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petrasmiles

Mitglied
Ok, nachdem ich soeben ins Populistische abgedriftet war
Lieber John,

ich hoffe doch, dass Du das ironisch gemeint hast - ohne den Sprecher in den Blick nehmen zu können, ist die Sprache voller Fettnäpfchen -was mir schon bei Onivdio mal pasiert war ... frohes Neues Jahr noch, sollte ich das nicht schon getan haben.
Deine Erlebnisse mit dem neuen alten Cousin wäre eine Geschichte wert, meinst Du nicht? - in bester Arno-Manier natürlich

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, lieber John, für das ausführliche Eingehen. Ja, Parallelen zwischen später DDR und unserer Gegenwart wurden schon von manchem so gesehen. Ich halte mich da etwas zurück, ohne es zurückweisen zu wollen. Einmal habe ich die innere Rückentwicklung dort ja nicht selbst miterlebt und zum anderen fallen mir auch Unterschiede ein. Im Ganzen aber ist auch mein Befund: sehr kritische Lage von Staat und Gesellschaft aus diversen Ursachen und Ausgang zzt. nicht vorhersehbar.

Von Berlin aus habe ich in den letzten Jahren Neustrelitz und Neubrandenburg kennengelernt und war recht angetan von Lage und äußerem Bild.

Danke für die guten Wünsche. Auch dir nur Gutes im angebrochenen Jahr.
Arno
 
(9) 3. Januar 2005

Eine Anmerkung zur Zeitgeschichte. Sie bezieht sich auf Schröders fixes Wort von der „Einen Welt“, in der sich die Meeresflutkatastrophe in Südasien ereignet hätte. Nun sah ich gestern im Fernsehen einen der äußerst raren kritischen Kurzberichte und sah vor mir ein Dorf sehr nahe an den touristischen Stränden Thailands – von diesen aber nur wenig berührt. Fischer wohnen dort und beklagen das Ausbleiben jeglicher Hilfe bisher. Ungeborgen die Leichen im Dorfteich, es gibt kein Trinkwasser mehr, keine Lebensmittel. Die einheimische Bevölkerung ist bislang ganz auf sich gestellt und heillos überfordert, im Stich gelassen. Doch nicht uninformiert: Sie wissen, mit welchem Aufwand die touristischen Hochburgen durchforstet werden, dass die Leichen der Fremden dort sogar eisgekühlt werden, um sie vielleicht doch noch identifizieren zu können. Sie beklagen sich über das Desinteresse ihres Staates an ihnen selbst. Ja, es ist eine Welt, und zwar eine schärfster Gegensätze auch auf kleinstem Raum.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

so desillusionniert wie ich mich derzeit fühle, von wegen Fortschritt im Menschlichen - ich sehe keinen Unterschied zu heute - weder in der ersten, noch in der ehemaligen Dritten Welt - im Gegenteil bezieht sich meine Desillusionierung vor allem darauf, dass ich nicht mehr glaube, dass es in der ersten grundlegend anders läuft - wir haben hier nur eine größere Absicherung, aber auch da Tendenz fallend. Man sehe nur die verheerenden Brände in Los Angeles - zum einen die Reporter, die den Promis nachspüren, sodass sie jammern können in einem Brennpunkt, die Absicherung gegen Plünderer - auch die Beschwerden, wie in den ärmeren Vierteln und Gegenden gelöscht und geholfen wurde - ich habe das nicht angeklickt, weil ich das Drama gar nicht beschrieben haben möchte. Mir reicht da die Erfahrung von New Orleans und den Ungerechtigkeiten (und Skandale) nach Kathrina.
Ob die Hilfe der Flutopfer im Osten des Landes oder im Ahrtal in Deutschland besser funktionierte? Medial war es eine Katastrophe und der Anfang vom Ende seriöser Berichterstattung.

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,

mich würde ein Filmbericht wie der aus Thailand heute auch schwer erreichen, da ich nur noch sehr wenig im Fernsehen ansehe (überwiegend Regionales). Es ist also Zufall und war es vielleicht damals auch schon, dass mir so schockierender Kontrast in der Behandlung vor Augen kommt. Im Originaltext folgt noch eine dazu passende Beobachtung aus meiner unmittelbaren Umgebung. Ich musste sie aufgrund von Identifizierbarkeit und Persönlichkeitsschutz hier weglassen.

Liebe Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

Du scheinst da sehr konsequent zu sein im Sinne eines hervorragenden Zeitmanagements! Alle Achtung.
Ich genieße es in meinem Privatleben, meine vielfältigen Interessen sprießen zu lassen - an mir bleibt nicht nur Papier kleben, ich sammle auch Dokus - wobei ich wohl nicht mehr genug Lebenszeit haben werde, alles zu lesen und zu schauen, aber wenn ich heute noch ein Blümchen bin und das mein Wasser ist, dann ist das so.

Und jetzt wird weiter Zeitung gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 
(10) 18. August 1968

Der folgende Artikel, entstanden im Juni 1967 und veröffentlicht im Mai 1968, war der, zumindest vorläufig, letzte in unserer Schülerzeitung aus meiner Feder. Möglicherweise werde ich aber im September einen Aufsatz über den Dienst bei der Bundeswehr schreiben und ihn der Redaktion anbieten. Ich habe ohnehin versprochen, im September noch einmal nach *** zu fahren.


Gewidmet den Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1948/49

Deutschland – deine Driller

(Man hat ja noch niemals versucht, den Krieg ernsthaft zu bekämpfen. Man hat ja noch niemals alle Schulen und alle Kirchen, alle Kinos und alle Zeitungen für die Propaganda des Krieges gesperrt. – Kurt Tucholsky)



Bertelsmann hat im vorigen Jahr einen hervorragend ausgestatteten Bildband über Deutschland herausgebracht. Mit bunten Bildern, Graphiken und Statistiken ist nicht gespart worden, erfreulicherweise auch nicht mit Text. Im Bestreben, möglichst alle Bereiche bundesrepublikanischen Lebens zu erfassen, hat man auch das Militärwesen nicht vergessen, dem man acht großformatige Seiten gewidmet hat – gegenüber nur sechs Seiten „Rechtswesen“ und vier Seiten über das Schulwesen.

Was nun aber den Text über unsere Bundeswehr, speziell jenen über den „Drill“ angeht, so ist der dazu angetan, selbst wehrfreudige Nichtpazifisten nachdenklich zu stimmen – in Deutschland immerhin eine erstaunliche Leistung und umso verwunderlicher, als Bertelsmann nicht gerade im Rufe steht, ein pazifistischer oder linksgerichteter Verlag zu sein. Was lesen wir da auf Seite 409? Folgendes: „Die Hauptformen kämpferischen Einsatzes müssen nicht nur geübt, sondern ‚gedrillt’ werden. Die seelische Belastung des Kämpfers auf dem Schlachtfeld ist so groß, dass von ihm kaum ein überlegtes Handeln gefordert werden kann. Wer erst überlegen muss, wie er sich … verhalten … soll, ist verloren. Hier gibt es nur ein instinktives Handeln. Dazu aber muss das Verhalten im Kampf … so gedrillt werden, dass keine Überlegung mehr erforderlich ist. Dies gilt in erster Linie für diejenigen Soldaten, die den Kampfeseindrücken besonders ausgesetzt sind: denen, die im Nahkampf das Weiße im Auge des Gegners sehen.“

Nirgends wird ein vernichtenderes Urteil über den militärischen Drill gesprochen: Von Bertelsmann über den Sinn des Drills aufgeklärt, verstehen wir jetzt, wie die beiden Massenschlächtereien dieses Jahrhunderts, Weltkriege genannt, möglich waren; wie es möglich war, dass zivilisierte und einigermaßen vernünftige Menschen sich auf Befehl weniger wahnsinnig gewordener „Staatsmänner“ und Militärs zu Millionen umbrachten. Der Drill, der Drill! Er hatte es erreicht, dass all diesen friedlichen Menschen auf dem Schlachtfeld jedes „überlegte Handeln“ unmöglich geworden war, dass einzig noch das „instinktive Handeln“ diesen vergewaltigten Hirnen übrig geblieben war. Was heißt denn schon instinktives Handeln? Es heißt: Bring den um, auf den man dich hetzt, schalte Vernunft und Gefühl aus. Wenn du das Weiße im Auge des Gegners siehst, dann denke nicht daran, dass er ein Mensch ist, dem das ganze viehische Abschlachten genauso zuwider ist wie dir, denke überhaupt nicht, töte nur!

Drill ist nichts weiter als Ersatz für Überzeugung. Wo jede Kriegsbereitschaft fehlt und jede Einsicht, wo der Verstand keinen „Gegner“ anzuerkennen gewillt ist, da wird gedrillt, da wird die Vernunft vergewaltigt und die animalische Reaktion des Tötens eingeimpft. Warum haben sich denn die Partisanen und Guerillakrieger besetzter Länder, die meist nie Wehrdienst abgeleistet hatten und nie gedrillt worden waren, zu allen Zeiten so gut geschlagen? Weil sie Überzeugungen hatten.

Sollten den Staatsmännern der Großmächte morgen das Spiel mit dem Feuer über den Kopf wachsen, sollte den nervösen Militärs, die „losschlagen“ fordern, Gehör geschenkt werden, werden wieder – dann schon zum dritten Male – die Massen folgen und töten:

Gegen Vernunft, menschliches Gefühl und besseres Wissen
Ohne irgendeine Überzeugung
Aus Instinkt
Dank DRILL


Soweit jener Artikel, in dem Einflüsse Tucholskys unverkennbar sind. Unter ihm befand sich – sehr beziehungsreich – eine Karikatur des Bundesverteidigungsministers Gerhard Schröder im Stahlhelm. Aber es kam noch besser: Ich hatte nämlich noch eine von F*** D*** besorgte Statistik über die Kriege aller Zeiten hinzugefügt:


Seit dem Jahre 3600 v. Chr. hat es nur 229 Jahre des Friedens gegeben. Dagegen 14.513 größere und kleinere Kriege.

3.640.000.000 Menschen sind an Kriegen oder kriegsbedingten Krankheiten zugrunde gegangen. Seit 3600 v. Chr. ist jeder vierte Mensch direkt oder indirekt ein Opfer des Krieges geworden.

Die Kosten aller Kriegsschäden betragen etwa 500.000.000.000.000.000.000 Dollar. Das entspricht einem hundert Meilen breiten und dreißig Fuß dicken Goldband um den Äquator. – Soweit die „Aussagen“ eines Elektronengehirns.
 

John Wein

Mitglied
Lieber Arno,
Ich denke, Drill ist eine Form der Ertüchtigung, ein Antrainieren von Fertigkeiten für einen xbeliebigen Fall/Situation entweder im Krieg wie hier oder auch im persönlichen Bereich im normalen Alltag.
Der militärische Drill umfasst in erster Lienie das Beherrschen von Abläufen und deren Kenntnis. Der Soldat auf dem Schlachtfeld braucht andere Fähigkeiten als der U-Bootfahrer oder der Kampfflieger.
Ein Guerilla krieger wird sicher auch seine Kampfweise trainieren, schließlich wird auch er geführt von einem Führer.
Kriege sind grausam, aber um "erfogreich" zu sein/überleben zu können ist Drill/ Training aber unverzichtbar.

Ein Teil meiner Familie stammt von dort, wo die Totenmale von Langemarck und Ypern mahnen. Was mich zum Kämpfer für den Frieden gemacht hat, war die folgende Passage und du wirst es nicht erraten von wem sie ist. Dieser nun folgende Teil des Romans hat mich innerlich schwer aufgewühlt:

Am Waldessrand wird immer das Seitengewehr aufgepflanzt, mit gedrillten Griffen... und vorwärts stürzen sie, wie es gehen will, mit sprödem Schreien und qualdraumschwer die Füße, da die Ackerklüten sich bleiern an ihren plumpen Stiefeln hängen. Sie werfen sich nieder vor anheulenden Projektilen, um wieder aufzuspringen und weiterzuhasten, mit jungsprödem Mutgeschrei, weil es sie nicht getroffen hat. Sie werden getroffen, sie fallen, mit den Armen fuchtelnd, in die Stirn, in das Herz, ins Gedärm geschossen. Sie liegen, die Gesichter im Kot und rühren sich nicht mehr, den Rücken vom Tornister gehoben, den Hinterkopf in den Grund gebohrt, und greifen krallend mit ihren Händen in die Luft. Aber der Wald sendet neue, die sich hinwerfen und springen und schreiend oder stumm zwischen den Ausgfallenen vorwärtsstolpern.
Sie sind dreitausend, damit sie noch zweitausend sind, wenn sie bei den Hügeln anlangen. Das ist Sinn ihrer Menge.


Aus: Der Zauberberg/Thomas Mann

Ich grüße, John
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

das ist eine zeitgemäße und sicher noch gültige Analyse - und ich bin da - als Ungdiente und Pazifistin - ganz bei Dir.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, lieber John, für das Mitgeteilte. In der Tat hätte ich bei diesem Zitat ohne den Namen des Autors darunter - darüber glitt mein Auge sogleich - nicht auf Th. Mann getippt. Meine Zauberberg-Lektüre liegt schon Jahrzehnte zurück und mir sind andere Stellen eher im Gedächtnis geblieben.

Als ich diesen Text schrieb, war ich siebzehn und stand stark unter Tucholskys Einfluss. Insofern ist das auch Nachahmung. Tucholsky hat sich an vielen Stellen auf die Kopfinhalte der Kriegführenden bezogen und sie scharf kritisiert, mit humanistisch-moralischem Impetus. Mein Aufhänger im Bertelsmann-Text war dementsprechend "das Weiße im Auge des Gegners". Das war der zentrale Begriff für mich. Es ist gewiss richtig, dass Drill auch und (zumindest vordergründig) primär das Beherrschen des Geräts und seine Handhabung beinhaltet. Dennoch sollte man den zweiten Aspekt nicht außer Acht lassen, die seelische Konditionierung. Schließlich gibt es so etwas wie Tötungshemmung im Menschen. Drill egalisiert die Soldaten in dem Sinne, dass die individuellen Regungen unterdrückt werden und der einzelne Soldat selbst wie eine Maschine funktioniert. Denken wir auch daran, was aus dem 1. Weltkrieg bekannt geworden ist: dass sich 1914 Gegner an der Front beim Weihnachtswaffenstillstand plötzlich fraternisierten. Menschen sind unzuverlässige Maschinen. Das ist auch einer der Gründe, warum nun Kampfroboter entwickelt werden. Deren kluge Konstruktion und sorgfältige Wartung ersetzt den Drill des menschlichen Soldaten.

Liebe Grüße
Arno Abendschön
 
Danke, liebe Petra, für die Zustimmung zu meinem noch recht schülerhaften Text. Er erschien zwischen schriftlichem und mündlichem Abitur im Mai '68. Ich hörte hintenherum von Widerspruch aus der Lehrerschaft. Weiter tat sich aber nichts und die Schulkameraden, die ihre Einberufung schon hatten und die ich, meinen Einfluss überschätzend, mit dem Artikel hatte beeinflussen wollen, bestiegen am 1. Juli doch alle die Sonderzüge vom Saarbrücker Hauptbahnhof zu ihren künftigen Kasernen. Ich fühlte mich mies. Der, an dem mir am meisten gelegen war, machte als Berufsoffizier Karriere und brachte es bis zum Oberst.

Liebe Grüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Guten Morgen, lieber Arno,

unsere Erinnerungen sind was sie sind - und diese Erlebnisse bauen an der inneren Architektur mit.

Mir fällt vor allem auf, wie sehr dieser junge Mann - ob nun von Tucholsky beeinflusst, oder nicht - sein Herz in den Text einfließen lässt. Man spürt ihn, seine Gefühle, sein Unverständnis für die aktuelle Politik, vielleicht sogar den Eifer, eine Art Weckruf zu senden - natürlich auch die rationale Herangehensweise.

Er ist mir sehr sympathisch und ich frage mich, ob die Abgeklärtheit des Alters nicht doch ein hoher Preis ist, wenn man sie nicht nur als Persona nach außen zeigt, sondern grundsätzlich die eigenen Empfindungen rationalisiert, oder gar verbirgt. Das will ich Dir jetzt nicht unterstellen, es sind nur Gedanken, die mir bei der Betrachtung von Schüler und Nestor gekommen sind - und eigentlich bestätige ich mir selbst, dass das Leben so lange lebenswert ist, wie wir Anteil nehmen und unsere Gefühle uns beeinflussen dürfen. Und da sind wir uns ja einig - sonst wären wir nicht hier.

Einen schönen Tag wünsche ich Dir!

Liebe Grüße
Petra
 
Ja, liebe Petra, in dieser Schlussfolgerung stimmen wir gewiss überein. Das Vorangegangene ist ein zu weites Feld, um es hier jetzt beackern zu können. Nur Stichworte dazu: der Unterschied zwischen Selbstbild und Fremdbild, Ermüdung im Lauf des Lebens, Konzentration auf Aufgaben, die man sich stellt ...

Zu dem, was du zu Beginn des dritten Absatzes formulierst, passt sehr gut, was ich gerade bei Elsbeth Wolffheim zur Vita Tschechows gelesen habe (rororo-Monographie). Er war persönlich ein extremes Beispiel für das, was du kritisch siehst - und welches Werk hat er hinterlassen! Ich denke nur, er konnte dieses bleibende Werk von hoher Qualität nur schaffen, indem er sich so gab und d.h. Empfindungen rationalisierte und vor allem auch verbarg. Nun sind wir gewiss nicht alle Tschechow, doch könnte es wohl sein, dass auch auf ganz anderen Gebieten ein ähnlicher Wirkungszusammenhang zwischen strikter Selbstkontrolle und produktivem Leben (Kreativität, Leistung) besteht.

Tschechow gegen Ende seines Lebens, mal selten offen in einem Brief: "Ich bin nur der Verwalter, nicht der Herr meines Lebens gewesen."

Dir ebenfalls einen schönen Montag!

Liebe Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

wir Menschen sind schon eine eigenartige Spezies. Die Talente - und der 'Output' - gehen einher mit dazu passenden Eigenschaften.

Kein Wunder, dass mir dieses Thema auffällt - denn ich selbst bin keinesfalls dieser strikten Selbstkontrolle fähig. Meine Inputstruktur gleicht da eher einer richtig großen Handtasche, in der immer mal wieder umgerührt wird, neues hinzukommt, immer aber auch Dinge entfernt werden, wenn sie 'abgearbeitet' sind.
Selbstkontrolle wende ich im Außen an (und kaum einer, der beruflich mit mir zu tun hat, würde vermuten, dass ich es inwendig liebe, das Chaos zu beherrschen, das sich durch eine potentiell ständige Inspirierbarkeit ergibt.)

Tschechow also. Ich muss mich wirklich mal langsam 'um die Russen kümmern'! Das ist ja sehr ineressant - diese Vorgehensweise - erinnert mich doch sehr stark an Joyce Carol Oates, die sich quasi nur im Zustand der Inspiration und Output bewegt. Sie kennt keine Wochenenden, Urlaube, Feiertage. Nur der stetige Strom ihrer Werke. Der durch das Schreiben strukturierte Tag, sonst nichts. Das wäre nichts für mich, aber ich kann es bewundern, zumal solche Werke dabei herauskommen!

Dann genieß mal den Sonnenschein!

Liebe Grüße
Petra
 
(11) 11. November 1989

Man kommt aus dem Augenreiben gar nicht mehr heraus. Jeden Morgen werden die Radionachrichten unglaublicher. Im Ergebnis hat sich in diesem Jahr `89 Europa stärker verändert als in achtunddreißig Jahren davor. Zwiespältiges Gefühl, das lebenslang Gewohnte in Stücke fallen zu sehen, auch wenn es überholt war seit langem. Nun also setzt Ost-Berlin auf die letzte Karte, opfert die Partei, um den Staat zu erhalten, wobei der Ausgang der Operation ungewiss ist. Der Jubel der Bevölkerung drüben ist nur zu verständlich – aber wir, haben wir auch Grund zum Jubeln? Die erkennbaren Vorteile für uns fallen schon viel weniger ins Gewicht als für die unmittelbar Betroffenen. Außerdem gibt die voraussichtliche Entwicklung zu denken. Der Schutt von vierzig Jahren wird wegzuräumen sein, der materielle Aufwand, mit dem wir uns zu beteiligen haben werden, wird spürbar werden. Schon mehren sich die falschen Töne. Voscherau sagt, man müsse unsere Bevölkerung daran gewöhnen, dass sie Opfer ohne Gegenleistung erbringen müsse. Genau das ist natürlich falsch. Keine Gesellschaft erbringt über längere Zeit materielle Opfer zugunsten einer anderen, ohne offen oder insgeheim anzunehmen, es sei ihr selbst nützlich. Natürlich ist die Wiedervereinigung in allen Hinterköpfen. Selbst die Gerassimow-Rede von gestern beschäftigt sich im Wesentlichen mit den polnischen, den übrigen Grenzen, die unantastbar bleiben müssten, falls es nur noch ein Deutschland geben wird.

Ich denke, es wird entweder eine offene oder eine verkappte Wiedervereinigung geben. Die Idee des Nationalstaates wird all ihren Verächtern zeigen, wie viel Kraft noch in ihr steckt. Die DDR aber wird im günstigsten Fall die Wahl haben zwischen dem freiwilligen Anschluss oder eine Existenz als Glacis, als Sonderwirtschaftszone. Denn für die hiesige Geschäftswelt wäre die Lösung nicht die schlechteste: die DDR politisch scheinbar autonom, wirtschaftlich aber abhängig. Sie wäre ständig auf Kosten des westlichen Steuerzahlers zu subventionieren, die Wirtschaft hätte ein Niedriglohnland vor der Tür, in dem sie massiv investieren kann und vor allem zollfrei ins Inland einführen darf. Die DDR wird alles ihrem Devisenhunger unterordnen und ihn doch nie befriedigen können. Die Leute in der DDR, sagte gestern einer dem Radioreporter ins Mikrofon, wollten arbeiten wie bisher und leben wie im Westen. Auch dieser unerfüllbare Wunsch wird vielleicht dazu führen, dass die DDR noch geraume Zeit als Fassade weiter bestehen wird. Freilich sind das alles nur Spekulationen. Was wünsche ich mir denn, nur aus der Perspektive meines eigenen Vorteils heraus: völlige Bewegungsfreiheit in Mitteleuropa, weitestgehende Angleichung der Lebensverhältnisse in all den Gebieten, die natürlicherweise zusammengehören. Das freie Reisen nach Sachsen und Thüringen wäre mir wichtig. Außerdem wäre es schön, noch eine Zeit erleben zu dürfen, wo der Alltag in Mitteleuropa so selbstverständlich geworden ist, dass nicht mehr überflüssige Grenzen und Probleme, die sich aus überlebten Strukturen oder ihren Rückständen ergeben, den Hauptteil der Politik und des Denkens bestimmen. Letztlich wäre der einheitliche Nationalstaat als Teil einer europäischen Föderation die sauberste Lösung. Aber die drüben müssten das auch so wollen. Die Alternative hieße: zahlen und streiten bis in alle Ewigkeit – um des Friedens und der Geschäfte willen.

Apropos Alternative: Jedes Grüppchen und jede Sekte projiziert ja jetzt die eigenen Utopien auf die DDR. Schon ist das da drüben eine deutsche Revolution gewesen. Man muss dann wohl den Akzent auf deutsch legen, damit man unter einer Revolution nicht mehr den gewaltsamen Umsturz, sondern ein Nachgeben und Zurückweichen einer Regierung verstehen kann, der die ausländische Unterstützung abhanden gekommen und ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung davongegangen und der der Unmut der restlichen deutlich bekundet worden ist. Eine deutsche Revolution eben. Insbesondere die Grünen baden in den wohligen Assoziationen, zu denen ihnen ihr basisdemokratisches Vorurteil verhilft. Für solche Vorstellungen gibt es freilich drüben keinerlei Basis. Wieder einmal zeigt sich, dass grün-alternativ nur heißt: idealistisch, unkritisch, unfruchtbar. Davon dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, haben sie offenbar noch nichts gehört. Das Sein wird so aussehen: Teilnahme am kapitalistischen Weltmarkt mit allen Konsequenzen und freier Verkehr von Personen und Meinungen. Das Bewusstsein: eine Mischung aus Identifikation und Furcht, Faszination eben. Die DDR-Gesellschaft wird eine sein, die nicht mit sich selbst identisch ist, genau das Gegenteil der grünen Phantastereien.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

ein einzigartiges Zeitzeugnis zur Morgenröte der Wiedervereinigung.

Ich lese gerade das Buch von Dirk Oschmann, das so viel Aufmerksamkeit bekam und ich werde wohl früher oder später eine Besprechung in meinem 'Was ich lese und gelesen habe' Faden aufnehmen. Aber das Thema liegt mir ja seit Jahrzehnten am Herzen und dadurch bin ich sehr aufmerksam.

DDR-Gesellschaft wird eine sein, die nicht mit sich selbst identisch ist,
Ein sehr klarsichtiger Satz - und wenn man denn hinsähe - auch für den Westen zutreffend, heute mehr denn je.

Ich werde diesen Beitrag sicher noch mehrmals lesen.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, liebe Petra, für das Interesse. Dieser Zeitabschnitt damals zwischen Herbst '89 und Herbst '90 bedeutete für mich persönlich auch einen Bruch im Weltverständnis. Ich begann mich zu fragen: Wenn jetzt eintreten kann, woran du nie gedacht hattest und was dir, von anderen vorhergesagt, einfach nur aberwitzig erschienen wäre - was kann dann noch alles geschehen? Es lief auf große Verunsicherung hinaus und auf permanentes kritisches Hinterfragen. Ich denke, wir erleben jetzt, gut drei Jahrzehnte später, wieder Ähnliches. Davon spürte ich auch etwas in Slavoj Zizeks Artikel dieser Tage in der Berliner Zeitung (über Gaza und die heraufziehende neue Weltordnung). Man fühlt sich ein wenig als Staubkorn ...

Liebe Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

das ist etwas Faszinierendes, dass wir so etwas wie die Weltordnung 'persönlich' nehmen können.

Mir ging es so in den Neunzigern in Deutschland, dass so viel falsch lief und verstärkt in den nachfolgenden zwanzig Jahren, wo denn die Werte hingekommen sind - nie waren sie so weit weg wie in den wertebasierten Ampeljahren.
Mittlerweile bin ich völlig desillusioniert, was nicht nur an Trump liegt, sondern an der Tatsache, dass ihn so viele Menschen für wählbar hielten, und das sich abzeichnende Chaos als angemessen begrüßen.
Auch Merz' steigende Zustimmungswerte aufgrund seiner Migrationspolitik ist doch ein Armutszeugnis für uns Bürger, dass wir selbst lieber die Armen gegen die Ärmeren ausspielen lassen, als hinzusehen, dass keine der Parteien eine Politik für die 'kleinen Leute' macht - und diese Gruppe absehbar immer größer werden wird.
Und was ich ihnen am übelsten nehme: Sie lassen einen an der (von ihnen dominierten) Demokratie (ver)zweifeln.

Nein, den Artikel von Zizek hatte ich noch nicht in den Fingern und wer weiß, ob ich dieses WE dazu komme. Ich arbeite seit heute wieder und habe so viele Idee und Pläne... aber als Staubkorn - habe ich mich eigentlich immer gefühlt, und als armes Würstchen, was ich immer noch besser finde, als sich für etwas Besseres zu halten, womit man in der Öffentlichkeit reüssieren kann.

Schönen Abend noch.

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Lieber Arno,
Ich antworte dir aus pamhylischen Gefilden, deshalb wird mein Kommentar kurz ausfallen. Es gibt für jene, die diese Zeit erlebt haben, eine Menge zu berichten und gerade für die, die wie ich, eine Wiedervereinigung mit der andere Hälfte der Familie, sofern noch lebend, zu verzeichnen hatten.
Meine Erinnerung hat starke Wurzeln an jenen Abend des Mauerfalls. Ich hatte Nachtschicht und da ab 23 Uhr der Flugbetrieb ruhte, hingen wir die ganze Nacht am Radio/TV.
Für mich war es weniger die Frage, ob und wie man das Land gestalten sollte, sondern einfach das Wiedervereinigen. Als Momper in seiner Ansprache sagte, wir seien jetzt die glücklichsten Menschen der Welt, da konnte ich mit großer Rührung wirklich zustimmen.
Alle Miesepeter, die heute den Osten als Dunkeldeutschland bezeichnen, würde ich gern mal für ein paar Jahre zur Ausnüchterung nach Nordkorea schicken! Aus der Geschichte sollte man lernen.


Wieder einmal zeigt sich, dass grün-alternativ nur heißt: idealistisch, unkritisch, unfruchtbar.
Danke für dieses Apercu! Zusammengefasst: Ideologie! Und da haben wir es wieder, die Geschichte wiederholt sich, aus hehren Absichten totalitäres Handeln. Keine Revolution von unten sondern diesmal als Planung von oben.
Das brauchen wir nicht, das kann wech!
Siehste, nun bin ich doch noch ein bisschen ausführlicher geworden.
Sonnige Meeresgrüsse,
John Wein
 
Danke, John, für die pamphylischen Grüße. Du hast es da jetzt sicher gut, hier ist es immer noch frostig. Und der "Wahlkampf" ist auch seltsam kühl lassend, ziemlich öde und den Fragen von Bedeutung meistens ausweichend.

Zurück zum Text. Da ist seit der Niederschrift nichts verändert worden. Heute würde ich in einem Rückblick das damals noch Offene, Spekulative weglassen und auch einiges weniger scharf formulieren, z.B. in dem von dir Zitierten aus dem Wörtchen "nur" ein "oft" machen. Nur dass es inzwischen krasser geworden ist und ich für heutige Verhältnisse daher statt "oft" dann "meistens" setzen würde.

Abgeklärte Grüße
Arno
 



 
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