Anekdote
Einem Mann war die Frau verstorben.
Nach fast einem Jahr glaubte er,
einer Verwechslung aufsitzend,
sie auf der Straße wiederzusehen,
fiel vor freudigem Schreck um und starb.
Schon am nächsten Tag klärte sich das Missverständnis.
Eckhard Henscheid: Kleine Poesien. Zürich: Haffmanns 1992; S.8
Deutsch-Lehrer Georg E. und der Bamberger Reiter
Anekdote
Der Deutschlehrer Georg E. schaltete im leicht abgedunkelten Klassenzimmer der 10Caesar (10c, das war der humanistische Zweig mit Latein, Griechisch und Englisch) zum Abschluss der Stunde den Beamer ein - der niedrige Wert von 300 Lumen pro Quadratmeter erforderte Dämmerlicht im Raum - und es erschien ein Bild des Bamberger Reiters.
Ich saß damals in der zweiten Reihe rechts vorne und fühlte mich dort auch jetzt nicht recht wohl. Herr E. wollte gerade zu sprechen beginnen, als plötzlich die Tür aufging: Der großgewachsene Direktor der Schule schritt eindrucksvoll über die Schwelle, bedeutete ohne Worte dem Kollegen mit einem freundlichen Lächeln und der halbhoch gehaltenen Hand, er möge doch bitte einfach fortfahren, nahm den freien Lehrerstuhl und setzte sich vorne links ans Fenster, wo er das Geschehen recht gut überblicken konnte. Nun war man gefordert.
Thematisch ging es in dieser Stunde bei uns Sechzehnjährigen, die erstmals vom Lehrer gesiezt wurden, um das Menschen- und Herrscherbild des Mittelalters. Herr E. forcierte angesichts der neuen Gesamtsituation seine Stimme: „Ein Mysterium wird diese Reiterstatue manchmal genannt, der Reiter sitzt auf einem Pferd hoch oben, hält die Zügel in der Hand, ganz entspannt. Selbst auf uns Heutige macht diese Gestalt Eindruck. Schauen sie sich das Bild genauer an. Was sagt es uns, was vermittelt es uns?“
In die entstehende und sich vertiefende Stille hinein lächelte der Lehrer ermutigend. Ich zog die Schultern hoch und den Kopf leicht ein. Vorne im Klassenzimmer, hinten und in der Mitte nur Unbehaglichkeit. „Jetzt denken Sie sich halt in die Figur hinein. Das ist doch möglich. Und haben Sie den Mut zu sagen, was Sie dabei empfinden.“ Der Direktor vorne links, ein Altphilologe namens Färber mit einer besonderen Vorliebe für die fragende Mäeutik, die Hebammenkunst sokratisch-platonischer Gesprächsführung, hatte den Kopf gesenkt und schien zu meditieren. „Sagen Sie es, auch wenn es Ihnen vielleicht etwas komisch vorkommt.“ Stille. Dann vernahm man aus der letzten Reihe eine gemurmelte Antwort - sie war knapp formuliert, schlug ein und die Stunde war versenkt, geplatzt, getötet. "Er wartet vielleicht "- minimale Pause - "auf Grün?“
Im einsetzenden Losprusten, Quieken, Quietschen, Gackern, Frohlocken öffnete und schloss Direktor Färber den Mund. Ein Lippenleser hätte dort wohl ein „tot“ entschlüsselt, er stand auf, hob schmunzelnd die Hand. Er habe, sagte er, gestern nachmittag einen Kollegen aus Karl-Marxstadt im Wittelsbacher Gymnasium herumgeführt. Der habe die Beamer an der Decke bewundert, aber betont, dass man bei ihnen schon vor der Wende in jedem Klassenzimmer einen Overheadprojektor, einen „Polylux", installiert hatte. Ein Name, der ihm, Direktor Färber sehr gefalle. Man könne sich sicher denken, warum?
Wir kannten das Spiel aus der achten Klasse noch, vier Wochen damals Unterricht beim Färber, der Lateinlehrer war im Krankenhaus. Also alles klar jetzt das rituelle Spiel spielen. Weg von dem gekippten Stundenschluss: Aus dem Griechischen das „?????“ für „viel, mehrere“. Aus dem Lateinischen das „lux“ für „Licht“. "Ja, brav", sagte Direktor Färber,"und vor allem: Latein und Griechisch leben sogar im Osten immer weiter." Man höre immer, Latein und Griechisch seien tote Sprachen. Aber selbst wenn das stimme, gelte – hier grinste der Direktor - dass nur eine tote Sprache eine gute Sprache sei. Und dann zu Herrn E.: „Eine gute Stunde, Herr Kollege.“ Herr E. stutzte kurz. Dann lächelten beide.
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Der gleiche Deutschlehrer übrigens wollte einmal in einem Abschlussgespräch eine griffige Formel ("Schein und Sein") mit den Schülern sokratisch-mäeutisch erarbeiten. Es ging dabei um die Novelle "Kleider machen Leute" des Dichters Gottfried Keller und deren Hauptfigur Wenzel Strapinsky. Als wir partout nicht draufkamen, worauf er hinauswollte, rief er: „Nun, es geht doch um
Schein und ….?“ Als wir immer noch nicht mehr wussten, rief er in seiner Verzweiflung: „Es reimt sich auf
Schwein.“ Um´s Verrecken nicht wussten wir, was er wollte.
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Wirkung und Erinnerungswert dieser Gottfried-Keller-Stunde waren der Stunde mit dem Bamberger Reiter voll adäquat.