(10) 18. August 1968
Der folgende Artikel, entstanden im Juni 1967 und veröffentlicht im Mai 1968, war der, zumindest vorläufig, letzte in unserer Schülerzeitung aus meiner Feder. Möglicherweise werde ich aber im September einen Aufsatz über den Dienst bei der Bundeswehr schreiben und ihn der Redaktion anbieten. Ich habe ohnehin versprochen, im September noch einmal nach *** zu fahren.
Gewidmet den Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1948/49
Deutschland – deine Driller
(Man hat ja noch niemals versucht, den Krieg ernsthaft zu bekämpfen. Man hat ja noch niemals alle Schulen und alle Kirchen, alle Kinos und alle Zeitungen für die Propaganda des Krieges gesperrt. – Kurt Tucholsky)
Bertelsmann hat im vorigen Jahr einen hervorragend ausgestatteten Bildband über Deutschland herausgebracht. Mit bunten Bildern, Graphiken und Statistiken ist nicht gespart worden, erfreulicherweise auch nicht mit Text. Im Bestreben, möglichst alle Bereiche bundesrepublikanischen Lebens zu erfassen, hat man auch das Militärwesen nicht vergessen, dem man acht großformatige Seiten gewidmet hat – gegenüber nur sechs Seiten „Rechtswesen“ und vier Seiten über das Schulwesen.
Was nun aber den Text über unsere Bundeswehr, speziell jenen über den „Drill“ angeht, so ist der dazu angetan, selbst wehrfreudige Nichtpazifisten nachdenklich zu stimmen – in Deutschland immerhin eine erstaunliche Leistung und umso verwunderlicher, als Bertelsmann nicht gerade im Rufe steht, ein pazifistischer oder linksgerichteter Verlag zu sein. Was lesen wir da auf Seite 409? Folgendes: „Die Hauptformen kämpferischen Einsatzes müssen nicht nur geübt, sondern ‚gedrillt’ werden. Die seelische Belastung des Kämpfers auf dem Schlachtfeld ist so groß, dass von ihm kaum ein überlegtes Handeln gefordert werden kann. Wer erst überlegen muss, wie er sich … verhalten … soll, ist verloren. Hier gibt es nur ein instinktives Handeln. Dazu aber muss das Verhalten im Kampf … so gedrillt werden, dass keine Überlegung mehr erforderlich ist. Dies gilt in erster Linie für diejenigen Soldaten, die den Kampfeseindrücken besonders ausgesetzt sind: denen, die im Nahkampf das Weiße im Auge des Gegners sehen.“
Nirgends wird ein vernichtenderes Urteil über den militärischen Drill gesprochen: Von Bertelsmann über den Sinn des Drills aufgeklärt, verstehen wir jetzt, wie die beiden Massenschlächtereien dieses Jahrhunderts, Weltkriege genannt, möglich waren; wie es möglich war, dass zivilisierte und einigermaßen vernünftige Menschen sich auf Befehl weniger wahnsinnig gewordener „Staatsmänner“ und Militärs zu Millionen umbrachten. Der Drill, der Drill! Er hatte es erreicht, dass all diesen friedlichen Menschen auf dem Schlachtfeld jedes „überlegte Handeln“ unmöglich geworden war, dass einzig noch das „instinktive Handeln“ diesen vergewaltigten Hirnen übrig geblieben war. Was heißt denn schon instinktives Handeln? Es heißt: Bring den um, auf den man dich hetzt, schalte Vernunft und Gefühl aus. Wenn du das Weiße im Auge des Gegners siehst, dann denke nicht daran, dass er ein Mensch ist, dem das ganze viehische Abschlachten genauso zuwider ist wie dir, denke überhaupt nicht, töte nur!
Drill ist nichts weiter als Ersatz für Überzeugung. Wo jede Kriegsbereitschaft fehlt und jede Einsicht, wo der Verstand keinen „Gegner“ anzuerkennen gewillt ist, da wird gedrillt, da wird die Vernunft vergewaltigt und die animalische Reaktion des Tötens eingeimpft. Warum haben sich denn die Partisanen und Guerillakrieger besetzter Länder, die meist nie Wehrdienst abgeleistet hatten und nie gedrillt worden waren, zu allen Zeiten so gut geschlagen? Weil sie Überzeugungen hatten.
Sollten den Staatsmännern der Großmächte morgen das Spiel mit dem Feuer über den Kopf wachsen, sollte den nervösen Militärs, die „losschlagen“ fordern, Gehör geschenkt werden, werden wieder – dann schon zum dritten Male – die Massen folgen und töten:
Gegen Vernunft, menschliches Gefühl und besseres Wissen
Ohne irgendeine Überzeugung
Aus Instinkt
Dank DRILL
Soweit jener Artikel, in dem Einflüsse Tucholskys unverkennbar sind. Unter ihm befand sich – sehr beziehungsreich – eine Karikatur des Bundesverteidigungsministers Gerhard Schröder im Stahlhelm. Aber es kam noch besser: Ich hatte nämlich noch eine von F*** D*** besorgte Statistik über die Kriege aller Zeiten hinzugefügt:
Seit dem Jahre 3600 v. Chr. hat es nur 229 Jahre des Friedens gegeben. Dagegen 14.513 größere und kleinere Kriege.
3.640.000.000 Menschen sind an Kriegen oder kriegsbedingten Krankheiten zugrunde gegangen. Seit 3600 v. Chr. ist jeder vierte Mensch direkt oder indirekt ein Opfer des Krieges geworden.
Die Kosten aller Kriegsschäden betragen etwa 500.000.000.000.000.000.000 Dollar. Das entspricht einem hundert Meilen breiten und dreißig Fuß dicken Goldband um den Äquator. – Soweit die „Aussagen“ eines Elektronengehirns.