Joyce Carol Oates

Wann habe ich eigentlich aufgehört, Joyce Carol Oates zu lesen? Und warum?

Sie ist eine der wichtigsten Autorinnen meiner späten Zwanziger Jahre. Ihr Roman ‚Im Dickicht der Kindheit’ war wie ein Kopföffner – wie man schreiben kann. Wie innere Prozesse die wahren Helden eines Romans sein können, und nicht wirklich die Ereignisse, die die Geschichte ‚vorantreiben’. Da wird nichts vorangetrieben – im Gegenteil steht man mit der jugendlichen Protagonistin atemlos dem Geschehen ausgeliefert, das Drama im eigenen Kopf.
So habe ich die Geschichte gelesen. Natürlich gibt es auch eine ‚offizielle’ Inhaltsangabe. Da ist von der alten Welt in der Provinz die Rede, weißes Prekariat, eine weibliche Nabokov-Lolita-Geschichte. Das erinnere ich nicht mehr.

Für mich war am wichtigsten, dass dieses innere Erleben in einer Minute Universen enthalten kann. Das hat wahrscheinlich mein Gespür dafür geschärft, dass das Leben keine Aneinanderreihung von Ereignissen – oder gar Höhe- oder Tiefpunkten- ist, sondern dass sich die entfaltenden Momente das Leben ausmachen. Man muss sich nur die Zeit dafür nehmen. Erst mit dem Erwachsenenalter nimmt man diese Meilensteine mit, an denen man sich orientiert. Das hilft der Erinnerung, aber eigentlich ist es eine Verarmung.
Und in den wirklich guten Momenten, wo man nicht dem aufgezwungenen Kalender der Ereignisse folgt, ist es wieder so.

Joyce Carol Oates, Jg. 1938, Tochter einer Einwanderin aus Ungarn, gilt als eine der bedeutendsten amerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ich habe seinerzeit vier oder fünf ihrer Romane gelesen, alle in den späten Achtzigern – und dann war Schluss. Es hing wahrscheinlich mit dem Eintritt ins Berufsleben zusammen: Lesen und Schwelgen war zum Luxus geworden. Das muss ja auch so sein beim Übertritt in eine neue Lebensphase, aber warum ich dann ihre Bücher brav weiter abstaubte und mit umzog, aber nie wieder zum Lesen zur Hand nahm, kann nur mit diesem Missverständnis zusammenhängen, dass diese Autorin einer Vergangenheit angehört. Was natürlich nicht stimmt. Vielleicht habe ich auch gedacht, ich weiß und kenne schon alles, was immer ein Trugschluss ist. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass ich heute ein ganz anderes Buch lesen würde.

Ich bin sehr geneigt, mich auf dieses Abenteuer einzulassen. Um so mehr als ich nie wirklich weiter vorgedrungen bin in ihr Werk – und sie schreibt bis heute Romane, Kurzgeschichten, Dramen.

Es gibt eine ARTE Dokumentation über sie ‚…die Frau der Hundert Bücher’, in der sie sich selbst als neutrales Wesen bezeichnet, keine ausgeprägte Persönlichkeit habe, aber vielleicht wäre Persönlichkeit auch nur der Kontext, den wir uns jeweils geben.

Sie stammt aus einfachen Verhältnissen und war die erste ihrer Familie mit einem höheren Bildungsabschluss. Das verbindet uns. Und obwohl sie in Princeton lebe (also im klassischen akademischen Umfeld), fühle sie sich nicht als Teil dieser gesellschaftlichen Gruppe, sondern betrachte sie von außen. Und das beruht wiederum meiner Meinung nach auf dieser ‚Außenseiterschaft’, und ist ein hervorragender Platz für einen Autor. Aber auch als Mensch, weil man die Verwicklungen erkennt, Ursache und Wirkung begreift und den andern Menschen etwas zu sagen hat.

 

petrasmiles

Mitglied
Ja, das kam bei dem ARTE-Beitrag sehr gur rüber: Sie steht früh auf, schreibt bis ca. 13h und isst zu Mittag - ein Frühstück gibt es vorher nicht. Danach ein Spaziergang und wieder Schreiben. Urlaub oder Sonntag gibt es bei ihr nicht. Schreiben ist ihr Lebenselixier.
Da hat wenig daneben Platz - Kinder auf jeden Fall nicht.
Aber so sehr ich das mit dem nicht unterbrochen werde bejahe - ohne Talent geht es auch nicht.
Danke fürs Vorbeischauen!

Liebe Grüße
Petra
 

zeitistsein

Mitglied
Ja, das kam bei dem ARTE-Beitrag sehr gur rüber: Sie steht früh auf, schreibt bis ca. 13h und isst zu Mittag - ein Frühstück gibt es vorher nicht. Danach ein Spaziergang und wieder Schreiben. Urlaub oder Sonntag gibt es bei ihr nicht. Schreiben ist ihr Lebenselixier.
Da hat wenig daneben Platz - Kinder auf jeden Fall nicht.
Aber so sehr ich das mit dem nicht unterbrochen werde bejahe - ohne Talent geht es auch nicht.
Danke fürs Vorbeischauen!

Liebe Grüße
Petra
Oh, ich vermute, dass Oates mit der Aussage nicht auf ihre Alltagsroutine hinauswollte - dazu ist sie viel zu tiefgründig -, sondern eher darauf, wie sich ein Potenzial entfaltet. Manch ein Kind wäre ein grossartiger Künstler geworden, wenn man ihn nicht dazu gedrängt hätte, vom brotlosen Beruf abzulassen. Derlei existenzielle Unterbrüche gibt es leider allzu viele.

Viele Grüsse
Z
 

petrasmiles

Mitglied
Natürlich nicht - ich habe nur die Konsequenz dieser Aussage verbildlicht.
Bei Deiner Schlussfolgerung bin ich nur halb bei Dir - ich glaube nicht an Talente, die sich nur in Schutzräumen entfalten können.
Das Schreiben oder nicht schreiben ist von jedem Talent aus der Vielfalt seines Charakters und seiner Möglichkeiten frei zu entwickeln. Und diese Entwicklung hängt eng damit zusammen, wie wir mit den Segnungen und Beeinträchtigungen umgehen, die uns gegeben sind. Das formt den Menschen und die Sprache.
Liebe Grüße
Petra
 

zeitistsein

Mitglied
Natürlich nicht - ich habe nur die Konsequenz dieser Aussage verbildlicht.
Bei Deiner Schlussfolgerung bin ich nur halb bei Dir - ich glaube nicht an Talente, die sich nur in Schutzräumen entfalten können.
Das Schreiben oder nicht schreiben ist von jedem Talent aus der Vielfalt seines Charakters und seiner Möglichkeiten frei zu entwickeln. Und diese Entwicklung hängt eng damit zusammen, wie wir mit den Segnungen und Beeinträchtigungen umgehen, die uns gegeben sind. Das formt den Menschen und die Sprache.
Liebe Grüße
Petra

Liebe Petra

Das ist in Ordnung.

Jeder darf seine Meinung haben und zum Glück sind diese je unterschiedlich. Sonst wäre das hier eine Strafkolonie oder das Militär.

Ein schönes Wochenende und viele Grüsse
Z
 

petrasmiles

Mitglied
Bei kaum einem Thema habe ich so ausgiebig reflektiert wie bei diesem 'Künstler'-Thema.

Ich bin mit einer Vielzahl von Eigenschaften auf die Welt gekommen, die man Talente nennen könnte.
Als Jugendliche (15, 16?) habe ich eine Malphase gehabt. Wie es der Zufall wollte, wurde gerade in der Brigitte ein Malwettbewerb veranstaltet und ich hatte vor, etwas einzusenden. Stolz zeigte ich meinem großen Bruder ein Bild (Wasserfarben), das ich besonders gelungen fand. Es stellte eine alte Frau dar, mit wenigen Pinselstrichen und nur einer Farbe hatte ich da eine Person erschaffen. Mein Bruder riet mir ab. Das sei doch nicht so gut und ich würde mich nur lächerlich machen, weil da bestimmt viele gute Sachen eingeschickt würden und ich nachher nur enttäuscht würde.
Ich war da noch sehr beeinflussbar und habe das Bild nicht verschickt. (Ich besitze es noch heute und finde es nach wie vor gelungen.) Aber damals war natürlich die Luft raus. Ich habe das meinem Bruder lange übelgenommen. Heute denke ich, dass es für ihn schlimmer ist als für mich, denn er hält den gleichen strengen Maßstab ja an sich.
Ich habe dann noch eine Weile weiter experimentiert und dann aber festgestellt, dass ich nicht bereit war, die nächsten Schritte zu gehen und mir wirklich Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen. Im Laufe der Jahre kristallisierte sich heraus, welches meiner 'Talente' mich wirklich durch mein Leben getragen hat - was ich in der Rückschau erkannte. Auch, was das Schreiben anbelangt, war ich mir immer bewusst, dass dies eine im Grunde einsame und egoistische Beschäftigung ist. In einer Person wie Joyce Carol Oates trägt diese Entscheidung reiche Früchte, und jeder kann sie nur für diese Entscheidung, dieses Leben zu wählen, beglückwünschen. Und wenn wir wirklich nur dieses Talent leben wollen, müssen wir die passenden Entscheidungen treffen. Dazu sind die wenigsten Menschen aber bereit. Man kann dann auch sagen, wenn mir mein Bruder damals nicht abgeraten hätte, wenn meine Eltern mich nicht zu einem Brotberuf gezwungen hätten, wenn mir nicht diese Schwangerschaft dazwischen gekommen wäre, wenn ...
Dass Mutter Natur zur Verschwendung neigt, ist klar, dass in Konzentrationslagern und auf Schlachtfeldern Talente vergeudet wurden, ist unbestritten, oder dass Unfälle großartige Karrieren zerstörten.
Aber am Ende des Tages muss der kleine schwache Keim Grün selbst seinen Weg durch die Erde finden, allen Fährnissen entkommen, seinen Platz an der Sonne finden, wo es gedeihen kann - und dann kann es auch blühen.

Dir auch ein schönes Wochenende!

Liebe Grüße
Petra
 

zeitistsein

Mitglied
Liebe Petra

Vielen Dank für deine Schilderung, die mich spontan an die Lebensgeschichte des bedeutenden argentinischen Autors, Antonio de Benedetto, erinnert hat. Eine zeitlang ging es ihm so schlecht, dass er immer dieselbe Erzählung an alle möglichen Verlage und Wettbewerbe einschickte und dabei immer leer ausging. Das tat seinem Talent aber keinen Abbruch. Sein Werk ist vergleichsweise schmal, deswegen aber nicht weniger tiefgründig und bedeutungsvoll.
Also ja: Jeder muss selbst entscheiden, wie viel er in sein Talent investiert bzw. welchen Preis er dafür zu zahlen bereit ist.

Viele Grüsse
Z
 



 
Oben Unten