Flucht über die Nordsee 0: Prolog

ahorn

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Die Segel werden gehisst

Der Tatendrang der Menschen, ihr tiefstes Verlangen, neue Ufer zu erobern, hat sie immer getrieben.
Ob beim Auszug aus Afrika, beim Überqueren der Weltmeere oder des lebensfeindlichen Vakuums zum Mond.



Anker eingeholt


Die Webervögel waren Zeugen

Joos flüchtete durch den Hinterausgang, hockte sich nieder und drückte seinen Oberkörper gegen die Bretterwand. Nachdem er sich vom Schreck des heimkehrenden Bewohners erholt hatte, lugte er um die Ecke der Hütte. Sein Weg war frei. Seinen Leihwagen hatte er abseits der Piste abgestellt, von der die Zufahrt zu Antons Hütte abging.
Gebückt schlich er um die Ecke, spähte beim Passieren durch die verdreckte Fensterscheibe.
Anton stöberte durch sein Reich, welches kaum größer war als die Fläche einer Standardgarage. Was machte er hier? Nach seinen Informationen musste Anton an einem anderen Ort sein. Deswegen hatte er es gewagt, seine Beute zu bergen.
Er schlich weiter bis zur Veranda, bückte sich und ergriff eine Holzschatulle. Zumindest hatte er seine Beute nicht mit in die Hütte genommen und gegebenenfalls in der Panik der Flucht vergessen. Was ging es ihm an, warum dieser Einsiedler, dieser versiffte Kerl, der sich ein Freund nannte, zu früh heimgekehrt war? Er hatte, was er wollte.

Ohne den Hausbesitzer eines weiteren Blickes zu würdigen, erreichte er Antons grünen Land Rover. Joos blickte in Richtung der ersten Schirmakazie, die mit ihren Partnerinnen eine Allee bildete. Er schaute sich ein letztes Mal um, woraufhin er sich auf den Weg machte. Nach drei Schritten blieb er stehen. Weiter kam er nicht.
Eine Frau erschien am anderen Ende der Zufahrt. Mit einem Hechtsprung versteckte er sich hinter Antons Geländewagen, wobei ihm die Schatulle aus der Hand glitt und über den sandigen Boden schlitterte.

Wie ein Soldat im Stechschritt, der unter dem Hemd eine Melone trug, kam sie näher. Keine Zeit für ihn, seine Beute in Sicherheit zu bringen.
Er kroch um den Wagen herum, hoffte darauf, nicht entdeckt zu werden. Die aparte Frau kannte er, hatte sie die ganzen Jahre beobachtet. Sie dagegen hatte ihn, nur einmal zu Gesicht bekommen. Dieses sollte so bleiben.
Er atmete auf, nachdem sie vorbeimarschiert war. Zu seinem Verwundern blieb sie stehen. Sie schritt zurück, schnappte sich die schuhkartongroße Schatulle und stampfte weiter bis zur Hütte. Innerhalb von Sekunden hatte er ein Problem, zwei Hindernisse.

Den Oberkörper nach vorn gebeugt, schlich er zur Veranda. Die Tür war angelehnt. Er erblickte Anton. Sie sah er nicht. Somit stand sie, wie er vermutete, dich neben der Türzarge.
Anton strich fahrig durch sein ockerfarbenes, lockiges Haar. Ein Sonnenstrahl erleuchtete seine grau melierte Schläfe, brach sich in den Schweißtropfen, die über sein gegerbtes Gesicht perlten. Er reckte seine behaarten Arme über den Kopf, zeigte seine kuchentellergroßen, mit gerissenen Schwielen überzogenen Handflächen. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und starrten förmlich ins Nichts.
Er trat einen Schritt zurück. „Mach dich nicht unglücklich!“
„Du bist es. Du bist das Schwein gewesen.“
„Nein!“, schrie Anton. „Er war auf einmal hier.“
„Wir sind allein. Die Schatulle!“
Sie kickte ihren nackten Fuß gegen die Kiste.
„Hat der Weihnachtsmann gebracht!“
Joos zog seine Augenbrauen zusammen, versuchte, soweit die Situation es ihm zuließ, sich zu konzentrieren, zu erinnern. Die ersten Bilder waren noch unscharf, dann war er wieder im damaligen Geschehen.
Er konnte schwören, dass er vor dem Betreten des Bunkers die Schatulle in seinen Kofferraum verwahrt hatte. Erst danach hatte er Klara geborgen, sie anschließend auf die Rückbank gelegt. Damit war es unmöglich, dass sie die Schatulle erkannt hatte. Sie war bewusstlos gewesen.
Die Hand am Genick wandte er sich, ohne dass sie ihn sehen konnten, erneut dem Gespräch in der Hütte zu. Eventuell erfuhr er, woher sie es wusste.

Anton entgegnete mit zitternder Stimme: „Ich weiß nicht, was du meinst“, dabei tastete sein Fuß nach hinten. „Denk an dein Kind.“
„Ich wollte das Kind nie haben!“
„Lass uns fahren.“ Anton senkte den rechten Arm. „Du musst in die Klinik.“
„Warum hast du mich dann nicht wie verabredet abgeholt?“
Anton schüttelte seinen massigen Schädel. „Der Kühler war wieder defekt. Ich bin zurück.“
„Lüge nicht! Ich habe ihn letzten Monat geschweißt. Verrecken wolltest du mich lassen.“ Sie stockte. „Wie damals.“
„Ich liebe dich“, gab Anton kund, gleichzeitig zuckte seine linke Wange.
„Abhauen!“ Sie spuckte auf den Boden. „Die Kiste lag neben dem Land Rover.“ Sie stellte ihren zierlichen Fuß auf die Schatulle. „Deinen Blutzoll nicht vergessen. Meine Mutter hast du schon vertrieben.“
Joos schlug sich an die Stirn. Das Wort Mutter hatte ihn wachgerüttelt. Bevor er Klara befreit hatte, hatte er die Örtlichkeit observiert, seinen Volvo hinter einer Dünne geparkt. Es war somit möglich gewesen, dass seine Tochter, ehe er sie ins Land der Träume geschickt hatte, den Wagen gesehen und die Schatulle erkannt hatte. Denn ihr hatte er sie gezeigt, die Geschichte dazu erzählt. Der nächste Schritt war plausibel, Klara und sie waren Freundinnen. Glaubte er jedenfalls unzweifelhaft bis zu diesem Moment.

Anton schritt auf Klara zu und lenkte damit seine Aufmerksamkeit erneut auf die Anwesenden.
„Wir haben uns nicht mehr verstanden.“
Die Mündung einer zweiläufigen Schrotflinte erschien, direkt auf Anton gerichtet, in seinem Blickfeld. Diese Wendung sollte die Geschichte nicht einschlagen. Zumindest hätte sich ein Problem für ihn gelöst. Sie traf eine Kobra in einem Abstand von hundert Metern zwischen deren Augen.
„Hereingehen! Sie überzeugen?“, murmelte Joos und zupfte an seiner Oberlippe. Er schüttelte den Kopf. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte, trieb ihren Schädel durch die Wand, machte keine Gefangene und, genauso sarkastisch wie es klang, schritt über Leichen.
„Hineinstürmen, den Lauf erfassen?“, brummelte er, bei der Entfernung das Todesurteil für Anton.
Joos sah sich um, erblickte den Spaten, mit dem er zuvor die Holzdiele aus der Veranda gebrochen hatte.
Den Spaten über seinen Schädel, zwängte er seinen Oberkörper durch den Türspalt, zwinkerte Anton zu. Der glotze ihn an, richtete seinen Arm auf ihn.
Der Zeigefinger von Klara näherte sich dem Abzug. Keine Zeit, mehr zu zögern. Sein Arm schnellte vor und der Spaten sauste auf den Kopf der Schwangeren. Woraufhin sie vor Anton den Holzdielen entgegenstürzte und der Donner eines Schusses durch die Luft bebte. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall schlug durch den Raum.
Die Wucht des Aufpralls der Schrotkörner schleuderte Antons Körper zu Boden und Blut quoll aus seiner Schulter.

Joos blickte um sich. Die Schatulle! Er schnappte sie und rannte heraus. Raus aus der Hütte.
An Antons Land Rovers angekommen warf er die Beute auf die Ladefläche, schritt zur Fahrerseite, blieb stehen, senkte sein Haupt, schüttelte es. Hatte er sie nicht schon einmal ohne Hilfe ihrem Schicksal überlassen. Er kehrte um.
Zurück in der Hütte trat er an Antons Körper, kniete sich nieder. Seine Fingerspitzen betasteten den leblosen Schädel, berührten die klaffende Wunde an der Schulter. Der Kerl hatte Glück, unter Umständen später Probleme, aber sterben würde er nicht.
Er wedelte mit der Hand vor der eigenen Nase. Wenigstens würde er sich an nichts erinnern. Die Fahne flatterte ihm meterweit voraus. Dabei trank Anton nie, zumindest nicht um diese Uhrzeit.
Er erhob sich, verzog sein Gesicht und schmetterte den rechten Fuß an Antons rechtes Bein. „Vollidiot!“

Dann wandte er sich Klara zu, die reglos auf den Dielen lag. Mit blutbefleckten Fingern drehte er die Schwangere auf den Rücken. Sein Atem röchelte. Er legte einen Arm unter ihr Genick, den anderen unterhalb ihrer Knie. Sodann stemmte er sie in die Höhe.
Er trug sie aus dem Haus. Geradewegs stampfte er zu Antons grünen Geländewagen. Mit einem Finger öffnete er die Beifahrertür, platzierte den schlaffen Körper auf den Sitz. Den Oberkörper gebeugt, schnappte er nach Luft, fischte eine schwarze Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Hemdes, setzte sie auf und schlug die Autotür zu.
Mit ausladenden Schritten rannte er um den Wagen, sprang auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend, raste er über die sandige Zufahrt.

Abermals hörte er das diesmal vom Motorlärm gedämpfte Schmettern eines Schusses, woraufhin ein Schwarm Webervögel aus der Krone einer Akazie aufstieg und ihm, Joos, entgegenflog.



Im Süden Afrikas

Er löste sich aus seinem Schwarm, kreiste, während seine Artgenossen sich wieder in der Krone der Akazie einfanden. Er beobachtete sie, betrachtete die Landschaft untere seinen Flügeln.
Ein Mensch, ein Männchen rannte in einem schwarzen Gewand gehüllte aus dem Menschennest. Er trug einen Donnerstab unter einer seiner Schwingen und eilte durch das Buschwerk. Nachdem er in ein laufendes zitronengelbes Nest gesprungen war, heulte dieses und bewegte sich mit dem Männchen, dem anderen grünen Nest hinterher, davon.

Er ließ die Welt unter sich, stieg in einem Aufwind empor, bis der Schleier des Himmels in aufnahm. Der Vogel genoss seine Freiheit und die weite Landschaft unter seinen Schwingen.
Ermattet von seinem Ausflug, stieg er ab, setzte sich auf einen Mast und richtete seinen Schnabel gen eines weißen Menschennestes.
Ein Mensch, ein Weibchen, eine Frau in einem hellblauen Kleid, mit kalkweißer Schürze, einer Haube auf ihrem gelockten, schwarzen Haar hetzte über die hölzerne Veranda des kalkig, getünchten Gebäudes. Sie drückte ihr Becken an das Geländer, legte eine Hand flach an ihre Augenbrauen, sah nach rechts, nach links, drehte sich um, verschwand im Haus.
Ein Herr mit sandfarbenem Hemd, gleichfarbiger Hose trat auf die Veranda. Die Schwarzhaarige folgte ihm.
Sie presste die Hände an ihre kaffeebraunen faltigen Wangen. „Doc, wo bleibt der Simon?“
Er hob den Kopf, hielt seine Hakennase in den Wind. „Wenn er überhaupt durchkommt.“ Er stöhnte und zeigte den Hang hinab. „Beth, das Feuer kommt näher!“ Er griff mit beiden Händen in sein kurz abgeschorenes hellbraunes Haar, das an den Ohren silbrig glänzte. „Ein derart heftiges Buschfeuer habe ich seit Jahren nicht mehr erlebt.“ Die schmächtigen Arme ausgebreitet, schaute er sie an. „Wenn es die Hauptstraße erreicht, dann ist ein Durchkommen unmöglich.“
Sie bedeckte erneut ihr Gesicht, wackelte mit dem Kopf und schlich ins Haus. Er schloss seine Augen, atmete tief ein, folgte ihr mit einer auf der hohen Stirn gelegten Hand.

Der Vogel flatterte von Mast. Er pickte eine Spinne aus dem Sand und verspeiste diese. Gestärkt von der Mahlzeit, breitete er seine Flügel aus.
Eine Böe unterstützte seinen Start, worauf er zügig an Höhe gewann und in einen Aufwind einkreiste. Er genoss seine Freiheit, seine Einsamkeit, sowie die weite Landschaft unter seinen Schwingen. Die Welt zu erforschen, nahm er sich vor. Für ihn fremde Kontinente zu entdecken, die Welt der Menschen zu erkunden, jene er nicht verstand.



Buschfeuer
Klara lag weiterhin bewusstlos auf dem Beifahrersitz. Die fünfzig Kilometer von Lesotho herunter, die Stunde Fahrzeit über die Piste, hatte sie mit keiner Wimper gezuckt. Nicht einmal die Schlaglöcher ließen sie erwachen. Schlafend wie Schneewittchen lag sie da, wie dereinst, nur dass sie keine weißen Dessous, stattdessen ein knöchellanges rapsgelbes Kleid mit Blütenmuster trug, und ihr Bauch nicht jungfräulich flach, sondern gewölbt war.
Sein grüner Geländewagen, zerrte eine Staubwolke hinter sich her, als er vor dem Holzhaus hielt. Er sprang aus dem Gefährt und ein kräftiger Windzug trieb Sand durch sein kurzes blauschwarzes Haar. Mit einer Hand die Augen bedeckt, marschierte er um das Fahrzeug herum. Er öffnete die Beifahrertür, stemmte die bewusstlose Frau auf seine Arme und wandte sein Gesicht dem Haus zu.
Doc trat auf die Veranda. „Was willst du hier?“, brüllte er ihm entgegen, stampfte auf ihn zu, untersuchte die Schwangere, füllte ihren Puls. „Sie ist ohnmächtig“, diagnostizierte er. „Wir bringen sie rein. Beth muss sich um sie kümmern.“

Ein paar Wimpernschläge später verließ Joos das weiß getünchte Haus wieder. Er trug eine Krankentrage an einem und sah den Rücken von Doc, der die Griffe am anderen Ende umfasste. Er stöhnte unter der für ihn ungewohnten Last.
„Vom Baum ist sie gefallen?“
„Quatsch. Ich dachte, du hättest es gleich gesehen“, empörte sich Doc. „Eine Kapkobra hat sie gebissen!“
„Du bist Arzt! Hast du kein Serum?“
Doc rollte mit den Augen. „Dann hätte ich es ihr gegeben!“
Zusammen mit Doc wuchtete er die Trage auf die Ladefläche des Geländewagens.
Joos wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wo ist euer Krankenwagen?“,
„Kerl“, zischte der Arzt. „Kannst du aufhören, dumme Fragen zu stellen!“ Er sprang auf die Ladefläche. „Der Sanitätswagen hat einen Motorschaden und Simon ist mit dem Golf zur Notfallzentrale Serum besorgen“, gab Doc ihm entrüstet zu verstehen und versuchte die Trage zu befestigen.
„Doc. Wir fahren ihm entgegen.“
„Wir? Sag du mir vielmehr, warum du mit Antons Land Rover hier auftauchst und nicht er, wie verabredet.“
Joos faste sich ans Genick und senkte den Blick. „Er ist unabkömmlich.“
In einem kurzen Augenblick der Stille vernahm er das Schreien eines Babys.
„Vergiss es“, zischte Doc und deutete die Einfahrt herunter. „Wenn Simon durch den Brand durchgekommen wäre, wäre er längst hier. Vor zwei Stunden war das Feuer nahe am Zedernwald, wenn der brennt, gibt es keinen Weg mehr ins Tal.“
Joos sah sich um, wandte erneut sein Gesicht dem Gebäude zu.

Eine junge Frau, welche der Schwangeren in ihrer Statur zum Verwechseln ähnelte, erschien an einer Hausecke. Er erkannte sie. Stets, wenn er sie in den Bergen beäugte, trug sie wie Beth ein hellblauen Kleid.
Sie zupfte an ihrer blütenweißen Schürze und winkte dem Arzt zu. „Wartet, ich komme mit!“
„Bleib bei dem Kind! Die Fahrt wird zu gefährlich.“
„Alles gut. Mir geht es gut. Ich bin fit.“ Sie sah zum Gebäude. „Beth ist da! Und ich kenne keine Angst.“
„Nein!“
„Außerdem ist Tita da.“
„Die ist schon weg“, erklärte Doc.
„Bitte?“
Doc schüttelte den Kopf. „In Ordnung. Du musst wissen, was du tust. Jeh rinn! Bring de glaan Ledertäsch!“ Er deutete den Weg entlang, auf dem Joos gekommen war. „Wir müssen rauf nach Lesotho. Gleich hinter der Grenze wohnt ein Medizinmann.“
Joos strich über den Bügel seiner Sonnenbrille. Doc war ein begnadeter Arzt, eine Koryphäe seines Faches, dagegen menschlich ein Arschloch. Nach zwei Whiskey bezeichnet er sich eher als Veterinär als Humanmediziner. Doc begründete seine verschrobene Logik damit, dass ein Tierpfleger oder Landwirt auch alles für ihre Tiere unternehmen, ohne mit ihnen in inniger Freundschaft zu verschmelzen. Bei diesen Äußerungen zuckte immer sein Arm und seine Faust wünschte sich, Docs Nasenbein zu zertrümmern. Trotzdem half er Doc, wo er konnte, denn dieses war ein Fakt der Ödnis. Ein rassistischer Arzt war fraglos besser als keiner.
„Der alte Tom, wie soll dieser Quacksalber ihr helfen.“
Die verschwitzte Stirn gerunzelt, hob Doc die Schultern. „Alt ja. Verschroben okay.“ Er grinste. „Keineswegs bekloppt. Er hat Serum.“ Er wandte sich ab. „Vertraue mir!“
„Dir soll ich vertrauen, auf dich kann man nicht bauen“, schrie er Doc an und marschierte zur Fahrertür.
„Das musst du sagen“, wieherte es von der Ladefläche.

Die junge Frau im hellblauen Kleid hüpfte die hölzerne Treppe des Hauses hinab. Sie rannte zum Wagen. Mit der Linken bändigte sie ihre Haare mit einem Haargummi, die wie eine Fahne im Wind flatterten. Joos öffnete die Fahrertür. Sie sprang auf den Beifahrersitz. Ohne sich zu ihm umzusehen, setzte sie sich eine Sonnenbrille mit übergroßen Gläsern auf die Nase und wandte ihr Gesicht gen Beifahrerfenster.
„Schnall dich an!“, schrie Doc von der Ladefläche. „Der Idiot hat einen rasanten Fahrstil“.
Joos kletterte auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch und er raste mit seiner Fracht davon.



Kinderspiel

Wie ein auf seinen Prüfer wartender Pennäler schlich er die Straße auf und ab. Er wollte sich endlich Gewissheit verschaffen. Jedes Mal, wenn seine Tochter von dem Thema anfing, hatte er sie für verrückt erklärt. Ganz sauber im Kopf war sie nie gewesen. Wie ihre Mutter lebte sie oft in ihrer eigenen Welt, verbog die Realität, bis ihr diese passte.
Er griff in seine rechte Hosentasche, entnahm dieser ein Klappmesser, zog aus der Linken einen Apfel, klappte das Messer auf, schnitt ein Stück vom Apfel ab und steckte diesen in seinen Mund.
Es war alles absurd. Mehrmals geprüft hatte er die Fakten, aber keine Gegensätze, keinen Schwindel entdeckt. Einmal hatte er sie gesehen. Sie war nicht mehr wie früher, älter, gereifter. Kein Grund, ihr etwas anzudichten. Komisch, merkwürdig, mitunter schräg, unkonventionell erschien sie ihm. Allerdings war dieses ihre Sache.
Die Andeutungen des betrunkenen Alten, den er mit Vergnügen hinter Gittern gesehen hätte, brachten ihm kein Deut weiter.
Er schlug mehrmals an seine Stirn. Unerfahren war er gewesen. Verwickelte sich selbst ins Netz. Geschichte! Vergessen! Ihm zu trauen, wäre wie einem hungrigen Löwen einen Zahn zu ziehen.
Sogar an den Ort des Geschehens war er gereist. Die Papiere, welche er eingesehen hatte, bestanden jeder Prüfung. Indes die Gerüchte trieben ihn weiter. Die eine ihm zweifelnde Spur lockte ihn. Erneut eine Verrückte, in der er sich verliebt hatte. Er zog diese Frauen an. Dabei witterte er, dass sie keine Mörderin war. Seine mehrjährige Erfahrung und seine Annahme zu wissen, wer damals der Täter war, untermauerten sein Gefühl. Trotzdem war sie irrsinnig. Getrieben von dem Wahn, jemand anders zu sein. Er ließ sie aus Liebe in ihrem Glauben.
Die endlosen Verhöre, die jahrelange Haft zermürbten jeden, ob schuldig oder unschuldig. Erst recht, als einzige Weiße in einem afrikanischen Kerker. Er brauchte ihre Erklärungen nicht, um sich vorzustellen, was sie mit ihr angestellt hatten.
Es war ein Unrechtsstaat, in dem zuvor diese von Apartheid getriebene Über-Rasse die angestammte Bevölkerung ausgebeutet, unterdrückt und versklavt hatte. Er verstand ihre Rache.

Joos blieb vor dem prunkvollen Portikus eines Hauses stehen.
Wie oft war er früher durch den Eingang geschritten, erinnerte er sich. Wieder ein Zufall. Nein! Ursache - Wirkung. Stände er vor einem anderen Gebäude, würde er sich darüber keinen Gedanken machen.
Er sah vor seinem inneren Auge die stuckverzierten Decken, hörte die knarrenden Dielen unter seinen Füßen und roch den modrigen Dunst, der vergilbten Tapete. Er ballte die Hände. Die schnarrende Stimme der missliebigen Schwiegermutter hallte in seinem Gehirn. Dem grässlichen Weib, das seine Ehe zerstört hatte. Ihn als Fremden gehasst und verabscheut hatte.
Er zog einen Brief aus der Jacketttasche. Lesen, brauchte er ihn nicht, er kannte ihn auswendig, trotzdem faltete er ihn auf und starrte auf die Schrift.
„Misch dich nicht ein“, murmelte er. Es war ein Teil seines Lebens und in dieses sollte er sich nicht einmischen. „Ich hole mein, werd immer der Beschützer sein“, flüsterte er.
Er verabscheute miserable Reime, zeigten sie ihm, wie krank das Gehirn des Schreibers war, dennoch beunruhigte ihm der Inhalt. Was zwischen den Zeilen stand, war wichtiger als die Worte, die auf dem Papier standen.
Hatte er die ganzen Jahre falschgelegen? Die ersten neuen Indizien wissen daraufhin. Es war ein Kinderstreich gewesen. Warum dann der Brief? Er erahnte den wahren Kern. War er ein Spielball von fiebrigen Gehirnen, eher Opfer als Täter? Die Vorkommnisse gelenkt. Er war ein Ermittler, ein Genie seines Faches, weder Lamm noch Schurke.

Ein schmächtiger blonder Junge, schleppte, gebückt unter der Last eines Ranzens, seine dünnen Beine über den Bürgersteig. Den Kopf gesenkt, erreichte er den Hauseingang, schloss auf und betrat das Gebäude.
Joos ergriff die Gunst der Stunde, warf den Rest des Apfels in die Gosse und schlüpfte ins Haus, um sich erst einmal zu verstecken. Den richtigen Zeitpunkt zu wählen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dann? Er wünschte sich, dass die Beweise negativ waren, damit er sein Leben in der bisherigen Bahn weiterführen konnte.
Er hoffte, der Brief war ein Streich. Wenn nicht? Wenn alles den Tatsachen entsprach? Entweder er nahm wie damals die Tat unter den Mantel des Stillschweigens, oder? Er wischte die Klinge des Klappmessers am Ärmel seines Jacketts ab. Oder!



Das Kleid

tack … tack, tack, tack … tack … tack, tack, tack. Das Rattern einer Nähmaschine erfüllte den seelenlosen Hausflur eines Gründerzeithauses. Die Schallwellen brachen an hüfthoch, giftgrün gefliesten Wänden. Es schien, als drang das Geräusch, das Hämmern der Maschine aus einer Wohnung im zweiten Obergeschoss, tack … tack, tack, tack … tack … tack, tack, tack. Er wusste, dass er nur diesem Lockruf folgen musste. Das Messer, welches er zuvor geschärft hatte, fest mit seiner Hand umklammernd, schlich er die steinerne Treppe herauf. Es war nicht das erste Mal, dass er sie bestieg. Er kannte sein Ziel. Eine von den Wohnungen, mit geräumig hohen Zimmern und mit Stuckornamenten verzierten Decken, in deren Ecken gerne Spinnen ihre Nester bauten.
Das Schlagen der alten Nähmaschine setzte die Luft in der Diele dieser Wohnung in Schwingung, sodass die weißen Holztüren der Wohnung vibrierten, tack … tack, tack, tack … tack … tack, tack, tack.
Obwohl durch die geöffnete Küchentür die Strahlen der Frühlingssonne fielen, blieb die fensterlose Diele in einem Halbdunkel, welches nicht zum Verweilen einlud.
Sein Vorhaben zwang ihn, den Ort der kommenden Tat zu betreten. Er wollte dem Jungen keine Schmerzen zufügen. Er war kein Mörder. Ein Draufgänger, ein Tunichtgut, ein skrupelloser Hochstapler, das war er. Hatte er eine andere Wahl? Nein! Der Plan der Nichte seiner Geliebten würde ihn nicht zum Mörder machen, aber ein Täter würde er bleiben und sein Opfer für immer Zeuge seiner Tat.
Tack … tack, tack, tack … tack … tack, tack, tack erklang es wieder aus dem Raum, in dem die Nähmaschine zu stehen schien. Das Schlagen verschmolz mit den Schallwellen einer Frauenstimme, die den Namen eines Jungen krächzte.
Der Leichensack ist fertig, dachte er, während seine Hand zitterte. Er würde ihr folgen, sich an ihr vorbeischleichen und ihren Neffen den tödlichen Stich geben.
Die Frau wechselte ihre Stimmlage. Aus dem anfänglichen Krähen wurde ein Schrei.
Das Schlagen verstummte. Eine Tür zum Flur flog auf. Eine grauhaarige, buckelige Frau in einem bodenlangen rattengrauen Gewand trat in die Diele. Ihr langes, zu einem Dutt geknüpftes Haar schimmerte im fahlen Licht, während sie durch den Flur stampfte. Bei jedem Schritt knackten die hölzernen Dielen, als wollten sie die Alte begleiten. Das Flehen des Bodens verstummte im selben Moment, als sie die Zimmertür des anliegenden Raumes erreichte und stehen blieb. Ihre blutroten Fingerspitzen umschlangen den Knauf der Tür. Sie öffnete die sich wehrende Tür und ihr Kopf lugte durch den Spalt. Ihre flehende Stimme …


„Toni!“, dröhnte es durch den Flur in das Kinderzimmer.
Er hasste es, wenn sie ihn so rief. Torben war sein Name, ihre Ignoranz, ärgerte ihn, ließ sein Blut brodeln. Denn niemand, nicht einmal sie konnte, ihn beherrschen. Niemand, aber auch niemand, vermochte überhaupt jemanden zu lenken. Vier Moleküle steuerten alles, was lebte: Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin. Ihre Reihenfolge, ihre Sequenzen befahlen, was man war, wer man war. Nicht die Eltern, die Erziehungen, gar die Gesellschaft, sondern einzig und allein vier Moleküle, gaben es vor und niemand, nicht einmal er, waren in der Lage auszubrechen. Wenngleich, manchmal, selten, wenn er tief in sich hörte, etwas anders vernahm: ein Flehen, ein leises Flehen.
Er versteckte das Buch unter einer auf seinem Schreibtisch liegenden Mappe.
„Mensch! Hörst du mich nicht?“, donnerte die kräftige Frauenstimme.

Ihn als normales Kind zu bezeichnen, hätte ihn beleidigt. Er war stolz darauf, anders zu sein. Gerne grenzte er sich von allen, erst recht von seinen Mitschülern, ab. Den schreienden Jungen, die wild einem Ball hinterherliefen. Ihre Freunde in den Schwitzkasten nahmen, bis sie mit hochroten Kopf zusammensackten. Er brauchte sie nicht, nicht die blauen Flecke, wenn er es versuchte, ihnen näherzukommen.
Mit stechendem Blick wehrte er jedem Spickversuch eines Mädchens ab. Dann umklammerte, schützte, er sein Wissen vor diesen nicht wissenden Eindringlingen.
Meist saß er allein, mit erhobenem Kopf, der Genialität, die er besaß, bewusst, lauschte den Ausführungen der Lehrkräfte und half ihm beim Versagen der unfähigen Schüler.
Er hatte wahre Gefährten, die ihn in verstanden, die mit ihm sprachen, egal an welchen Ort, gleichgültig zu welcher Stunde.
Die Bücher, die Literatur der Welt, die ihn abholte, ja ihn gefangen nahm. Er las alles, sogar Kochrezepte oder Handarbeitsanleitungen seiner Tante, wenn ihm keine anspruchsvolle Lektüre zur Verfügung stand.
Am liebsten las er Kurzgeschichten, manchmal Novellen, die er aus Sammlungen kopierte und auf dem Smartphone speicherte. Damit er sie jederzeit griffbereit hatte, um in ihnen zu schmökern, bis er in der Lage war, sie zu rezitieren.
Ein Umstand, der ihm in der Schule den Spitznamen Cicero eingebracht hatte, von dem geschrieben stand, er wandelte nachts durch Rom, um seine Plädoyers einzustudieren.
Wie dieser geniale Politiker, Anwalt und Philosoph murmelte er die Texte, einzig unterbrochen vom Kauen seiner Lieblingsspeise Streuselkuchen, aus dem Mund. Nur, dass er nicht wandelte, sondern schlich.

Er strich sein currygelbes Haar zurück, das sein Kinn umspielte und gab dabei vor, das Arbeitsblatt auf seinem Schreibtisch zu studieren.

Bärbel betrat den Raum und stützte ihre Fäuste in die Taille. „Toni!“
Er zupfte an seinem Ohrläppchen und betrachtete den Eindringling. Für ihn war sie alt, sehr alt, hatte, wie er von seinen Dichtern erfuhr, die Blütezeit ihres Lebens überschritten. Sie ruhte, ihren Künsten bewusst, mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Denn sie konzentrierte sich auf das Wesentliche und lehnte ab, was sie für Träumereien hielt.
Sie hatte ihre Prinzipien, die oft im Widerspruch zu ihren Glauben standen. Die herrschsüchtigen Ansprüche, gepaart mit ihrer Milde, hatten ihr den Beinamen Admiral eingebracht. Eingebracht? Er amüsierte sich über seine Gedanken. Übergestülpt hatte er ihr diesen Namen, wie einen Blecheimer über dem Kopf, in dem man seine eigene Stimme vernimmt, als käme sie von jemanden anders. Denn sie war ein Admiral, lenkte ihre Flotte ohne Widerstreit, dennoch mit Seele, um ihre Schlacht zu gewinnen.

„Ja!“ Er sengte den Kopf.
Sie schritt auf ihn zu. „Schau mich an, wenn ich mit dir spreche.“
Er wandte sich ihr zu, sah in ihre Richtung, knetete seine zierlichen Finger, füllte sich klein, versuchte, ihr etwas Aufmunterndes zu sagen. „Tante, du siehst nicht gut aus“, murmelte er, wich, obwohl er sie weiterhin musterte, ihrem stechenden Blick aus.
Wie sie die faltigen Hände an ihre Rippen drückte, ihren Kopf mit verzerrtem Gesicht von einer auf die andere Schulter schwang, machte ihm Angst. Allerdings als sie ihr linkes Auge schlossen, dabei ihren dürren Hals verdrehte, sich eine Strähne ihres gewellten kastanienbraunen Haars von der eingefallenen Wange strich und diese hinter das Ohr klemmte, amüsierte ihn. Belustige ihn nicht, da sie es tat, sondern, weil es sowieso nichts brachte, denn wären ihre Haare grau, dieses waren sie von Natura, fast weiß, hätte sie von ihrer Frisur her, mit Albert Einstein auf einer Ebene gestanden. Von der Frisur her, nicht mehr, dachte er sich gerade, als sie stöhnte.

„Sitzt du mehrere Nächte vor der Nähmaschine“ Sie reckte ihre hageren Arme in die Höhe, verschränkte sie am Genick, bis die schlaffe Haut ihres Oberarms, wie das Tuch einer Fahne flatterte. Sie stöhnte.
„Ich habe einen krummen Rücken. Du wolltest mir doch helfen?“
Er schielte zum Schreibtisch, zog seine dünnen Beine heran, überkreuzte diese unter seinen Drehstuhl und rieb sich die Hände. „Ich muss … lernen.“
(*OB**OB*)Bärbel marschierte auf ihn zu, zog das Buch unter der Mappe hervor, betrachtete den Einband, auf dem ein blutverschmiertes Messer prangte.
„Kind“, zürnte sie, dann schlug sie auf den Buchdeckel, „kannst du nicht etwas anderes lesen?“ Sie warf das Buch auf den Schreibtisch, stemmte die Hände an ihre gepolsterte Taille, atmete tief ein. Wie ein Ballon, dessen Knoten aufspringt, entwich die Luft aus ihren Lungen. „Hanni und Nanni“, sie lächelte und strich über sein curryfarbenes Haar, „hat deiner immer Schwester gefallen.“
Toni verdrehte seine Augen.
„Oder Die drei Fragezeichen, das sind herrliche Krimis.“
Seine schmächtigen Schultern sanken hinab und er spitzte die Zunge. „Tante, das ist Kinderkram!“
„Mein Liebling.“ Sie drohte mit ihrem knochigen Zeigefinger, pumpte sich abermals auf. „Du bist erst zwölf!“
„Fast dreizehn.“
„Dann lies Liebesroman“, zischte sie und presste ihr breites Kinn auf den faltigen Hals, „da fließt kein Blut und niemanden wird der Kopf abgerissen.“
Er öffnete seinen Mund, als wolle er sein Frühstück hervorwürgen.
Bärbel stupste seinen Hinterkopf an. „Benimm dich und komm mit!“
Er stand auf, folgte ihr mit gesenktem Blick. Kurz vor dem Verlassen des Zimmers zwinkerte er einem Foto zu. Ein Bild von einem Segelboot, auf dessen Deck er mit geschwollener Brust stand.
„Morgen kommt deine Schwester“, sang Bärbel eher, als dass sie es sprach, regte die Arme wie ein Apfelpflücker. „Bis dahin müssen wir unbedingt fertig sein.“ Sie blieb stehen, wandte ihm das Gesicht zu. „Wir haben es ihr versprochen.“
Dabei betonte sie das ‚wir‘ in einer Tonlage, als hätte er ein Versprechen abgegeben. Er erinnerte sich nicht an eine derartige Beteuerung.

Sie beraten den Raum, in dem die Nähmaschine stand. Sie wies ihn an, seines Jogginganzugs auszuziehen.
Er knurrte: „Muss das sein!“
Bärbel verschränkte ihre Arme vor ihrer ausladenden Brust, daraufhin schloss sie ihre opalgrünen Augen und lies ihre schmalen Lippen hängen. „Stell dich nicht an. In unserer Wohnung beobachten dich niemand und außerdem …“.
Toni sackte zusammen „… kann ich besser an einem Menschen, als an einer Schneiderpuppe … bla, bla.“
Sie erhob ihre Hand. „Wird nicht frech! Sei still! Stell dich bitte dort darauf und zappel nicht.“
Er stellte sich auf eine Kiste. Sie streifte ihm einen schweren, seidig-glänzenden Rock über seine zierlichen Beine. Er faste an den Bund. Sie ergriff das zugehörige Oberteil, zog es ihm über den Kopf, befestigte es mit Stecknadeln am Unterteil.
„Na mein Schatz, hat es wehgetan.“ Sie grinste und betrachtete ihr Werk. „Meine Tanja wird begeistert sein.“

Das Brautkleid war für seine Schwester. Schneidern war Bärbels Leidenschaft. Sie hatte den Beruf erlernt, zumindest hatte sie ihm das erzählt. Gearbeitet hatte sie nie als Schneiderin, wenn man von den vielen Stunden absah, die sie für Bekannte, Freunde und die Familie ihrem Hobby nachging. Was sie nach ihren Lehrjahren unternommen hatte, gab sie nicht preis. Sie erzählte nie von früher. Weil damals die Welt in Ordnung war, bis das Unglück über sie kam.
Er konnte nicht einmal sagen, ob er das Elend, oder der Autounfall, bei dem seine Eltern kurz nach seiner Geburt gestorben waren, war. Tante Bärbel, die Zwillingsschwester von seiner Mutter, übernahm daraufhin die Pflegschaft. Sie hatte keine eigenen Kinder.
„Bleib zu Hause“, befahl sie und befreite ihm von dem Kleid. „Nachher brauche ich erneut deine Hilfe.“
Er quittierte mit einem Kopfnicken, die Nähmaschine ratterte und er entschwand in seinem Zimmer.

Es wurde früher Nachmittag. Er erneut versunken in dem Krimi.
„Toni! Toni!“
Er legte das Buch zur Seite, stand auf, trottete der Rufenden entgegen.
Bärbel saß, die Augen geschlossen, den Oberkörper gebeugt mit hängenden Armen vor ihrer Nähmaschine. Das schneeweiße Brautkleid lag auf ihrem Schoß.
„Dann lass uns sehen, ob ich mich nicht vernäht habe?“
Ohne zu murren, entkleidete er sich.
Bärbel hielt ihm das Werk über den Kopf. Er schlüpfte in das weiße, glänzende Brautkleid. Sie umkreiste ihn mit prüfendem Blick. Jede einzelne Naht kontrollierte sie auf Perfektion.
Die schwere Wohnungstür fiel ins Schloss.
„Hallo! Hallo? Wo seid ihr?“, erklang eine Frauenstimme aus dem Flur.
„Im Arbeitszimmer“, antwortete Bärbel.
Die Zimmertür flog auf, eine Frau in einem knappen Minikleid hüpfte herein.
„Tanja!“, rief Toni.
Er wollte zu ihr, verfing sich im Kleid, mehr noch, er fiel seiner Tante in die Arme.
„Kannst du nicht aufpassen!“, zeterte sie und in einer milden, gar höflichen Tonlage, flüsterte sie: „Bleib einfach nur stehen.“
Sie half ihm auf die Kiste. Seine Schwester warf ihm ein knappes Hallo entgegen.
Von ihr hätte er mehr erwartet, als ein Hallo, Dankeschön, dass du dich opferst oder ähnlich.

Tanja, die Dritte im Bunde war eine Frau, die das Leben liebte, dieses zeigte. Prinzipien waren ihr fremd. Jeden Tag genoss sie, als würde es ihr Letzter sein. Irgendwann ein Wink des Schicksals sie in einen Abgrund trieb, alles das nahm, was sie besaß.
Ihre Launigkeit bereitete ihm oft Angst. In einem Moment kabbelten sie wie gleichaltrige Geschwister. Dann benahm sie sich ihm gegenüber, wie eine Mutter zu ihrem unartigen Kind. Manchmal ignorierte sie ihn.

Nur ein Dankeschön für seine Hilfsbereitschaft.
Er hatte kein Problem damit, für die Tante, als lebende Schneiderpuppe zu fungieren. Ein Brautkleid trug er das erste Mal. Für Kinder und Jugendkleidung stand er öfter zur Anprobe, egal, ob für Mädchen oder Jungen. Außer Bärbel sah ihn niemand, wenn er in einem Rock posierte.

Nur ein Dankeschön dafür, dass er seine Zeit geopfert hat.
Tanja umarmte ihre Tante, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, woraufhin Bärbel ihre Hand ergriff. „Tanja, du schon hier?“
„Der morgige Flug wurde gestrichen, da habe ich einen früher genommen.“ Sie wedelte mit ihren langen Fingern vor dem Gesicht. „Der Nächste nach Bremen ist erst Montag.“ Sie kratzte sich an der Nase. „Dreimal umsteigen wollte ich nicht.“
Tanja stellte zwei Flaschen Sekt auf dem Nähtisch ab, der rechts neben ihr stand.
„Schau, ich bin fertig geworden.“ Bärbel strich über das Kleid. „Wie gefällt es dir?“
Tanja betrachtete das Werk mit leuchtenden Augen.
„Super! Wunderschön!“ Sie betastete die winzigen Perlen auf dem breiten Gürtel des Brautkleides. „Wie schön du die Taillenschärpe genäht hast.“ Sie tupfte eine Träne von ihrem Lid.
Er hoffte, in diesem Augenblick, an dem sie ihn berührte, eine Spur von Dank zu bekommen. Aber sie betastete nur den Stoff, der schlaff über seinem Körper hing.
Bärbel ergriff Tanjas Hand, zog sie gen Zimmertür. „Tanja, du hast bestimmt keinen Bissen zu dir genommen?“, ermahnte sie und legte den Arm um ihre Taille.

Die beiden Damen verschwanden aus dem Zimmer, jede eine Flasche Sekt in der Hand. Sie ließen ihn im Hochzeitskleid zurück.
Gleich einer Modepuppe, deren einziger Sinn darin bestand, die angepriesene Ware zu präsentieren, bis der letzte Kunde das Warenhaus verließ. In Sehnsucht auf das Öffnen der Pforten am nächsten Morgen, damit unzählige Kundinnen ihre Kleidung vergötterten, hoffte sie auf eine Person, die ihren Schmerz wahrnahm.



Die Wette

Da stand er, verlassen in einem Traum in Weiß. Nicht die Scham es zu tragen, wurmte ihn, er trug Tanjas Kleid, sondern die Gemeinheit der Tante, der Schwester, sich nicht mehr, um ihn zu kümmern.
Krampfhaft versuchte er, die hochgeschlossene Robe von sich abzustreifen. Es gelang ihm nicht. Er kam nicht an den Reißverschluss heran. Egal, wie er die Arme verschränkte, es gelangte ihm nicht den Zipper zu ergreifen. Er rief nach der Tante, der Schwester, niemand antwortete ihm. Was erdreisten sie sich, ihn Torben Raubein, den Schrecken auf den sieben Weltmeere zu ignorieren, stehenzulassen. Zum Kampf bereit raffte er kurz entschlossen den Rock und torkelte in die Küche, allerdings keiner der Damen nahm Kenntnis von ihm.

Bärbel saß auf ihrem angestammten Platz neben dem Fenster, Tanja rechts von ihr. Sie stützte ihre Ellenbogen auf der Tischplatte ab und hielt ein Glas Sekt zwischen den Fingern.
Tanja, obwohl sie im Jahr des Todes der Eltern volljährig war, war sie mit bei Bärbel eingezogen. In die Wohnung, die ihr Vater und ihre Mutter vor dem Unfall gekauft hatten. Nicht weit vom Zentrum, nahe dem Park, damit ihr zweites Kind behütete aufwuchs.
Sie lehnte es ab, in Südafrika zu bleiben, dem Land, in dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Dafür hatte sie Bärbel ein Teil der Last abgenommen, die diese mit dem Säugling auf sich genommen hatte. Tanja besuchte vormittags die Schule, Nachmittag versorgte sie das Kleine, während ihre Tante im Ordnungsamt der Stadt ihrer Arbeit nachging.
Tanjas größter Traum war es gewesen, Medizin zu studieren, wie ihre Eltern Menschen zu helfen. Was sie früher jedem auf die Nase band, der es nicht wissen wollte. Es hatte nicht gereicht.
Toni zupfte sich am Ohrläppchen. Seine Erziehung hatte sie stärker gefordert. Sie hielt ihm dieses zwar nie vor, jedoch zwischen ihren Sätzen erahnte er es. In seinen ersten Lebensjahren war sie mehr als die Schwester, eher Mutter, liebevoll und zärtlich. Dagegen Bärbel in ihrer Art vielmehr ein Vater.

Er hielt weiterhin den Rock, schaute die Frauen an.
„Iss erst einmal ein Stück Kuchen“, zischte Tanja, als wäre es alltäglich, gar normal, dass er im Brautkleid vor ihnen stand.
„Aber …“, empörte sich Bärbel, erhob den Körper.
„Er wird es nicht beflecken!“, Tanja zwinkerte ihm zu, dabei umfasste sie den Oberarm der Tante. „Oder?“
Sie starrte ihn mit einem stechenden Blick an, sodass es für ihn schien, als glänzten ihre nussbraunen Iriden.
Mit hängenden Schultern ergab er sich dem Schicksal, schnappte sich ein Stück Streuselkuchen, setzte sich gegenüber den Damen hin. Die beiden steckten ihre Köpfe zusammen, tuschelten, wie zwei Ganoven, die über ihr nächstes Verbrechen, die letzten Instruktionen ihres Planes ausheckten.
Er folgte dem Gespräch nicht. Der Inhalt der Aussprache, wie er vermutete, waren die Vorbereitungen der anstehenden Hochzeit. Was bewegte ihm ihr Plan? Ihm verstimmte das Missachten, als wäre er ein Fremdkörper, ein ungebetener Gast in ihrem Leben. Wie gerne hätte er absichtlich etwas fallen lassen, dieses Kleid besudelt, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, von dem Gewand erlöst in sein Zimmer zurückzukehren. Anstatt diesen Frevel durchzuführen, schaute er aus dem Küchenfenster, kaute den Kuchen.

Er sehnte sich nach der Oma, dem einzigen Menschen, der ihn verstanden hatte. Ihn akzeptiert hatte, wie er war.
Seine Gedanken schwangen zur Testamtseröffnung, nachdem die geliebte Großmutter verstorben war, in der die beiden in gleicher Art geflüstert, ihn verachtend angesehen hatten. Dabei hatte er nur ein Covert geerbt, welches er erst zu seinem achtzehnten Geburtstag ausgehändigt bekommen würde. Hatten sie nicht mehr erhalten? Tante Bärbel das Haus der Großmutter, die Schwester das Geld.
Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme an sein Ohr.
Tanja verbarg ihren schmalen Mund und kicherte. „Gefällt dir mein Kleid?“
Bärbel hob ihren Arm, deutete auf ihn. „Wenn du heiratest“, sie gluckste, „kann ich es dir anpassen!“
Die beiden lachten. Wenngleich er in dieser Sekunde der Mittelpunkt der Unterhaltung war, blieb er stumm.
Tanja zielte mit ihrem grazilen Zeigefinger auf ihn. „Bärbel, erinnerst du dich an Josephines Hochzeit?“
Mit einer Mimik, als begehrte sie ihren Liebsten, schmachtete diese: „Ja, süß sah die Kleine aus.“

Er erinnerte sich blass an die Feier. Die zweite Klasse besuchte er in jenem Jahr. Josephine, eine Freundin von Tanja, hatte geheiratete. Sie stammte aus demselben unscheinbaren Dorf an der Nordsee, in dem die Großmutter gelebt hatte.
Das Haus der Oma stand direkt am Deich. Sie verbrachten oft die Ferien dort.
Bärbel hatte ihm für die Hochzeit einen Anzug genäht. Ihm war die Aufgabe zugeteilt worden, mit einem Mädchen aus derselben Ortschaft, Blumen zu streuen. Er hatte keine Lust darauf. An seiner Piratenunterkunft bauen oder am Strand spielen, fand er damals interessanter. Dieses tat er dann, mit einem für ihn verhängnisvollen Resultat.
Er erschien kurz vor der Trauung mit einer verdreckten, zerrissenen Hose. Soweit es seine Erinnerungen trugen, er es diesen zuließ, entsann er sich an Bärbels Wut. Die Braut stand den Tränen nahe. Tanja hatte dann die Situation gerettet. Sie hatte einen schwarz-rot karierten Rock in ihren alten Sachen gefunden und verkleidete ihn zu einem Schotten.
Alles hätte er akzeptiert, sogar als Seeräuberbraut Jenny im Kleid und gezückten Degen aufzutreten, jedoch als Schotte oder Schottin, oder, was noch grässlicher war, er zupfte an dem Brautkleid, als Prinzessin. Prinzessinnen waren dämlich, abgesehen von Weltraumprinzessin Shila, die hatte es richtig drauf. Sicher am Anfang der Geschichte war sie wie alle Prinzessin, trug weite Kleider und dachte nur an ihr Äußeres. Aber nachdem sie den Kampf aufgenommen hatte, war für sie nur eins wichtig, die Befreiung ihres Planeten von der Tyrannei ihrer Tante. Kleider trug sie weiterhin, jedoch kurze, wie seine Schwester. Wer vermochte auch in langen zu kämpfen? Ausgenommen von Jenny, denn ihre Mutter war bereits Pirat. Diese anderen albernen Prinzessinnen ließen sich von dümmsten Piraten entführen, um dann von noch dämlicheren Prinzen, als sie selbst es waren, befreit zu werden. Allerdings das Lächerlichste für ihn an diesen Geschichten war, dass, wenn es zu einem Gemetzel kam, der Prinz sich nur für Sekunden an diesem beteiligte. Denn kaum erblickte er die Prinzessin, küsste er sie, um sie anschließend zu heiraten, sogleich Kinder mit ihr in die Welt zu setzen. Widerlich.

Tanja wedelte vor ihrem prallen Busen und wandte ihr langes Gesicht Bärbel zu. „Wie wäre es, ich kaufe mir morgen das schicke Kleid.“ Sie blinzelte Bärbel zu. „Welches dir auf dem Foto gefallen hat. Toni schenke ich danach meins.“
„Streut dann Rosen wie ein Blumenmädchen“, unterstrich die Tante die Aussage. Woraufhin beide ihre Bäuche vor Lachen hielten.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, winkte Bärbel ab. „Nein! Ich sitz dann wieder Nächte an der Nähmaschine.“ Sie stöhnte, reckte sogleich demonstrativ ihren Oberkörper und ihre Zunge vom Alkohol betäubt, lallte sie: „Es macht mir weniger Arbeit, wenn wir ein schlichtes Kleidchen kaufen? Außerdem sind Mädchenkleider günstiger.“
Das Gespräch war ihm unangenehm. „Am besten in Rosa“, spöttelte er, „mit Rüschen und Schleifen!“
Er legte ein Lächeln auf, steckte sich daraufhin ein weiteres Stück Kuchen in den Mund. Eine Antwort der Tante kam prompt, dabei bemerkte er, dass die Wortwahl nicht die von ihm erwartete Reaktion hervorrief.
Sie pustete förmlich aus sich heraus: „Nein, Rosa finde ich nicht passend.“ Sie gackerte wie ein Huhn und schüttelte den Kopf, drückte sodann ihren rechten Zeigefinger auf den Rücken ihrer konkaven Nase. „Weiß! Schlichtes Weiß ist eleganter. Mit den Rüschen und Schleifen könnte ich mich anfreunden.“
Sie verzog ihren Mund, zu einem schiefen Lächeln. Der Einfluss des Alkohols blieb nicht folgenlos. Ihr Oberkörper schwankte wie auf hoher See.

Tanja pustete eine ihrer lockige sandgelbe Strähne von der Stirn. „Das traut sich Toni nie, wäre viel zu mädchenhaft.“ Sie blinzelte und prostete Bärbel zu.
Er konnte nicht darauf eingehen, sein Mund war voller Gebäck. Erst nachdem er den Bissen heruntergewürgt hatte, versuchte er, Kontra zu geben:
„Besser als der blöde Anzug.“
Die Frauen schauten sich an, dann fixierten sie ihn an.
Tanjas Augen leuchteten auf, ihre Lippen zu einem Grinsen verformt. Er kannte diesen Ausdruck. Irgendetwas brütete sie aus.
Sie verschränkte die Arme. „Traust dich nie!“
Ihm schwante eine Hinterlist, da sie meistens hoch pokerte.
Er lehnte sich zurück. „Wetten doch.“
Bärbel schaute die beiden fragend an.
„Okay, Wette gilt“, quittierte die Schwester, indem sie ihre Hand ausstreckte.
Er zupfte an seinem Ohrläppchen. „Was bekomme ich, wenn ich gewinne?“
„Du hast einen Wunsch frei“, zwitscherte sie, bevor, er sah es genau, sie ihn schelmisch angrinste.
„Ich will deine Sophia!“
Tanja senkte ihr langes Kinn und Toni zupfte erneut an seinem Ohrläppchen.
Sie hatte seit längeren vor, ihr Segelboot, die Sophia zu verkaufen, da sie keine Zeit mehr hatte zu segeln. Die beiden waren von frühster Jugend an begeisterte Wassersportler. Seine Tante meinte, dieser Sport sei zu gefährlich. Die Geschwister hatten es jederzeit geschafft, sie umzustimmen. Tanja segelte immer hart am Wind.
Sie reichte ihm die Hand. „Abgemacht! Wenn ich gewinne?“ Sie verschränkte die Arme im Genick. „Mistest du eine Woche den Pferdestall aus.“
Sie war im Bilde darüber, wie er Pferde hasste. Mit einem Sonderfall: veredelt zu Würstchen, gegrillt, mit Senf. Pferdedreck war das Schlimmste. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis er seine Schwester in Bayern besuchte, um die Wettschuld einzulösen, mit Ausnahme, die paar Tage bei ihrer Hochzeit, aber sie würde es nicht vergessen.
Tanja entnahm einer Küchenschublade Papier und Stift, da mischte sich ihre Tante ein.
„Kinder! Seid ihr verrückt geworden!“ Bärbel schlug auf den Tisch. „Das könnt ihr nicht machen. Wetten sind …“
„Ist doch nur Spaß“, beschwichtigte Tanja sie, während er in ihren Augen etwas anders sah. Etwas, das er mit dem Satz: „Toni traut sich eh nicht“ übersetzte.
Dann schrieb sie:

Ich Tanja Wette, dass sich
Sie musterte ihn, wobei ein schelmisches Grinsen über ihr Gesicht flog. „Wenn dich so recht betrachte“, dabei murmelte.
meine kleine zickige Schwester
Wut steig in ihn herauf, mit allen konnte sie ihn beleidigen, demütigen, jedes der einzelnen Worte würde er unter Qualen ertragen, jedoch all diese Verhöhnungen vereint, waren zu viel für ihn.
Er schrie: „Ich heiße Torben.“
Sie zuckte mit den Achseln, strich die Wörter, murmelte: „Von mir aus, was interessiert es mich“ und schrieb fort:
Torben es sich nicht traut, bei meiner Hochzeit
Sie betrachtete das Geschriebene, dann strich sie die letzten beiden Wörter wieder durch.
meinen Hochzeitfeierlichkeiten, Mädchenkleidung zu tragen.
Er protestierte gegen den Wortlaut, weil es abgemacht war, dass er das Blumenmädchen spielte. Tanja klärte ihn über die Problematik auf, wenn sie kein passendes Kleid fänden, oder zum Ändern zu wenig Zeit vorhanden wäre. Er dann die Wette, bevor sie anfing, verloren hätte. Somit kam sie ihm entgegen.
Er schwankte. Der Gedanke daran trieb ihn die Schamröte ins Gesicht. Dem Admiral zu helfen oder wie ein echtes Mädchen gekleidet, bei der Hochzeit der Schwester aufzutreten, waren zweierlei.
Anderseits begehrte er die Hansa-Jolle Sophia, schnittige 5 m lang, 14 qm Segelfläche, die flog übers Wasser. Sogar eine Kajüte besaß sie, in der er schon mehrere Nächte geschlafen hatte, wenn er und Tanja einen Törn segelten. Er konnte es nicht ohne Hilfe beherrschen, mit einem Vereinskameraden in Hafennähe ein paar Runden zu schippern, das sollte ihm gelingen.
Er würde alles für das Boot unternehmen. Außer von einem Großsegler vom höchsten Mast in die See springen, wie sein verstorbener Großvater Nahne von sich behauptet hatte. Der Opa, seines Zeichens Kapitän auf großer Fahrt, erzählte viele Geschichten, darunter eine Menge Seemannsgarn.
Tonis Kopf pendelte von einer Seite zur anderen. In Bayern, da sollte die Hochzeit stattfinden, kannte ihn niemand. Er fand keinen Grund oder das Verlangen, die Verwandten des Zukünftigen seiner Schwester aufzusuchen. Er, Torben, der Pirat der Weltmeere auf einer Alm Kühe streicheln. Ein für ihn abstruser Gedanke.
War es überhaupt eine Wette, die er erachtete, einzugehen? Wetten! Wenn er hundertprozentig davon ausging, dass er gewann, dann akzeptierte er diese Abmachung. Alles andere waren Spekulationen oder … Sein Atem stockte. Schweiß schlug sich auf seinen Schläfen nieder.
Eine Mutprobe! Er behauptete allerlei von sich, aber eines war er nicht, mutig. Er war ein Weichei, ein Schlappschwanz, wie ihn Tanja titulierte. Immer auf der sicheren Seite bleiben. Ein Motto, welches er sich auf die Stirn geschrieben hatte. Egal. Aus ihm könne nie ein richtiger Kerl werden, ebenso ein Spruch von ihr, obwohl sie ihm gegenüber nicht von Kerl, sondern Mann sprach. Jetzt, in diesem Moment verlangte sie von ihm, dass er zu einem Mann gedieh, dadurch, dass er Frauenkleider trug.
Er schlug ein und sie nahm den Kugelschreiber wieder auf.

Sollte ich verlieren, schenke ich Torben mein Segelboot. Wenn ich gewinne, dann reinigt er eine Woche die Ställe.
Tanja griff in den Besteckkasten. Sein Herz klopfte ihm bis in die Schläfen. Sie übergab ihm ein Messer.
Blut ist ein ganz besonderer Saft, empfand er beim Unterzeichnen des Paktes ihre Gedanken. Wenngleich es nur ein einfacher Zettel war, umspannte eine okkultistische Aura das Blatt. Eine Frage verblieb für ihn unbeantwortet im Raum. Wer von ihnen mimte Doktor Faust?



Der erste Schritt

„Toni!“, schalte es, gepaart mit einem Kichern, in seinem Ohr.
Voller Schrecken aus den Träumen gerissen, zog er sich die Bettdecke über den Kopf. Woraufhin sie die Decke von ihm zerrte, dabei streifte ihr langes blondes Haar seine Schulter.
Ihre weichen Lippen berührten seine Wange. „Aufstehen.“
„Morgen, Tanja.“ Er gähnte und streckte die Arme. „Lass mich schlafen.“
„Auf die Beine, du Schlafmütze.“ Sie kitzelte ihn. „Wir haben eine Menge zu erledigen. Ein Tag ist schnell rum.“
Er krümmte seinen Oberkörper und wieherte vor Lachen.
„Was müssen wir?“, trieb sie an, während er versuchte, ihren Fingern auszuweichen.
„Hast du es vergessen?“ Sie pausierte das Kitzeln. „Du wolltest dir ein schönes weißes Kleidchen mit Rüschen und Schleifchen kaufen.“
Auf einmal spulte sich der gestrige Tag in seinen Gedanken ab. Bis zu dem Moment, an dem er die Wette unterzeichnet hatte. Ein flaues Gefühl drückte ihm im Magen.
„Dann fahr in die Stadt“, er gähnte erneut, wandte sich ab und drückte den Kopf in sein Kissen, „und kauf das Ding.“
Soweit er sich erinnerte, stand in der Wette nichts vom Anschaffen eines Kleides geschrieben.
Sie stupste erst ihren Zeigefinger an seine Stirn, dann drückte sie ihre Hände an ihre Taille.
„Nichts da!“ Sie zog ihm die Decke vom Leib. „Damit du einen Grund hast, es nicht zu tragen.“
Ihm missfiel der Gedanke, mit seiner Schwester in die Stadt zu fahren. Ihr Vorhaben würde ihm Stunden seines Lebens kosten, die er besser ausnutzen konnte. Seine Bücher warteten auf ihn. Er kannte sie zu gut. Wenn die erst einmal auf Shopping umschaltete, dann gab es für sie kein Halt mehr. Dies galt nicht nur für die Touren, bei denen sie sich neu ausstattete, sondern gleichfalls bei jenen sie ihn nötigte, für sich etwas Neues zu ergattern. Sogar für eine banale Hose verbrachten sie einen halben Tag in Boutiquen.
Auf Tanjas Hochzeit, wie im Schauspiel in einen weiblichen Fummel schlüpfen, war eins. Mädchenkleidung erwerben, in ein Laden zu schreiten, sich ihre Kleidung zu bemächtigen, nicht das, wonach er sich sehnte.
„Wir gehen in ein Geschäft, suchen das Ding und verschwinden.“
„Das funktioniert nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ein Kleid ist kein Pullover, den man sich überstreift. Ein feines Eventkleid muss sitzen, als wäre es nur für die eine Frau geschneidert.“ Sie tippte an ihre Schläfe. „Verstehst! Du musst eins mit ihm werden, es betasten, riechen. Mit ihm schreiten!“
Er schreckte auf, setzte sich auf sein Bett, überkreuzte die Arme und wandte den Blick von Tanja ab. „Vergiss es.“
Seine Schwester strich ihm über die Wangen, „Geh duschen, dann sehen wir weiter.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Sei leise, Bärbel schläft.“

Das warme Wasser ließ ihn erwachen. Angst umkam ihm bei den Gedanken. Er hatte weiterhin die Chance zu kneifen, aber diese Blöße wollte er sich nicht geben. Er war, hin- und hergerissen. Wie sollte er sich entscheiden?
Als er sich abtrocknete, erschien Tanja im Bad. Sie ging auf ihn zu, übergab ihm, wobei sie lächelte, ein Bündel Wäsche und befahl: „Komm, zieh das an!“
Die Augen aufgerissen, nahm er die Kleider entgegen. Er musterte die Sachen und begriff, was sie plante. Über seinem Arm hingen ein kurzer Jeansrock sowie ein fliederfarbenes Sommertop. In der Hand hielt er einen Slip, der nicht seinem Bild einer Unterhose entsprach.
„Tut mir leid, aber Mädchenunterhosen trage ich lange nicht mehr.“ Sie stemmte ihre Fäuste in ihre schmale Taille. „Und deine vergammelten Shorts sehen unter einem Rock lächerlich aus.“
Sie gab ihm einen Klaps auf sein Gesäß. Ohne ein Wort von sich zu geben, kleidete er sich an. Dabei stellte nicht nur er, sondern gleichfalls Tanja fest, dass ihr Slip ihm sehr locker um die Hüfte saß, worauf sie ihm gestattete sich eine, von seinen Unterhosen mit Piratenmotiven überzustreifen.
Sie drückte Haargel auf ihre Hand. „So, jetzt machen wir ein niedliches, kleines Mädchen aus dir!“ Sie grinste und frisierte ihn. „Augen zu! Sonst steche ich dich.“
Sie erlaubte ihm, die Augen wieder zu öffnen.
„Vielleicht gewinnst du keinen Schönheitswettbewerb“, stellte sie lapidar fest, „aber wie ein Pirat ziehst du definitiv nicht mehr aus. Schwesterchen!“ Tanja kehrte ihm den Rücken zu. „Lass uns was essen!“

Tanja hatte das Frühstück vorbereitet, sodass er sich gleich an den gedeckten Küchentisch setzte, genüsslich in ein Brötchen biss.
Er bemerkte, wie der Admiral in die Küche kroch. Sie war wie an jedem Morgen in ihren Bademantel gehüllt, gähnte. Ihre Augen waren eher Schlitze und ihr Haar zerzaust, als hätte sie in der Nacht mit einem Piraten gekämpft.
Sie plumpste auf ihren Stuhl, wandte ihr zerknirschtes Gesicht Tanja zu, blinzelte und fragte sie, wie sie geschlafen hätte, worauf Tanja gleichfalls blinzelte und ihre Frage mit einem „sehr gut“ beantwortete.
„Warum seid ihr schon auf?“
Ihre Miene weiterhin zerknirscht, hatte es für ihn den Eindruck, als kreiste ihr Blick durch die Küche, von ihm zu Tanja, die an ihrer dampfenden Kaffeetasse nippte, und zurück.
„Wie siehst du denn aus?“, hörte er sie.
Ein mulmiges Gefühl keimte in seiner Magengegend auf, als er die stechenden Blicke wahrnahm, die sich die Frauen zuwarfen.
„Ist eine bombige Idee von Tanja.“ Stand er ihr bei. „Du sagst immer, man solle Neues ausprobieren.“ Er senkte den Kopf. „Tante.“
„Du“, sie erhob den Zeigefinger. „So geht ihr mir nicht vor die Tür. Verstanden!“
Tanja runzelte ihre Stirn.
„Hast du heute schon einmal aus dem Fenster gesehen. Viel zu kalt für einen Rock. Ihr holt euch den Tod. Zumindest eine Strumpfhose könntet ihr euch überziehen“, tadelte Bärbel, zupfte an seinem Top und wandte sich Tanja zu. „Ein Pullover wäre ebenfalls für deine Schwester angebracht.“
Starr, mit offenem Mund richtete er zuerst seine Augen auf Bärbel, dann auf Tanja, zurück zum Admiral, die mit den Achseln zuckte. Er hüpfte vom Stuhl, umarmte sie, drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Tanja und er hatten gesiegt, obwohl es eher ein Sieg für sie war, denn er hatte keine andere Wahl mehr. Er ergab sich dem Schicksal, zurechtgemacht wie ein richtiges Mädchen, mit ihr durch die Stadt zu laufen. Aber was tat er nicht alles, um sein Ziel zu erreichen?
Er schluckte, dachte daran, was ihm bevorstand. Einen Lichtstrahl am Horizont erhaschend, fand er einen Ausweg. Er hatte alles erfüllt, was Tanja verlangt hatte, wenn dann der Admiral wegen einer Kleinigkeit ihr Veto einlegte, war das nicht sein Verschulden.
„Aber eine Strumpfhose ziehe ich nicht an“, er zupfte am Rock, „die ist nur etwas für blöde Mädchen.“
Tanja stellte ihre Tasse ab, stand auf. „Für blöde Mädchen! Danke fürs Kompliment“, nässelte sie, „sagt der schwachköpfige Pirat.“ Sie kicherte. „Heute jedoch … Ich find etwas Passendes für mein schnuckliges Piratengirl.“
„Und du, meine göttliche Tanja“, zischte Bärbel, nachdem sie ein weiteres Mal geblinzelt hatte, „kannst dir ebenfalls etwas Wärmeres überziehen.“
Er zupfte an seinem Ohrläppchen und musterte Tanja, die sogar nach seinem Verständnis luftig daher schritt. Sie trug ein kurzes Top, einen knappen, gestuften rabenfarbigen Minirock mit Spitze.
Bärbel schenkte sich Kaffee ein, ergriff ein Brötchen, stach auf dieses ein, als könnte es vor dem Verzehr weglaufen.
„Geschminkt hast du dich auch!“
Er kannte ihre Ansichten. Sie verabscheute es, wenn Frauen sich schminkten.
„Ich habe mich nicht geschminkt.“
„Lüge mich nicht an“, kommentierte sie und hielt ihm das aufgespießte Brötchen vors Gesicht. „Ich bin alt, aber lange nicht blind!“
Er musterte zuerst die Marmelade auf seinen Brötchen, dann wandte er sein Gesicht zur Küchentür. „Sie war es.“
Wäre Tanja in jenem Moment nicht schnaufend in der Küche erschien, hätte Bärbel ihre Erlaubnis wieder entzogen. Sie hasste dieses neunmalkluge Gebaren ihres Schützlings, wie sie es nannte und ihm entgegenwarf. Leider blieb Tanja der Küche fern.

Kaum hatte sie ihr Traktat beendet, stürmte Tanja in die Küche und schrie: „Wer von euch war an meinen guten Strumpfhosen?“
„Ich nicht“, bekundete Toni mit weiterhin gesenkten Blick.
Tanja war erst vor einem halben Jahr ausgezogen. Seit ihrem Abschluss in Ozeanografie, wie sie es Toni erzählt hatte, war sie über den ganzen Globus gereist. Von Nordkap bis Antarktis hatte sie viele Meere erkundet. Zurzeit hatte sie ihre beruflichen Zelte auf Spitzbergen aufgeschlagen und ihren Wohnsitz zu ihrem zukünftigen Ehemann nach Passau verlegt. Trotzdem ruhten die meisten ihrer Besitztümer weiterhin in Bremen.
Bärbel nahm einen kräftigen Schluck, kreuzte die Arme vor der Brust und streckte ihren hageren Hals.
„Bevor ich mir Neue kaufe, kann ich erst einmal deine Alten aufbrauchen. Du trägst sie sowieso nicht mehr.“
Tanja baute sich vor ihr auf, stemmte ihre Fäuste in die Taille, riss, wie eine Katze vor einem Angriff, die Augen auf.
„Aufbrauchen..? Aufbrauchen! Meine Strumpfhosen braucht man nicht auf. Meistens bekommen sie Laufmaschen, aber man braucht sie nicht auf! Bärbel, weißt du, wie teuer die waren?“
Entledigt ihrer Wut, sank sie auf einen Küchenstuhl. Sie stierte Bärbel in die Augen, die ihren Kopf senkte. „Außerdem“, sie platzierte den rechten Zeigefinger an ihrem Kinn, „seit wann trägst du überhaupt Strumpfhose? Dann noch gemusterte?“
Tanja reichte ihm ein Bündel, das er wortlos betrachtete.
„Wenn es draußen kalt ist?“ Bärbel nagte an ihrem Brötchen. „Unter einer Hose sieht sie keiner.“
Tanja deutet zum Fenster. „Es ist Frühling und Röcke trägst du ja nicht!“
Bärbel zuckte mit den Achseln. „Im Winter?“
„Vor einem Monat war auch Frühling“, Tanja schüttelte den Kopf, „bis dahin hatte ich welche.“
Sie steckte ihre Beine in ihre letzte Strumpfhose, wie sie diese bezeichnete und er seine Arme in den hellrosa Sommerpullover, den er von ihr bekommen hatte, bevor er ihn über den Kopf zog. Der war ihm ein wenig zu groß, weiblich geschnitten, sodass er ihm luftig, modisch, modern am Körper wehte.
Tanja kreischte: „Mist!“ Sie sprang wie von einer Wespe gestochen auf, floh aus der Küche.
Er sah ihr nach, kämpfte dann mit der cremeweißen Leggings, die er gleichfalls von ihr erhalten hatte.

Sie trafen sich erst wieder in der Diele. Er steckte soeben den linken Fuß in einen Turnschuh, als Tanja ihm ein paar tiefschwarze Ballerinas vor die Nase hielt.
„Habe ich gefunden. Besser als deine alten Treter.“
„Tanja, die ollen Dinger“, wetterte Bärbel, die in der Diele erschien. „Kauf unserm“, sie malte Anführungszeichen in die Luft, „Piratengirl zuerst einmal ein Paar Schuhe, etwas Schickes, bevor ihr euch auf die Suche nach einem Kleid macht. Aber etwas für den Alltag.“ Sie verschränkte die Arme, musterte Tanja „Ich kenne dich gut genug, du übertreibst es immer.“
Er sah sofort, was sie meinte. Tanja hatte sich umgezogen. Anstatt des aufreißenden Minis steckte sie in einem engen, knielangen Lederrock, der so viel Ahnung hatte er noch mehr ihre Reize unterstrich.
„Ich dachte“, Bärbel lehnte sich mit der Schulter an der Türzarge, „du hast keine Strumpfhose mehr?“
„Zu meinem Glück hast du meine Strümpfe bislang nicht aufgebraucht!“
„Fahrkarten liegen an der Garderobe. Und nehmt einen Schirm mit! Es sieht nach Regen aus.“
Tanja vergrub die Fahrscheine in ihre Handtasche, öffnete die Wohnungstür, schritt in den Hausflur.
Er blieb auf der Schwelle stehen, starrte mit bleichem Gesicht auf die hüfthoch, giftgrün gefliesten Wänden. Mit zitternden Händen betastete er die Textilien, die für ihn nicht die Quelle der Angst bildete. Die gerufenen Geister, die Schatten in seiner Seele, marterten sein Gehirn, vergruben sich in jede seiner Nervenfaser und ließen ihn, wie eine Marionette geführt von einem unsichtbaren Puppenspieler, taumeln. Sie zogen ihn in auf eine Route, eine Gegend, in die er nicht strebte, dennoch ihm die nautischen Geräte verhießen, um seinen Törn zu segeln.



Die Wissenschaft kennt keine Pein

Nieselregen fiel aus der grauen Wolkenmasse und trieb, durch frostige Windböen gepeitscht, zwischen der Häuserflucht. Geschützt durch einen blaugepunkteten Regenschirm stand eine blonde Frau an einer Bushaltestelle. Sie trug einen anthrazitfarbenen knielangen Lederrock sowie gleichfarbige Strümpfe. Neben ihr kauerte mit zusammengepressten Knien ein Mädchen. Der Wind spielte mit ihren kinnlangen Haaren. Sie schmiegte ihren Oberkörper an die Blondine, ihre zierlichen Hände geballt vor ihren Jeansrock, dessen Bund ein rosafarbiger Pullover umwehte. Ein Bus preschte heran, schleuderte den Inhalt einer Pfütze den beiden entgegen. Die Frau auf ihren hohen blutroten Pumps wich den Tropfen aus und sprang zurück. Das Mädchen verharrte, betrachtete ihre verdreckte Leggings.

„Dass du dich immer dreckig machen musst!“, schnauzte Tanja ihn an, während sie ihn in den Bus zerrte.
Sie entwertete die Fahrscheine, setzte sie sich neben ihn, der die letzte freie Bank ergattert hatte. Eine Frau mit grauen Haaren in einem Trenchcoat, unter dem ein blaues Kostüm hervor spähte, schaute ihn verständnislos an. Er beobachtete, wie Tanja die Dame musterte, sogleich ein Taschentuch aus ihrer Handtasche fischte, und, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, versuchte, die Flecken von der Leggings zu beseitigen.
Ihr Gesicht zu einer Grimasse verzogen, zupfte sie an seinem Rock. „Svenja, dass du dich stets wie ein Junge benehmen musst!“

Er hasste den Namen. Früher hatte sie ihn öfter so gerufen, um ihn zu ärgern, wenn er mädchenhaft herumzickte. Sie hatte ihn seit Langem nicht mehr so genannt, nur wie Bärbel mit Toni gerufen. Dabei hatte er einen Namen Torben, ein Name, der zu ihm passte, sogar gegen Sven hätte er nichts auszusetzen gehabt. Aber ... dann in aller Öffentlichkeit. Nicht, dass er sich schämte, er mochte ihn nicht. Er war nicht mehr das kleine Kind. Zuerst sah er betrübt hinab, starrte auf den Rock, dann ging ihm ein Licht auf. Es war die Pein der Erwachsenen, die Tanja dazu veranlasst hatte. Warum trug er einen Rock, warum nannte sie ihn so? Für ihn hatte Kleidung einen Zweck, sie sollte den Körper vor den Widrigkeiten der Welt schützen.
Diese Ansicht vertrat er nicht immer, damals für ihn graue Vorzeit, als er ganz klein war, den Kindergarten besuchte und von Wissenschaft keinen Plan hatte, hatte für ihn Kleidung eine weitere Bestimmung. Sie legte das Geschlecht einer Person fest. Dabei ging er auch damals, obwohl er davon keinen blassen Schimmer hatte, wissenschaftlich vor. Die Beobachtung war seit fortwährend die erste Tugend der Erkenntnis.

Der Auslöser seiner Theorie war eine Beobachtung. Er hockte mit seiner Oma Hijlkje im Garten und beobachtete, wie ein Schmetterling sich aus seinem Kokon schälte. Sie erklärte ihm, dass Raupen, wenn sie sich dick und rund gefressen hätten, sich ein Mäntelchen überzöge, schlafen gingen. Ein langer Schlaf, wie sie betonte. Wenn sie dann ausgeschlafen hätten, legten sie ihr Mäntelchen ab und aus der Raupe wäre dann ein Schmetterling oder eine Schmetterline geworden. Die Schmetterline flöge dann fort, suche sich einen Schmetterling, küsste diesen, um dann ihre Eier an ein Blatt zu heften. Aus den Eiern schlüpften Raupen und der Kreislauf begänne von vorn.
Die ganze Nacht konnte er nicht schlafen, dachte andauernd an das Mäntelchen, den Schmetterlinge und die Schmetterline. Er grübelte, überlegte, wie es bei den Menschen war. Dass sich Menschen nicht verpuppten, war ihm klar, sie schlüpfen desgleichen nicht aus einem Ei, sondern aus dem Bauch der Mutter, wie es ihm Tanja mal erklärt hatte. Tanja glaubte er. Die Wörter Schmetterling, Schmetterline, Mann, Frau, Mantel jedoch kreisten in seinem Kopf.
Er sah nie einen Mann, der einen Rock oder ein Kleid trug. Bei Frauen war es anders, die zogen sich ebenso Hosen an. War ein Rock, ein Kleid, der Mantel? Er erinnerte sich an ein Gespräch, welches Tante Bärbel mit einer Frau geführt hatte, die einen sehr dicken Bauch hatte. Bärbel fragte sie, was es den würde, worauf die Frau ihr sagte: „Natürlich ein Mädchen.“ Woher wusste die Frau, bevor das Kind geboren war, dass es ein Mädchen würde? Das Kind war in ihrem Bauch.
Es gab für ihn nur eine Lösung. Die Bibel half ihm auf die Sprünge: Eva, Adam, seine Rippe und der Baum der Erkenntnis, der Apfel und ein Bild in seiner Kinderbibel. Auf dem Bild waren Adam und Eva nach dem Biss in den Apfel abgebildet. Er stand dort, bekleidet mit einer Hose, sie mit Rock und Büstenhalter. Damit war ihm sofort klar, welche Funktion ein Büstenhalter hatte. Durch diesen bekam eine Frau ihre Busen, denn Mädchen hatten keine.
Bloß eine Krux hatte seine Theorie: Tante Bärbel. Sie kleidete sich nie wie eine Frau, wie Tanja. Er hatte ihre Kleiderschränke durchstöbert, sie besaß keinen Rock, kein Kleid. Einen Busen hatte sie, sie trug Büstenhalter. War die Verwandlung von Mann zur Frau umkehrbar? Tanja sah er oft nackt, Bärbel nie. Hatte Bärbel vielleicht einen Pullermann? Jedenfalls benahm sie oft wie ein Mann. Er hatte sogar, das eine oder andere Mal gesehen, wie Bärbel Tanja küsste. Wollte Tanja, er nahm es eher zum Vergleich, Eier legen. Er bekam es nicht heraus. Der endgültige Beweis fehlte ihm.
Kurze Zeit später war er mal wieder bei seinen Großeltern. Ein Zirkus hatte unweit ihres Hauses sein Zelt aufgeschlagen. Er wollte eigentlich nicht hin, wenngleich ihm die Darbietungen der Akrobaten schon reizten. Es war der Gestank der Tiere, der ihn abschreckte. Zuckerwatte, Popcorn und Eis überzeugte ihn.
Eine Seiltänzerin zog ihn in seinen Bann. Nicht ihr Tanz auf dem Seil, diese war eher amüsant, den sie versuchte nur, in einem langen Prinzessinnenkleid gekleidet, von einer Seite zur anderen zu kommen. Die Zweite, die später als Schlangenfrau und Clown auftrat, konnte es wirklich. Es war die Tätowierung auf ihren Unterarm, die ihn faszinierte, den diese hatte er bei ihr bereits gesehen, als sie die Eintrittskarten abriss. Es war ein Anker, wie sein Opa ihn hatte, jedoch verschlungen mit einem Herz. Sie trat öfters auf. Sie reichte, gehüllt in einem glitzernden Paillettenkleid, dem Feuerschlucker seine Fackeln, assistierte dem Zauber und da blieb ihm der Atem weg, dem Messerwerfer. Festgebunden an einer Drehscheibe, rotierte sie, während er die Messer ihr entgegenschleuderte.
Zwei, drei Wochen später war er wieder bei seinen Großeltern. Er spielte unweit seines Piratenschiffes im Sand. Er war nicht allein, ob andere Kinder oder seine Großeltern bei ihm waren, konnte er sich nicht mehr entsinnen. Ein Mann saß mit seinem Rücken zu ihm am Wasser und schaute aufs Meer. Dass er ein Mann war, war ihm klar. Er hatte zwar schulterlanges Haar, welches er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, jedoch war er in mit einer Jeanshose und einem T-Shirt bekleidet, somit nach seiner Theorie definitiv ein Mann. Irgendwann zog er sich aus, ging schwimmen. Nackt, aber dieses war in der Bucht abseits aller Behausungen für ihn nichts Ungewöhnliches.
Als er wieder aus den Fluten kam, sah er sie: die Tätowierung. Er sah mehr, er sah, was zwischen seinen Beinen baumelte, zwar klein, eher mickrig, vielmehr wie es ein Junge sein Eigen nannte, sah die mädchenhafte Brust. Er hatte seinen Beweis. Die Seiltänzerin hatte genug davon, die Blöde auf dem Seil zu spielen, den Zauberer, dem Feuerschlucker nur zur Hand zugehen, oder wollte schlicht der Gefahr aus dem Wege gehen, irgendwann vom Messerwerfer erstochen zu werden.
Sie wollte, davon war er damals überzeugt, selbst Zauberer, Feuerschlucker oder Messerwerfer werden und war auf dem Weg von einer Frau zu einem Mann. Hatte daher ihren Röcken, ihren prachtvollen Kleidern für immer adieu gesagt.

Natürlich war seine Theorie schwachsinnig, die Wissenschaft, die Bücher, die er verschlang, klärten ihn auf. Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin, die Gene bestimmten, welch Geschlecht ein Mensch hatte, nicht das Tragen eines Rockes oder eines Kleides, und dieses war unumstößlich.
Daher wusste er, dass die Seiltänzerin nicht zum Mann werden wollte, sondern ein Mann zu einer Seiltänzerin, obwohl es ihr nicht gelingen würde, das Tanzen auf dem Seil meinte er damit nicht, aus ihm würde nie eine richtige Frau. Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin.
Deshalb hatte er kein Problem damit, in ein Kleid zu schlüpfen. Er würde immer bleiben, wie er war. Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin.
Erwachsene sahen dieses anders. Sie hatten ihre Pein. Keine Pein, die ihm die Schamröte in Gesicht drückte, wenn Marmelade auf sein T-Shirt tropfe. Wenngleich er eher Angst vor dem Gemecker des Admirals hatte. Nein, dies war ihm nicht peinlich. Peinlich war es ihm, wenn der Lehrer ihm einen halben Punkt bei einer Mathematikarbeit abzog, weil er das Ergebnis nicht unterstrichen hatte.
Erwachsene besaßen eine andere Pein. Allein der Gedanke daran, dass sie glaubten, irgendwer würde, das, was sie tun, als beschämend empfinden, trieb ihnen bereits die Schamröte ins Gesicht. Somit war es Tanja peinlich, wenn er, Torben, der Schrecken aller Weltmeere, in einem Geschäft in ein Kleid schlüpfe. Deshalb trug er den Rock, deswegen sprach sie ihn mit diesen Namen an, darum sollte er ihre Unterhose anziehen.
Dabei war es ihm vollkommen egal gewesen, mehr ein Spiel, eine Mutprobe, ein Theaterstück, welches er gern ab und dann aufführte. Denn er wusste, wer er war: Torben, der Schrecken aller Weltmeere. Er mochte bloß keine Spitze, das war alles. Der Admiral hatte ihm einmal ein T-Shirt gekauft, das hatte Spitze an den Ärmeln und am Ausschnitt, die kratze, scheuerte. Was Tanja daran mega fand? Vielleicht genossen Frauen den Schmerz? Seins war es zumindest nicht.
Sicher, er hätte Tanja entgegenschreien können, dass er Torben heißt. Ihr wäre es gegenüber der Dame peinlich und sie würden den Bus verlassen, zurück nach Hause fahren. Aber irgendwie war er nicht imstande, sie bloßzustellen. Ihm kam eine andere Idee. Eine, mit der er leben, sie ihr Gesicht wahren konnte.
Er holte tief Luft, zog seine Augenbrauen zusammen und blaffte sie, so mädchenhaft wie er vermochte, an: „Mama, ich heiß Antonia.“

Tanja nahm den Ball sofort auf, strich über sein Knie und sprach in einer Tonlage, als wäre sie ihm auf den Fuß getreten:
„Entschuldige Prinzessin, dass ich dich andauernd mit deiner Schwester verwechsle.“
Die Prinzessin quittierte er mit einem Fußtritt.
Das Schönste bei Geschwistern, zumindest galt dieses für ihn und Tanja, war, dass sie sich nicht nur kabbelten, sondern ihre Geheimnisse, gar ihre Geheimsprache hatten. Der Name Antonia war zwar weder das eine noch das andere, jedoch ein Schlüssel, ein Schlüsselwort, welches Tanja sofort verstanden hatte. Er hätte ihr gleichfalls Anton an den Kopf schmettern können, dieses wäre aber in der Situation logischerweise nicht in ihrem Interesse gewesen.
Er kannte zwar weiterhin keine Gene, dennoch hatte er seiner Rock-Theorie abgeschworen. Ausnahmsweise erfuhr er nicht aus einem Buch, sondern aus dem Fernsehen, wie es möglich war, das Geschlecht eines ungeborenen Kindes herauszufinden. Es war trivial. Sie schossen ein Foto. Dass dieses ein Ultraschallfoto war, wusste er zu der Zeit nicht, spielte auch für ihn keine Rolle. Zumindest hatte er Blut geleckt und sein Leben der Wissenschaft geweiht.
Es war an einem von den Wochenenden, an denen Bärbel ihr Nähzimmer bloß zur Nahrungsaufnahme verließ. Tanja hatte er beim Frühstück gesehen. Sie holte sich einen Kaffee und verschwand, mit den Worten, dass sie ihre Tage hätte, sofort wieder in ihrem Zimmer. Bärbel behauptete, sie hätte seit gestern Abend ihre Migräne. Wie man die Krankheit nannte, die sie häufig durchlitt, war ihm egal. Ihr ging es schlecht, dieses machte ihm Sorgen. Nachdem Frühstück besuchte er sie. Sie lag zusammengekauert auf ihrem Bett und blaffte ihn an, er solle verschwinden. Daher ging er seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Er las, den lesen konnte er längst im Kindergarten. Noch vor dem Mittag befahl ihm der Admiral, er solle zur letzten Anprobe antreten. Missgelaunt schlüpfe er in das kanariengelbe Kleid. Er konnte sich genau an die Farbe erinnert, denn Bärbel wies ihn an: „Dreh dich, mein kleiner Kanarienvogel.“ Das Kleid war für ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Vielleicht sogar das Mädchen, für das er Monate bevor er Tanjas Brautkleid angezogen hatte, als Schneiderpuppe diente. Zumindest war das der einzige Kontakt, den er zu den Nachbarskindern pflegte. Er erprobte, checkte ihre Klamotten, bevor sie es taten. Jedenfalls dann, wenn sie neu waren. Nachdem das Telefon geklingelt hatte, verschwand Bärbel. Der Hunger trieb ihn in die Küche und da er bereits zugange war, beschmierte er sogleich eine Schnitte für Tanja.
Als er ihr Zimmer betrat, sah er, dass sie weinte. Er trat an sie heran, streckte ihr die Schnitte entgegen. Sie bedankte sich und er fragte sie, was sie hätte. Es sei dieser Tag, der sie fertig machte. Er hakte nach, worauf sie ihm sagte, dass ein ihr sehr lieber Mensch an diesem Tag gestorben wäre. Sie wiegelt ab, als er sie fragte, wer es wäre. Sie wollte von ihm wissen, ob der Admiral zu Hause sei. Eine Tatsache, die er verneinte. Daraufhin teilte sie ihm mit, dass sie es ihm sagen würde, jedoch wollte sie zuerst etwas gegen ihre Kopfschmerzen einnehmen. Nachdem sie zurück in ihr Zimmer gekommen war, setzten sie sich auf ihr Bett und sie erzählte. Der Mann hieß Anton, er hätte sie aufgebaut, ihr Stärke gegeben, ihr gezeigt, wie man in der Wildnis überlebe. Welche Wildnis sie meinte, wusste er damals nicht. Jedenfalls war sie dem Mann derart dankbar, dass sie sich geschworen hätte, wenn sie mal ein Kind bekäme, dieses Anton zu nennen. Ihre Laune hellte sich immer mehr auf. Erst kabbelten sie, dann spielten sie Mutter und Tochter, denn er trug weiterhin das Kleid. Am Abend kochten sie gemeinsam Spaghetti mit Tomatensoße, aßen mit den Fingern. Das Donnerwetter zog mit dem Admiral auf. Dabei traf ihm keine Schuld, woher sollte er wissen, dass er ein Seidenkleid anhatte.

Der Bus fuhr an alten Villen und am Bürgerpark vorbei bis ins Zentrum. Die Türen schwangen auf, die Fahrgäste stiegen aus. Tanja stand auf, er blieb sitzen.
Sie winkte ihm zu, dabei grinste sie ihn an. „Komm, wir müssen aussteigen.“
Das Gesicht kreidebleich kauerte er an der Außenwand des Busses und stierte sie an.
Er presste die Arme eng an seinen Körper. „Ich fahre wieder nach Hause.“
Die Dame im Trenchcoat drängte an Tanja vorbei, während sie seine Hand ergriff.
„Wir steigen hier aus! Du benötigst unbedingt neue Kleider.“
„Mädchen in ihrem Alter sind nicht immer einfach, wenn ich an meine Enkeltochter denke …“ Die Grauhaarige verließ ihm ihr Gesicht zugewandt den Bus.
Tanja zerrte ihn aus dem Bus. Vereinzelte Tropfen fielen aus den Wolken. Sie schritt voran, er folgte mit gesenktem Kopf.
Er wollte ihr Boot nicht mehr haben. Dieses hatte er ihr im Treppenhaus klargemacht. Sie hatte gewonnen, damit war die Wette für ihn erledigt. Warum sie weiterhin darauf beharrte, war ihm schleierhaft? Er gab ihr ja recht. Wie oft hatte er früher gekniffen? Sie hatte ihn dann ermuntert, durchzuhalten. Diesmal übertrieb sie es.



Versunken in Tanjas Element

Sie betraten das erste Geschäft. Tanja schritt zielstrebig an ein Regal, bezahlte, kam auf Toni zu, der angstvoll neben der Ladentür stand.
Zuerst stopfte sie mehrere Verpackungen in ihre Handtasche, dann hielt sie ihm die Letzte unter die Nase. „Komm! Streife die dir über“, befahl sie.
Er stampfte mit seinem rechten Fuß auf den Boden. „Ich ziehe keine Strumpfhose an, nie und nimmer!“, schmetterte er in den Laden.
Tanja peinigte, bestrafte ihn. Weshalb war ihm bewusst. Dennoch wollte er den Kampf nicht für verloren zählen. In fast jeder anderen Situation hätte er gezickt, mit ihr ein kurzes Gefecht ausgefochten und dann in seiner Gnade sie gewinnen lassen. Diesmal war es anders. Warum konnte er nicht sagen? Angst kam in ihm auf. Dabei war eine Strumpfhose nicht mehr als ein Stück Stoff. Wenn er just in diesem Moment Robin Hood oder Weltraumprinzessin Shila gewesen wäre, dann hätte er möglicherweise nachgegeben. Allerdings wusste er in diesem Moment nicht einmal, ob Shila Strumpfhosen trug. Jedoch er war Torben Raubein, der schreckenerregende Pirat auf den Weltmeeren, da spielte es keine Rolle, ob er in Mädchenklamotten steckte oder nicht.
„Jetzt stell dich nicht so mädchenhaft an, wenn du …“
Sie brach ab.
„Wenn was?“
„Wenn du …“, sie winkte an, „vergiss es.“
Ein komisches Gefühl machte sich in ihm breit. Ein Gefühl, etwas Verbotenes gemacht zu haben, obwohl er nichts Verbotenes daran fand. Nur nicht jeder und erst recht Tanja oder der Admiral es unbedingt wissen mussten. Daher schmetterte ihr ein knappes, allerdings energisches „nein“ entgegen.

„Antonia, mit dieser verdreckten Leggings gehe ich mit dir nicht einkaufen.“
Er grinste sie an. „Dann fahren wir nach Hause?“
„Fang nicht wieder an.“ Sie packte seinen Oberarm. „Wenn du dich erkältest, bekomme ich vom Admiral den Ärger.“
Dass Tanja auf ihn sauer war, konnte er nachvollziehen, jedoch, dass sie Tante Bärbels Ansicht als Argument heranzog, damit übertrieb sie. Daher stellte er, wissend ihrer Antwort, auf Angriff um.
„Mama, diese Strumpfhose ziehe ich nicht an“, stieß er aus, wobei er ‚Mama‘ schrie, um die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, die Situation für Tanja, soweit er ihre Sicht einnahm, möglich peinlich dazustellen. „Wenn, dann eine von denen, die du trägst.“
„Eine Feinstrumpfhose? Die zerreißt du bereits beim Anziehen.“
Tanjas Gesichtsausdruck verriet ihm seinen Gewinn.
„Gut! Wir holen dir eine Legging.“

Die Verkäuferin, bei der Tanja bezahlt hatte, schritt auf sie zu.
„Kann ich Ihnen behilflich sein“, grummelte sie in einer Tonlage, die ihr Missfallen anzeigte, dabei nahm sie ihre Brille von der Nase, die an einem Band um ihren Hals hing.
Bei diesem Satz, bei dieser Betonung flog ein Lächeln über seine Lippen, denn als Nächstes kam ein Satz, den er liebte: „Es reicht mir, wir fahren nach Hause.“
Tanja öffnete ihren, allerdings spie sie nicht den von ihm erhofften Satz aus, sondern in aller Ruhe fragte sie die Dame, ob sie Leggings in 158 hätten oder in XS. Er bekam den Mund nicht zu.
Die Dame legte ihre Brille auf ihren prallen Busen ab, schnappte sich die Verpackung, die Tanja weiterhin hielt und nässelte: „Ich muss ihrer Tochter zustimmen, die ist wirklich nichts für junge Damen, außerdem sollen die Röcke dieses Frühjahr wieder kürzer werden. Dazu eine Leggings?“ Sie deutete auf eine Frau, die zusammen mit einem Mädchen ein Regal durchstöberte. „Nehmen Sie lieber eine kleine Damengröße.“
Jeglicher Lichtblick entschwand aus seinen Gedanken. Einen Umstand. Den Tanja mit ihrem Nicken unterstrich, jedoch ihre Worte klangen anders.
„Meine Sie nicht, dafür ist sie noch zu jung?“
Das Mädchen schien er gehört zu haben, denn sie sah ihn wie eine eingebildete Prinzessin an, als sei er das Trampel vom Dorf. Ihre Mutter wandte sich den Frauen zu. Der Blick der Hochnäsigen reizte ihn. Die Miene sagte ihm, er wäre unfähig, ein Versager, nicht imstande, diese Art Textilien zu handhaben. Er fühlte sich als Perfektionist, Streber oder Klugscheißer, war stolz darauf. Seine Gedanken schweiften zum Großvater, wie der ihn zum Segeln gebracht hatte.

Er war wasserscheu, gerade in die Badewanne war er gegangen. Er muss fünf gewesen sein, jedenfalls besucht er noch nicht die Schule. Da kam Tanja auf die Idee, sie könnten sich ein gemeinsames Hobby zu legen. Sein Opa war begeistert und schlug als alter Fahrensmann segeln vor, das sei für richtige Männer und da schloss er Tanja mit ein.
Das Verhältnis zwischen der Schwester und dem Großvater war herzlich, dennoch distanziert, eher kumpelhaft. Ob es daran lag, weil sie schon im Studium die Welt bereist hatte, oder sie sich mehrere Jahre aus den Augen verloren hatten, konnte er nicht sagen.
An die Nächte, die die beiden gemeinsam in der guten Stube verbracht hatten, wenn seine Großmutter im Nachbardorf ein Kind gehütet hatte, erinnerte er sich.
Lachend und trinkend hatten sie gefeiert. Ausschweifend, sodass er aufwachte. Dann stieg er die Treppe herunter, um sie zu beobachten, bis Tanja die Wohnzimmertür verschloss und bis auf ein paar merkwürdige Laute, die, das nahm er damals an, aus ihrem Mund kamen, Stille einkehrte.
Sein Opa, der ihm spannende Geschichten vorgetragen hatte, sonst wortkarg auf der alten Bank vor dem Haus saß, hatte ihn hereingelegt. Er würde nie ein Seemann werden, hatte er ihn ausgelacht. Wie sollte er jemals einen anständigen Seemannsknoten knüpfen, wenn er nicht in der Lage war, sich die Schuhe zu binden. Bei seinem nächsten Besuch hatte er es ihm dann mit verbundenen Augen vorgeführt, dass er, Torben, der größte aller Piraten werden würde.

In gleichen Maßen, wie er zuvor den Kauf ablehnte, überwältigte es ihn. Wie gerne wäre er an der Schnepfe vorbeistolziert, hätte sachkundig eine Beinbekleidung genommen, um diese seiner Schwester in die Hand zu legen.
„Meine Tochter trägt immer diese.“ Die Frau überreichte Tanja ein Päckchen, „Die sind damenhaft, aber trotzdem strapazierfähig.“
Die Verkäuferin bestätigte ihre Aussage, gleichzeitig senkte das Mädchen ihren Blick. Stolz, es ihr gezeigt zu haben, schwoll ihm die Brust.
„Candy, Perle oder Teint?“, sprudelte aus dem Mund der Verkäuferin.
„Ich dachte eher an Schwarz oder Marine, Hautfarbene finde ich altbacken.“
„Altbackend. Es ist wieder voll im Trend. Candy, Perle oder Teint?“
„Teint. Geben sie gleich zwei, ach, gleich drei und eine in Schwarz, man weiß ja nie.“
„Bitte!“, bestätigte die Verkäuferin.
Tanja machten einen Schritt zur Seite. „Antonia, schau mal, ist die nicht süß? Die nehmen wir auch.“
Er betrachtete die Packung, in der eine weiße Strumpfhose mit Herzchenmuster steckte. Es zupfte an sein Ohrläppchen. Es gab nichts Schrecklicheres, Grauenhafteres als große Schwestern. Schwestern, die immer gewinnen wollten.

Mit einer Strumpfhose bekleidet, die nach seinem Gefühl weniger die Beine warm hielt, als die Leggings, durchquerten sie die Fußgängerzone. Wie sehr wünschte er sich eine Hose. Allerdings eins wurmte ihn mehr. Wenn er sich überlegte, wie viel Zeit sie für eine Strumpfhose verplempert hatten, wie lange bräuchten sie für ein Kleid. Was noch grauenvoller für ihn war, waren diese vielen Menschen, dagegen fand er es im Strumpfgeschäft, obwohl dort auch mehr als zwei Personen waren, fast heimelig.

Von Geschäft zu Geschäft hellte sich Tanjas Gemüt auf. Er verlor die Pein. Es machte ihm teilweise Spaß, sich vor seiner Schwester zu postieren, sich in den wallenden Kleidern zu drehen, die sie ihm brachte. Er empfand keine auf ihn ruhende Blicke mehr.
Sie gönnte ihm eine halbe Stunde Pause. Er durfte in einem Buchladen schmökern, während sie, wie sie sagte, Besorgungen erledigte.

Mit Tüten bepackt, in den zwei Kleider sowie andere Utensilien lagen, von den Tanja behauptete, er müsse sie haben, fuhren sie die Rolltreppe einer Passage herauf.
Sie hatten das Obergeschoss erreicht, da schreckte er zusammen. Eine ihm bekannte Person verließ in ihre Richtung eine Boutique. Ein Wendemanöver verwarf er. Der Gang war zu eng. Die Passanten, die ihnen folgten, drängten nach vorne. Er hatte drei Optionen, entweder er sprang über das Geländer in die Tiefe oder dies war für ihn vollkommen absurd, er rannte in das Geschäft für Dessous, an dem sie vorbeigegangen waren. Allerdings stände er dann in einem Erklärungsnotstand. Oder weiter geradeaus und beten. Er wählte die dritte Variante.
Die Person kam näher. Es war Sonja, ein Mädchen aus seiner Klasse, wie immer auffallend geschminkt. Sie trug ein kalkweißes Minikleid und stolzierte auf ihren hochhackigen Schuhen auf ihn zu.

Sonja und ihre Clique ließen keine Chance aus, jemanden zum Gespött der Schule zu machen. Erst recht dann, wenn sie diesen verachtete. Und sie mochte ihn am allerwenigsten aus der Klasse. Für sie war er ein Streber. Was konnte er dafür, dass der Segen mit Intelligenz bei ihr mickrig ausfiel? Sie war sogar einmal hängen geblieben, das war in einem Bremer Gymnasium eine reife Leistung.
Trotzdem schaffte sie es immer wieder, sich in den Vordergrund zu spielen. Sie beutete jeden aus. Wer ihr abging, ihr die Stirn zeigte, nicht nach ihrer Nase tanzte, den ließ sie fallen.
Sie hatte Charisma, überdies bereits eine weibliche Figur. Das konnte niemand, erst recht er, ihr nicht vorwerfen. Ihre ausgeprägten Brüste stellte sie gerne zur Schau. Sie trug knappe Röcke und hochhackigen Schuhe. Ihr langes, goldblondes gewelltes Haar umschmeichelte ihre zarten Schultern. Sonjas Taille war dünn, ihr Becken ausladend, sodass sie beim Wandeln über die Schulflure ihre Hüfte sanft im Rhythmus schwang, wie ein Boot bei einer leichten Brise. Ja, sie hatte was, das nutze sie aus.

Tonis Puls raste, sein Herz klopfte, die Knie wurden ihm weich. Einen eingeschlagenen Kurs niemals ändern, hörte er die Stimme seines Großvaters, durchhalten und Augen zu. Sonjas erhobene Nase war das Letzte, was er sah. Bewusst wahrnahm.



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Tami
 
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Paulina

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Ojemine, liebe(r) ahorn!
Bei der Anrede merkst du sicher schon, dass was im Argen liegen muss.
Ich habe bisher nur den Prolog gelesen und weiß daher nicht, wohin die Geschichte führt. Im Klappentext steht "neu", und daher nehme ich an, dass das hier schon eine überarbeitete Fassung ist, was ich nicht verstehe, denn es wimmelt z.B. von Fehlern und seltsamen Verben, die eine wörtliche Rede einführen bzw. ausführen.
Also dann:



Prolog

Ein Mann mit graumelierten Schläfen hielt die Hände abwehrend vor dem Körper[red], d[/red]ie Augen starr auf die Mündung einer Schrotflinte gerichtet.
»Mach dich nicht unglücklich!«, [red]trat[/red] er einen Schritt zurück.
[blue]Das meine ich mit seltsamen Verben, die nicht zur wörtlichen Rede passen. Da kommen noch mehr, die ich wahrscheinlich einfach nur noch kennzeichnen werde.[/blue]
»Du bist es. Du bist das Schwein immer gewesen«, donnerte die Frau, die die Waffe im Anschlag hielt.
»Nein!«, [red]verzog er sein Gesicht.[/red]
[blue]Für besser halte ich es, wenn du einfach so verfährst: "Nein!" Er verzog sein Gesicht.[/blue]
»Er war auf einmal hier!«
»Wir sind allein«, [red]legte[/red] sie den Finger an den Abzug. »Und die Schatulle«, sie kickte an eine erdbeschmierte Kiste, »hat der Weihnachtsmann gebracht!«
»Ich weiß nicht was du meinst«, entgegnete er mit zitternder Stimme, trat einen weiteren Schritt zurück. »Denk an dein Kind«, [red]betrachte er ihren Bauch.[/red] [blue] Unglückliche Formulierung[/blue]
Die Blonde senkte die Waffe. »Ich wollte das Kind nie haben«, [red]sagte sie und [/red] [strike]sie[/strike] strich über ihren gewölbten Leib[red].[/red] [strike]»nie haben«[/strike]. Sie nahm mit einem heiseren Lachen das Gewehr wieder in den Anschlag.
»Lass uns fahren«, [red]zuckte[/red] er, »du musst in die Klinik. Der Wagen ist schon gepackt!«
»Warum hast du mich dann nicht wie verabredet«, zog sie ihre Augenbrauen zusammen, »vor einer Stunde abgeholt?«
[blue] Warum schiebst du hier die wörtliche Rede ein? Lass sie doch erst fragen und dann die Augenbrauen zusammenziehen. So ist die Konstruktion unglücklich und kompliziert,[/blue]
[red]Er schüttelte den Kopf. [/red]»Der Kühler war wieder defekt«, [strike]schüttelte er den Kopf.[/strike] »Ich bin noch einmal zurück!«
»Lüge nicht«, zischte sie. »Ich habe ihn letzten Monat geschweißt«, sie krümmte sich. »Verrecken wolltest du mich lassen«, [red]Sie presste[/red] [strike]sie[/strike] die Lippen aufeinander[red].[/red] »Wie damals.«
»Ich liebe dich«, [red]hielt er ihr die Handflächen entgegen.[/red]
[blue]Das passt hier wieder nicht. Er sagt das doch. Oder steht es auf seinen Handflächen? [/blue]
»Abhauen wolltest du«, sie spuckte auf den Boden. »Die Kiste stand neben deinem Land Rover!« Sie stellte ihren Fuß auf die Box. »Deinen Blutzoll nicht vergessen«, [red]krümmte sie sich abermals. [/red] [blue]s.o.[/blue]»Meine Mutter hast du schon vertrieben.«
»Wir haben un[red]s[/red] nicht mehr verstanden«, [red]schritt er auf sie zu. [/red] [blue]s. o. Falsche Beziehung zur wörtlichen Rede![/blue]


Ein Mann mit breiten Schultern in brauner Hose und Hemd schlich[red]t[/red] sich in das abgedunkelte Zimmer. Er hielt einen verschmierten Spaten über sein[red][strike]en[/strike][/red] Haupt. Der Graumelierte schaut[red]e[/red] ihn an. Er zeigt[red]e[/red] auf ihn. Das Grabwerkzeug saust[red]e[/red] auf den Kopf der Frau. [blue] Fehler in der Zeitform[/blue] Ein Schuss löste sich. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall donnerte durch den Raum.

Die Wucht des Aufpralles schleuderte den Körper des Mannes zu Boden, Blut schoss aus seinen Leib. Die Schwangere stürzt[red]e[/red] vor ihm auf die Holzdielen.

Der Breitschultrige schaute sich um, schnappte die Schatulle, rannte aus dem Zimmer. Mit leeren Händen stürmt[red]e[/red] er wieder herein. Er trat an den blutüberströmten Körper, kniete sich nieder. Seine Finger betasteten den leblosen Schädel. Er stand auf, verzog sein Gesicht, schmetterte den rechten Fuß gegen den Leichnam. Mit hektischer Kopfbewegung schaute er auf die Frau, die reglos auf ihren Bauch lag. Mit blutverschmierter Hand drehte er die Schwangere auf den Rücken. Mit einem Zittern legte einen Arm unter ihr Genick, den Anderen unter ihre Knie, trug sie aus dem Haus. Er stampfte zu dem geparkten grünen Geländewagen. Mit einem Finger öffnete er die Beifahrertür, [strike]platzierte[/strike] [red]plazierte[/red] den schlaf[red]f[/red]en Körper auf den Sitz. Aus seiner Brusttasche fischte er eine schwarze Sonnenbrille, setzte sie auf, schlug die Autotür zu. Mit ausladenden Schritten rannte er um den Wagen, sprang auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend raste er über die sandige Piste.

Ein gelber Jeep hielt vor der Holzhütte. Ein Mann in einem schwarzen Gewand[red]ohne Komma[/red] sprang heraus, spurte ins Gebäude. Der dritte Schuss fiel. Der dunkel gekleidete Herr rannte zurück zum Wagen, trug die Schrotflinte unter dem Arm geklemmt, stieg ein, fuhr ab.


Eine halbe Stunde später, [red]f[/red]ünfzig Kilometer weiter.

Eine dunkelhäutige Frau in einem hellblauen Kleid, mit weißer Schürze, einer Haube auf ihrem gelockten schwarzen Haar [red]hechtete[/red] über eine hölzerne Veranda eines kalkig, getünchten Gebäude.
[blue]"Hechtete" finde ich hier seltsam.[/blue]
Sie drückte ihr Becken an das Geländer, legte eine Hand flach an ihre Augenbrauen [blue Dann sieht sie doch nichts mehr! Sie hielt ihre Hans sicher über den Augenbrauen[/blue], sah nach rechts, nach links, drehte sich um, verschwand im Haus.

Der grüne Geländewagen hielt, eine Staubwolke hinter sich herziehend, direkt vor dem Holzhaus. Der Breitschultrige sprang aus dem Gefährt, marschierte um das Fahrzeug herum, ergriff die bewusstlose Schwangere.
Ein Herr mit bleichem [red] hellem?[/red] Hemd, gleichfarbiger Hose trat auf die Veranda.

„Was machst du hier“, schnauzte er.
„Ich brauche deine Hilfe“, schaute der Andere auf das Mädchen.
Der hell Gekleidete lief i[red]h[/red]m entgegen, starrte die Frau an.
„Ich dachte Toni bringt sie vorbei“, [red]legte er die Hand auf ihr Gesicht[/red].
[blue] Wie oben. Nicht zur wörtlichen Rede passende Formulierung[/blue]
„Was ist passiert?“
„Rette das Kind!“, [red]trug der Breitschultrige sie die Treppe herauf.[/red]
[blue] Wie oben, falschen Beziehung zur wörtliche Rede.[/blue]
„Sie scheint nur ohnmächtig“[red]. Er fühlte [strike]er[/strike] ihren Puls.[/red] „Schwester Elsbeth kümmert sich um sie!“, [red]sah er zur Tür,[/red] in welche zuvor die Frau in Schwesterntracht verschwunden war.
[blue] Wie oben.[/blue]
„Ist dein Wagen fahrbereit?“
„Warum?“, fragte der, der das Mädchen hielt.
„Komm!“, unterstützte der Andere den Tragenden.
Die Männer trugen die Schwangere ins Haus.

Ein paar Wimpernschläge später erschienen sie wieder, eine Krankentrage mit den Händen [red]ergriffen.[/red] [blue] Unglückliche Formulierung[/blue]
„Vom Baum ist sie gefallen?“, stöhnte der Breitschultrige.
„Eine[red]m[/red] blöden Affen musste sie hinterher“, ächzte der weiß gekleidete Herr, „weil er ihr ihren Ring gemopst hat“, schüttelte er den Kopf, „Wie oft habe ich ihr erklärt. Was die Viecher haben, haben sie!“
Die Männer wuchteten die Trage auf die Ladefläche des Geländewagens.
„Du bist doch Arzt!“
„Sie hat innere Verletzungen, das kann ich hier nicht behandeln!“
Die Frau stöhnte.
„Und wo ist dein Krankenwagen?“, [red]tupfte sich der breitschultrige Mann Schweiß von der Stirn.[/red] [blue] Denk an die entsprechenden Wörter, die zur wörtlichen Rede passen! "Fragte" könnte hier passen, und dann kann sich der Mann natürlich auch noch den Schweiß von der Stirn tupfen. :)[/blue]
„Simon ist in der Stadt. Besorgungen!“, [red]pustete[/red] der Arzt.

Eine junge Frau in einem hellblauen Kleid, mit weißer Schürze erschien an einer Hausecke.
„Wartete, ich komme mit!“
„Bleib bei dem Kind!“, entgegnete der Mediziner.
„Dem geht es gut“.[blue] Sie sah zum Gebäude.[/blue] „Beth ist doch da!“
„Gut, dann geh ins Haus und bring die kleine Ledertasche“, [red]sprang der Arzt auf die Ladeflächen[/red], hielt den Kopf der Bewusstlosen. Das Mädchen lief hinein. [blue]wie oben: Passt nicht zur wörtlichen Rede.[/blue]

Die Frau hüpfte die Treppen herab, [red]hechtete[/red] [blue] Wie muss ich mir das vorstellen? Kopfsprung? :)[/blue]in den Wagen.
„Schnall dich an“, schrie der Mann auf der Ladefläche. „Der Typ hat einen rasanten Fahrtstil“
Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch, das Fahrzeug sauste davon.

Ein gelber Jeep folgte ihm.

**************

So, fertig.
Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.
Das sind alles nur Vorschläge. Es ist deine Geschichte. Ich würde mich aber freuen, wenn du das hier als Hilfe siehst.
Viele Grüße
Paulina
 

ahorn

Mitglied
Prolog

Ein Mann mit graumelierten Schläfen hielt die Hände abwehrend vor dem Körper. Die Augen starr auf die Mündung einer Schrotflinte gerichtet.
Er trat einen Schritt zurück. »Mach dich nicht unglücklich!«
»Du bist es. Du bist das Schwein immer gewesen«, donnerte die Frau, die die Waffe im Anschlag hielt.
»Nein!« Er verzog sein Gesicht. »Er war auf einmal hier!«
»Wir sind allein!« Sie legte erneut den Finger an den Abzug. »Und die Schatulle«, sie kickte an eine erdbeschmierte Kiste, »hat der Weihnachtsmann gebracht!«
»Ich weiß nicht was du meinst«, entgegnete er mit zitternder Stimme, trat einen weiteren Schritt zurück, betrachte ihren Bauch. »Denk an dein Kind«
Die Blonde senkte die Waffe. »Ich wollte das Kind nie haben!« Sie strich über ihren gewölbten Leib, nahm mit einem heiseren Lachen das Gewehr wieder in den Anschlag.
»Lass uns fahren«, er zuckte, »du musst in die Klinik. Der Wagen ist schon gepackt!«
Sie zog ihre Augenbrauen zusammen. »Warum hast du mich dann nicht wie verabredet vor einer Stunde abgeholt?«
»Der Kühler war wieder defekt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin noch einmal zurück!«
»Lüge nicht«, zischte sie. »Ich habe ihn letzten Monat geschweißt.« Sie krümmte sich. »Verrecken wolltest du mich lassen.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Wie damals.«
Er hielt ihr die Handflächen entgegen. »Ich liebe dich.«
»Abhauen wolltest du.« Sie spuckte auf den Boden. »Die Kiste stand neben deinem Land Rover!« Sie stellte ihren Fuß auf die Box. »Deinen Blutzoll nicht vergessen.« Sie krümmte sich abermals. »Meine Mutter hast du schon vertrieben.«
Zögernd schritt er auf sie zu. »Wir haben und nicht mehr verstanden.«


Ein Mann mit breiten Schultern in brauner Hose und Hemd schlicht sich in das abgedunkelte Zimmer. Er hielt einen verschmierten Spaten über sein Haupt. Der Graumelierte schaute ihn an. Er zeigte auf ihn. Das Grabwerkzeug sauste auf den Kopf der Frau. Ein Schuss löste sich. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall donnerte durch den Raum.

Die Wucht des Aufpralles schleuderte den Körper des Mannes zu Boden, Blut schoss aus seinen Leib. Die Schwangere stürzt vor ihm auf die Holzdielen.

Der Breitschultrige schaute sich um, schnappte die Schatulle, rannte aus dem Zimmer. Mit leeren Händen stürmt er wieder herein. Er trat an den blutüberströmten Körper, kniete sich nieder. Seine Finger betasteten den leblosen Schädel. Er stand auf, verzog sein Gesicht, schmetterte den rechten Fuß gegen den Leichnam. Mit hektischer Kopfbewegung schaute er auf die Frau, die reglos auf ihren Bauch lag. Mit blutverschmierter Hand drehte er die Schwangere auf den Rücken. Mit einem Zittern legte einen Arm unter ihr Genick, den Anderen unter ihre Knie, trug sie aus dem Haus. Er stampfte zu dem geparkten grünen Geländewagen. Mit einem Finger öffnete er die Beifahrertür, platzierte den schlafen Körper auf den Sitz. Aus seiner Brusttasche fischte er eine schwarze Sonnenbrille, setzte sie auf, schlug die Autotür zu. Mit ausladenden Schritten rannte er um den Wagen, sprang auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend raste er über die sandige Piste.

Ein gelber Jeep hielt vor der Holzhütte. Ein Mann in einem schwarzen Gewand sprang heraus, spurte ins Gebäude. Der dritte Schuss fiel. Der dunkel gekleidete Herr rannte zurück zum Wagen, trug die Schrotflinte unter dem Arm geklemmt, stieg ein, fuhr ab.


Eine halbe Stunde später, Fünfzig Kilometer weiter.

Eine dunkelhäutige Frau in einem hellblauen Kleid, mit weißer Schürze, einer Haube auf ihrem gelockten schwarzen Haar hetzte über eine hölzerne Veranda eines kalkig, getünchten Gebäude. Sie drückte ihr Becken an das Geländer, legte eine Hand flach an ihre Augenbrauen, sah nach rechts, nach links, drehte sich um, verschwand im Haus.

Der grüne Geländewagen hielt, eine Staubwolke hinter sich herziehend, direkt vor dem Holzhaus. Der Breitschultrige sprang aus dem Gefährt, marschierte um das Fahrzeug herum, ergriff die bewusstlose Schwangere.
Ein Herr mit hellen Hemd, gleichfarbiger Hose trat auf die Veranda.

»Was machst du hier«, schnauzte er.
Der Andere schaute auf das Mädchen.»Ich brauche deine Hilfe.«
Der hell Gekleidete lief ihm entgegen, starrte die Frau an.
»Ich dachte Toni bringt sie vorbei.« Er legte die Hand auf ihr Gesicht. »Was ist passiert?«
Der Breitschultrige trug sie die Treppe herauf. »Rette das Kind!«, zischte er den Anderen an.
»Ja!« Er fühlte ihren Puls. »Sie scheint nur ohnmächtig Schwester Elsbeth kümmert sich um sie!« Er sah zur Tür, in welche zuvor die Frau in Schwesterntracht verschwunden war. »Ist dein Wagen fahrbereit?«
»Warum?«, fragte der, der das Mädchen hielt.
»Komm!« Der Andere unterstützte den Tragenden.
Die Männer trugen die Schwangere ins Haus.

Ein paar Wimpernschläge später erschienen sie wieder, eine Krankentrage mit den Händen ergriffen.
»Vom Baum ist sie gefallen?«, stöhnte der Breitschultrige.
»Einen blöden Affen musste sie hinterher«, ächzte der weiß gekleidete Herr, »weil er ihr ihren Ring gemopst hat.« Er schüttelte den Kopf. »Wie oft habe ich ihr erklärt. Was die Viecher haben, haben sie!«
Die Männer wuchteten die Trage auf die Ladefläche des Geländewagens.
»Du bist doch Arzt!«
»Sie hat innere Verletzungen, das kann ich hier nicht behandeln!«
Die Frau stöhnte.
»Und wo ist dein Krankenwagen?« Der breitschultrige Mann tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
»Simon ist in der Stadt. Besorgungen!«, schnaufte der Arzt.

Eine junge Frau in einem hellblauen Kleid, mit weißer Schürze erschien an einer Hausecke.
»Wartete, ich komme mit!«
»Bleib bei dem Kind!«, entgegnete der Mediziner.
»Dem geht es gut.« Sie sah zum Gebäude. »Beth ist doch da!«
»Gut, dann geh ins Haus und bring die kleine Ledertasche.« Der Arzt sprang auf die Ladeflächen, hielt den Kopf der Bewusstlosen. Das Mädchen lief hinein.

Die Frau hüpfte die Treppen herab, lief zum Wagen. Mit wehenden Haaren sprang sie auf den Beifahrersitz.
»Schnall dich an«, schrie der Mann auf der Ladefläche. »Der Typ hat einen rasanten Fahrtstil«.
Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch, das Fahrzeug sauste davon.

Ein gelber Jeep folgte ihm.
 

ahorn

Mitglied
Danke Paulina,

es war keine überarbeitete Fassung - hätte dann überarbeitet angefügt.

Nein. Es war die falsche Fassung. Aber danke für deinen Kommentar - freue mich sehr darüber. Dann schreibt man nicht in den Luftleeren-Raum.

Der Prolog ist alles andere als Rund, musste ihn dennoch herausbringen, da der Leser sonst die anderen Kapitel, die jetzt folgen, nicht versteht.
 

ahorn

Mitglied
Prolog

Ihm gelang die Flucht durch den Hintereingang des Gebäudes. Wobei Gebäude übertrieben. Eine Hütte kaum größer einer Standardgarage, dafür mit zwei Eingängen, gleichvielen Veranden, wie üblich in dieser Gegend. Mit Ausnahme der doppelten Veranda. Der Zimmermann musste verrückt gewesen sein. Das Ding sah aus, als hätte er zwei Bretterbuden am First auseinander gesägt und überkreuz wieder zusammen genagelt. Er kratzte sich am Genick. Wer wohl das zweite Haus bewohnte.

Er schlich um die Hütte, spähte durch die verdreckte Fensterscheibe. Der Hausherr schritt suchend durch sein Reich. Er sollte woanders sein.
Er huschte gebückt weiter bis zum vorderen Vordach, zumindest hatte er die Beute nicht mit in die Bude getragen. Was ging es ihn an, warum dieser Einsiedler zu früh heimgekehrt war. Er hatte, was er wollte.

Der Leihwagen stand abseits an der Hauptstraße. Wieder eine Übertreibung, eine Piste mit einer Breite, dass zwei landläufige Wagen, ohne abzurutschen, aneinander vorbei fuhren.

Er kam nicht weit. Eine Frau erschien am Ende der Zufahrt. Mit einem Hechtsprung versteckte er sich hinter dem Geländewagen des Griesgrams, dabei glitt ihm die Schatulle aus der Hand.
Ihm Stechschritt, wie ein Soldat, der unter dem Hemd eine Melone trug, kam sie näher, keine Zeit seine Beute in Sicherheit zu bringen.
In der Hoffnung sie würde ihn nichts sehen, kroch er um den Wagen herum. Er kannte die aparte Frau, hatte sie die ganzen Jahre in Beobachtung. Sie hatte ihn nur einmal zu Gesicht bekommen, das sollte so bleiben.
Er atmete auf, nachdem sie vorbei marschiert war. Dann wendete sie, kam zurück, schnappte sich die schuhkartongroße Kiste und stampfte erneut zur Hütte. Innerhalb von Sekunden hatte er ein Problem, zwei Hindernisse.

In gebückter Haltung schlich er zur Veranda. Die Tür war angelehnt. Er sah sie nicht, nur ihn.
Der Mann strich fahrig durch sein ockernbraunes, extrem gewelltes Haar. Ein Sonnenstrahl lies die grau melierten Schläfen leuchten, brachen sich in den Schweißtropfen, die über das gegerbte Gesicht perlten. Er streckte seine muskulösen, behaarten Arme vom Körper ab. Die Hände mit gerissenen Schwielen ausladend wie Kuchenteller. Die tief liegenden Augen starr auf sie gerichtet.

Der Griesgram trat einen Schritt zurück. »Mach dich nicht unglücklich!«, summte er.
»Du bist es. Du bist das Schwein immer gewesen«, giftete die Frau.
»Nein!« Er verzog seinen Mund zu einem Schrei. »Er war auf einmal hier!«
»Wir sind allein!«, zischte sie. »Und die Schatulle!«
Er sah, wie sie ihren zarten nackten Fuß gegen die Kiste kickte.
»Hat der Weihnachtsmann gebracht!«, schnaufte sie.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete er mit zitternder Stimme, sein Fuß tastete zurück. Er betrachtete sie. »Denk an dein Kind«,

»Ich wollte das Kind nie haben!«, fluchte sie,
»Lass uns fahren.« Er öffnete die rechte Hand. »Du musst in die Klinik.«
»Warum hast du mich dann nicht wie verabredet vor einer Stunde abgeholt?«
Er schüttelte seinen massigen Schädel. »Der Kühler war wieder defekt.«, stotterte er, »Ich bin noch einmal zurück!«
»Lüg nicht«, zischte sie. »Ich habe ihn letzten Monat geschweißt. Verrecken wolltest du mich lassen.« Sie stockte. »Wie damals«, schrie sie.
Seine linke Wange zuckte. »Ich liebe dich.«
»Abhauen!« Ihre Spucke benetzte den Boden. »Die Kiste lag neben dem Land Rover!« Sie stellte ihren zierlichen Fuß auf die Box. »Deinen Blutzoll nicht vergessen. Meine Mutter hast du schon vertrieben.«
Zögernd schritt er auf sie zu. »Wir haben uns nicht mehr verstanden.«

Die Mündung einer zweiläufigen Schrotflinte erschien direkt auf den Mann gerichtet in seinem Blickfeld. Diese Wendung sollte die Geschichte nicht einschlagen. Zumindest hätte sich ein Problem für ihn gelöst. Sie traf eine Kobra auf hundert Metern Entfernung zwischen deren Augen.
»Reingehen sie überzeugen«, dachte er. Er schüttelte den Kopf. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte, trieb ihren Schädel durch die Wand, machte keine Gefangene und, genauso sarkastische wie es Klang, schritt über Leichen.
»Hineinstürmen den Lauf erfassen?«, murmelte er, bei der Entfernung das Todesurteil für ihn.

Er schaute sich um, erblickte den Spaten, mit dem er zuvor die Holzdiele aus der Veranda gebrochen hatte.
Das vergammelte Grabwerkzeug über seinen Schädel, zwinkerte er ihm zu. Der Graumelierte glotze ihn an, deuten auf ihn. Das Blech sauste auf den Kopf der Schwangeren. Der Donner eines Schusses bebte durch die Luft. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall schlug durch den Raum.

Die Wucht des Aufpralls schleuderte den Körper des Mannes zu Boden, Blut quoll aus seiner muskelbepackten Schulter. Sie stürzte vor ihm auf die Holzdielen.

Er sah sich um, schnappte die Schatulle, rannte aus dem Zimmer. Tief durchatmend warf er die Beute auf die Ladefläche des Landrovers, schritt zur Fahrerseite, blieb sein gesenktes Haupt schüttelnd stehen. Hatte er sie nicht schon einmal ohne Hilfe ihrem Schicksal überlassen. Er kehrte um, stürmte erneut in die Hütte.

Er trat an den blutüberströmten Körper, kniete sich nieder. Seine Fingerspitzen betasteten den leblosen Schädel, berührte die klaffende Wunde an der Schulter. Der Kerl hatte Glück, unter Umständen später Probleme, aber sterben würde er nicht. Er wedelte mit der Hand vor der eigenen Nase. Wenigstens würde er sich an nichts erinnern. Die Fahne flatterte ihm meterweit voraus. Dabei trank er nie, zumindest nicht um diese Uhrzeit.

Er stand auf, verzog sein Gesicht, schmetterte den rechten Fuß gegen den nahezu Leichnam. »Vollidiot!«, zischte er.
Den Kopf hektisch wendend schaute er auf die reglose daliegende. Mit blutbefleckt Fingern drehte er die Schwangere auf den Rücken. Röchelnd legte er einen Arm unter ihr Genick, den Anderen unterhalb ihrer Knie. Stemmte sie in die Höhe. Die morschen Dielen knacksten bei jedem Schritt. Er trug sie aus dem Haus, stampfte zu dem geparkten grünen Geländewagen. Mit einem Finger öffnete er die Beifahrertür, platzierte den schlafen Körper auf den Sitz. Pustend fischte er eine schwarze Sonnenbrille aus der Brusttasche des Hemdes, setzte sie auf, schlug die Autotür zu. Mit ausladenden Schritten rannte er um den Wagen, sprang auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend raste er über die sandige Piste.

Abermals schmetterte ein Schuss durch die Stille, sodass ein Schwarm Webervögel aus der Krone einer Akazie emporflog. Nachdem die Vogelwelt wieder zur Ruhe gekommen war, rannte ein Mann in einem schwarzen Gewand aus dem Gebäude. Er trug eine Schrotflinte unter dem Arm und spurtete zu einem Buschwerk. Ein Motor heulte auf und er fuhr mit einem zitronenfarbenen Jeep davon.


Eine halbe Stunde später, Fünfzig Kilometer weiter.

Eine Frau in einem hellblauen Kleid, mit kalkweißer Schürze, einer Haube auf ihrem gelockten, schwarzen Haar hetzte über eine hölzerne Veranda eines kalkig, getünchten Gebäude. Sie drückte ihr Becken an das Geländer, legte eine Hand flach an ihre Augenbrauen, sah nach rechts, nach links, drehte sich um, verschwand im Haus.
Ein Herr mit sandfarbenen Hemd, gleichfarbiger Hose trat auf die Veranda. Die Schwarzhaarige folgte ihm.
Sie presste die Hände an ihre kaffeebraunen faltigen Wangen. »Doc, wo bleibt der Simon?«, schluchzte sie.
Doc hob den Kopf, hielt seine Hakennase in den Wind. »Wenn er überhaupt durchkommt«, stöhnte er und zeigte den Hang herab. »Beth das Feuer kommt immer näher!« Er griff mit beiden Händen in sein kurzgeschorenes hellbraunes Haar, das an den Ohren silbrig glänzte. »So ein heftiges Buschfeuer habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.« Die schmächtigen Arme ausgebreitet schaute er sie an. »Es hat bestimmt die Hauptstraße schon erreicht«, pustete er. »Dann ist ein Durchkommen unmöglich.«
Beth bedeckte erneut ihr Gesicht, schlich mit dem Kopf wackelnd ins Haus. Er schloss seine stechenden Augen, atmete tief ein, folgte ihr mit einer auf der hohen Stirn gelegten Hand.

Der grüne Geländewagen, zog eine Staubwolke hinter sich her, hielt vor dem Holzhaus. Er sprang aus dem Gefährt. Ein kräftiger Windzug trieb Sand durch sein kurzes blauschwarzes Haar. Mit einer Hand das Gesicht bedeckt, marschierte um das Fahrzeug herum. Er öffnete die Beifahrertür, stemmte die bewusstlose Frau auf seine Arme.

Doc trat auf die Veranda. »Was willst du hier«, brüllte er ihm entgegen, stampfte auf ihn zu, untersuchte die Schwangere, füllte ihren Puls. »Sie ist ohnmächtig«, diagnostizierte er. »Wir bringen sie rein. Beth muss sich um sie kümmern«, schnaufte er.

Ein paar Wimpernschläge später erschienen sie wieder, eine Krankentrage mit den Händen ergriffen.
»Vom Baum ist sie gefallen?«, stöhnte er unter der für ihn ungewohnten Last.
»Quatsch. Ich dachte du hättest es gleich gesehen«, schnaufte Doc. »Eine Kapcopra hat sie gebissen!«
»Du bist Arzt! Hast du kein Serum?«, fragte er.
Doc rollte mit den Augen. »Dann hätt ich es ihr wohl gegeben!«

Die Männer wuchteten die Trage auf die Ladefläche des Geländewagens.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wo ist euer Krankenwagen?«, stöhnte er.
»Kerl«, zischte der Arzt. »Kannst du aufhören Dumme fragen zu stellen!«, zürnte er und sprang auf die Ladefläche. »Der Sanitätswagen hat einen Motorschaden und Simon ist mit dem Golf zur Notfallzentrale Serum besorgen«, schnaufte er und versuchte die Trage zu befestigen. »Ihm fahr ich entgegen. Sag du mir vielmehr, warum du mit Antons LandCruser hier auftauchst und nicht er, wie verabredet.«
Er faste sich ans Genick und senkte den Blick. »Er ist unabkömmlich«, stotterte er.

In die Stille, die kurz eintrat, erklang das Schreien eines Babys.
»Vergiss es«, zischte er und deutete die Einfahrt herunter. »Wenn Simon durch den Brand durchgekommen wäre, wäre er längst hier. Vor zwei Stunden war das Feuer nahe am Zedernwald, wenn der brennt, gibt es keinen Weg mehr ins Tal.«

Eine junge Frau in einem hellblauen Kleid, mit blütenweißer Schürze erschien an einer Hausecke.
Sie winkte den Arzt zu. »Wartete, ich komme mit!«, keuchte sie.
»Bleib bei dem Kind!«, entgegnete der Mediziner. »Die Fahrt wird zu gefährlich.«
»Alles gut.« Sie sah zum Gebäude. »Beth ist da! Und ich kenne keine Angst.«
Doc schüttelte den Kopf. »In Ordnung, geh rein und bring die lütte Ledertasche.«

Er deutete den Weg entlang, von dem er gekommen war. »Wir müssen rauf nach Lesotho. Gleich hinter der Grenze ist ein Quacksalber!«
Doc tippte mit einem Zeigefinger an seine faltige Schläfe. »Der alte Tom, wie soll dieser Medizinmann ihr helfen«, grunzte er.
Die verschwitzte Stirn in Falten gelegte, zog er die Schultern hoch. »Alt ja. Verschroben ok. Aber nicht dumm.«, grinste er. »Der hat Serum!« Er wandte sich ab. »Vertraue mir!«
»Dir soll ich vertrauen, auf dich kann man nicht bauen«, schrie der Mann von der Ladefläche.
Er schritt zur Fahrertür. »Hab ihr eine Wahl«, wieherte er, kletterte ins Fahrzeuginnere.

Die blutjunge Frau im hellblauen Kleid hüpfte die hölzerne Treppe des Hauses herab. Sie rannte mit wehenden Haaren zum Wagen, sprang ohne sich umzusehen, auf den Beifahrersitz.
»Schnall dich an«, schrie Doc von der Ladefläche. »Der Idiot hat einen rasanten Fahrstil«.
Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch und das Fahrzeug raste davon.

Ein zitronenfarbener Jeep folgte ihnen.

Dreizehn Jahre später.

Wie ein Pennäler, der auf eine Prüfung wartete, schlich er die Straße auf und ab. Gewissheit verschaffen. Jedes Mal, wenn seine Tochter von dem Thema anfing, hatte er sie für verrückt erklärt. Ganz sauber im Kopf war sie nie gewesen. Wie ihre Mutter lebte sie oft in ihrer eigenen Welt, verbog die Wahrheit, bis sie passte.
Es war alles absurd. Geprüft hatte er die Fakten. Keine Unstimmigkeiten, keinen Schwindel entdeckt. Gesehen hatte er sie einmal, sie war nicht mehr wie früher, älter, gereifter. Kein Grund, ihr etwas anzudichten. Komisch, merkwürdig mitunter schräg und unkonventionell erschien sie ihm, dennoch ihre Sache und seine Tochter nicht unschuldig.

Die Andeutungen des betrunkenen Alten, den er mit Vergnügen hinter Gittern gesehen hätte. Damals, so nah war er ihm.
Er schlug mehrmals an seine Stirn. Unerfahren war er gewesen. Verwickelte sich selbst ins Netz. Geschichte! Vergessen! Ihm zu trauen, wäre wie einem hungrigen Löwen einen Zahn zu ziehen.

Sogar an den Ort des Geschehens war er gereist. Die Papiere ohne Beanstandung. Gerüchte waren es, die ihn weiter trieben. Die eine Spur, die ihn zweifelte. Erneut eine Verrückte in der er sich verliebte. Er zog diese Frauen an. Spürte gleich, dass sie keine Mörderin war. Seine mehrjährige Erfahrung und der Umstand, dass er den Täter kannte, untermauerten sein Gefühl. Trotzdem war sie irrsinnig. Getrieben von dem Wahn jemand anders zu sein. Er lies sie aus Liebe in ihrem Glauben. Die endlosen Verhöre, die jahrelange Haft zermürbten jeden, ob schuldig oder unschuldig. Erst recht als einzige Weiße in einem afrikanischen Kerker. Er brauchte ihre Erklärungen nicht, um sich vorstellen, was sie mit ihr angestellt hatten. Es war ein Unrechtsstaat, in dem zuvor diese von Apartheid getriebene Über-Rasse die angestammte Bevölkerung ausgebeutet, unterdrück und versklavt hatte. Verständlich ihre Rache.

Er blieb vor dem prunkvollen Portikus eines Hauses stehen.

Wie oft war er früher durch den Eingang geschritten, erinnerte er sich. Wieder so ein Zufall. Nein! Ursache. Wirkung. Stände er vor einem anderen Gebäude, würde er sich darüber keinen Gedanken machen.
Er sah vor seinem inneren Auge die stuckverzierten Decken, hörte die knarrenden Dielen unter den Füßen und roch den modrigen Dunst, der vergilbten Tapete. Er ballte die Hände. Die schnarrende Stimme der missliebigen Schwiegermutter echote in seinem Gehirn. Dem grässlichen Weib, das die Ehe zerstört hatte. Ihn als Fremden gehasst und verabscheut hatte.

Er zog einen Brief aus der Jackettasche. Lesen, brauchte er ihn nicht, er kannte ihn auswendig, trotzdem faltete er ihn auf, starrte auf die Schrift.

»Misch dich nicht ein«, murmelte er. Es war ein Teil seines Lebens und in das sollte er sich nicht einmischen. »Ich hohle mein, werd immer der Beschützer sein«, flüsterte er.
Er verabscheute schlechte Reime, zeigten sie ihm, wie krank das Gehirn des Schreibers war. Der Inhalt beunruhigte ihn. Was zwischen den Zeilen stand. Hatte er die ganzen Jahre falsch gelegen? Die ersten neuen Indizien wissen darauf hin. War alles ein Kinderstreich gewesen, warum dann der Brief. Er ahnte den wahren Kern. War er ein Spielball von fiebrigen Gehirnen, eher Opfer als Täter. Die Vorkommnisse gelenkt. Er war ein Ermittler, ein Genie in seinem Fach, weder Lamm noch Schurke.

Ein schmächtiger blonder Junge, schleppte gebückt unter der Last eines Ranzens, seine dünnen Beine über den Bürgersteig. Den Kopf gesenkt, erreichte er den Hauseingang, schloss auf und betrat das Gebäude.

Er ergriff die Gunst der Stunde, schlüpfte unbemerkt hinein; erst einmal verstecken. Den richtigen Zeitpunkt wählen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dann? Er hoffte, dass die Beweise negativ, er sein Leben in der bisherigen Bahn weiterführten, der Brief an sich ein Kinderstreich. Wenn nicht? Wenn alles der Wahrheit entsprach? Entweder er würde wie damals die Tat unter den Mantel der Verschwiegenheit nehmen. Oder!


weiter zum nächsten Kapitel 1. Das Kleid
 

xavia

Mitglied
s
Wobei Gebäude übertrieben [blue]ist[/blue].
Eine HütteKOMMA kaum größer
als eine Standardgarage
gleich vielen Veranden,
auseinander gesägt
zusammen genagelt
vorbei marschiert
Die werden, soviel ich weiß, alle zusammen geschrieben.

Wer wohl das zweite Haus bewohnteFRAGEZEICHEN
ohne abzurutschen, aneinander vorbei fuhren.
[blue]ohne abzurutschen, aneinander vorbeifahren konnten.[/blue]
kam sie näher, keine Zeit seine Beute in Sicherheit zu bringen.
[blue]kam sie näher. Keine Zeit, seine Beute in Sicherheit zu bringen.[/blue]
In der Hoffnung sie würde ihn nichts sehen,
[blue]In der Hoffnung, sie würde ihn nicht sehen,[/blue]
extrem gewelltes Haar.
Nennt man das nicht „lockig“ oder gar „kraus“?

Ein Sonnenstrahl lies die grau melierten
ließ

brachen sich in den Schweißtropfen,
brach

genauso sarkastische wie es Klang,
sarkastisch
klang

Er schaute sich um, erblickte den Spaten, mit dem er zuvor die Holzdiele aus der Veranda gebrochen hatte. Das vergammelte Grabwerkzeug über seinen Schädel, zwinkerte er ihm zu. Der Graumelierte glotze ihn an, deuten auf ihn. Das Blech sauste auf den Kopf der Schwangeren. Der Donner eines Schusses bebte durch die Luft. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall schlug durch den Raum.
Im Absatz davor sind ein Mann und eine Frau und es könnte sein, dass die Frau eine Schrotflinte hat, vielleicht auch eine andere „sie“, die weiter weg ist.

In diesem Absatz ist eine Schaufel und die hält anscheinend ein anderer Mann. Die Schaufel über dem Schädel des ersten Mannes, aber geschlagen wird die Frau? Und der zweite Knall ist kein zweiter Schuss sondern ein Schlag mit der Schaufel?

Ich finde, hier muss man viel raten. Im folgenden Absatz sieht es dann so aus, als wäre der zweite Knall doch ein Schuss und der traf den Mann mit der Schaufel, das bedeutet, dass die schwangere Frau, nachdem sie eine Schaufel auf den Kopf bekommen hat, noch schießt?

Sie stürzte vor ihm auf die Holzdielen.
Ist das jetzt die Leiche des Mannes mit der Schaufel oder die Frau?

An dieser Stelle gebe ich auf. Ich finde mich nicht zurecht.
Bei Es-Er-Sie im Klappentext hatte ich schon Probleme, mir Menschen vorzustellen. Hier wird es eher noch schlimmer, weil es eine oder zwei „Sie“ gibt und zwei „Er“, die ich nicht wirklich unterscheiden kann. Ich vermute, dass die (eine) Frau mit einem von den Männern liiert ist oder war.

LG Xavia.
 

ahorn

Mitglied
Prolog

Ihm gelang die Flucht durch den Hintereingang des Gebäudes. Wobei Gebäude übertrieben. Eine Hütte, kaum größer als eine Standardgarage, dafür mit zwei Eingängen, gleich vielen Veranden, wie üblich in dieser Gegend. Mit Ausnahme der doppelten Veranda. Der Zimmermann musste verrückt gewesen sein. Das Ding sah aus, als hätte er zwei Bretterbuden am First auseinandergesägt und überkreuz wieder zusammengenagelt. Er kratzte sich am Genick. Wer wohl das zweite Haus bewohnte?

Er schlich um die Hütte, spähte durch die verdreckte Fensterscheibe. Der Hausherr schritt suchend durch sein Reich. Er sollte woanders sein.
Er huschte gebückt weiter bis zum vorderen Vordach, zumindest hatte er die Beute nicht mit in die Bude getragen. Was ging es ihn an, warum dieser Einsiedler zu früh heimgekehrt war. Er hatte, was er wollte.

Der Leihwagen stand abseits an der Hauptstraße. Wieder eine Übertreibung, eine Piste mit einer Breite, dass zwei landläufige Wagen, ohne abzurutschen, aneinander vorbeifuhren konnten.

Er kam nicht weit. Eine Frau erschien am Ende der Zufahrt. Mit einem Hechtsprung versteckte er sich hinter dem Geländewagen des Griesgrams, dabei glitt ihm die Schatulle aus der Hand.
Ihm Stechschritt, wie ein Soldat, der unter dem Hemd eine Melone trug, kam sie näher. Keine Zeit seine Beute in Sicherheit zu bringen.
In der Hoffnung, sie würde ihn nichts sehen, kroch er um den Wagen herum. Er kannte die aparte Frau, hatte sie die ganzen Jahre in Beobachtung. Sie hatte ihn nur einmal zu Gesicht bekommen, das sollte so bleiben.
Er atmete auf, nachdem sie vorbei marschiert war. Dann wendete sie, kam zurück, schnappte sich die schuhkartongroße Kiste und stampfte erneut zur Hütte. Innerhalb von Sekunden hatte er ein Problem, zwei Hindernisse.

In gebückter Haltung schlich er zur Veranda. Die Tür war angelehnt. Er sah sie nicht, nur ihn – Anton.
Anton strich fahrig durch sein ockernbraunes, lockiges Haar. Ein Sonnenstrahl ließ die grau melierten Schläfen leuchten, brach sich in den Schweißtropfen, die über das gegerbte Gesicht perlten. Er streckte seine muskulösen, behaarten Arme vom Körper ab. Die Hände mit gerissenen Schwielen ausladend wie Kuchenteller. Die tief liegenden Augen starr auf sie gerichtet.

Der griesgrämige Anton trat einen Schritt zurück. »Mach dich nicht unglücklich!«, summte er.
»Du bist es. Du bist das Schwein immer gewesen«, giftete die Frau.
»Nein!« Er verzog seinen Mund zu einem Schrei. »Er war auf einmal hier!«
»Wir sind allein!«, zischte sie. »Und die Schatulle!«
Er sah, wie sie ihren zarten nackten Fuß gegen die Kiste kickte.
»Hat der Weihnachtsmann gebracht!«, schnaufte sie.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete er mit zitternder Stimme, sein Fuß tastete zurück. Er betrachtete sie. »Denk an dein Kind«,

»Ich wollte das Kind nie haben!«, fluchte sie,
»Lass uns fahren.« Er öffnete die rechte Hand. »Du musst in die Klinik.«
»Warum hast du mich dann nicht wie verabredet vor einer Stunde abgeholt?«
Er schüttelte seinen massigen Schädel. »Der Kühler war wieder defekt.«, stotterte er, »Ich bin noch einmal zurück!«
»Lüg nicht«, zischte sie. »Ich habe ihn letzten Monat geschweißt. Verrecken wolltest du mich lassen.« Sie stockte. »Wie damals«, schrie sie.
Seine linke Wange zuckte. »Ich liebe dich.«
»Abhauen!« Ihre Spucke benetzte den Boden. »Die Kiste lag neben dem Land Rover!« Sie stellte ihren zierlichen Fuß auf die Box. »Deinen Blutzoll nicht vergessen. Meine Mutter hast du schon vertrieben.«
Zögernd schritt er auf sie zu. »Wir haben uns nicht mehr verstanden.«

Die Mündung einer zweiläufigen Schrotflinte erschien direkt auf den Mann gerichtet in seinem Blickfeld. Diese Wendung sollte die Geschichte nicht einschlagen. Zumindest hätte sich ein Problem für ihn gelöst. Sie traf eine Kobra auf hundert Metern Entfernung zwischen deren Augen.
»Reingehen sie überzeugen«, dachte er. Er schüttelte den Kopf. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte, trieb ihren Schädel durch die Wand, machte keine Gefangene und, genauso sarkastisch wie es klang, schritt über Leichen.
»Hineinstürmen den Lauf erfassen?«, murmelte er, bei der Entfernung das Todesurteil für ihn.

Er schaute sich um, erblickte den Spaten, mit dem er zuvor die Holzdiele aus der Veranda gebrochen hatte.
Das vergammelte Grabwerkzeug über seinen Schädel, zwinkerte er Anton zu. Der glotze ihn an, richtete seinen Arm auf ihn.
Der Zeigefinger der Frau näherte sich dem Abzug. Keine Zeit mehr zu zögern, schnellte sein Arm vor und das Blech sauste auf den Kopf der Schwangeren. Sie stürzte vor Anton auf die Holzdielen.
Der Donner eines Schusses bebte durch die Luft. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall schlug durch den Raum.

Die Wucht des Aufpralls schleuderte Antons Körper zu Boden, Blut quoll aus seiner muskelbepackten Schulter.

Er sah sich um, schnappte die Schatulle, rannte aus dem Zimmer. Tief durchatmend warf er die Beute auf die Ladefläche des Landrovers, schritt zur Fahrerseite, blieb sein gesenktes Haupt schüttelnd stehen. Hatte er sie nicht schon einmal ohne Hilfe ihrem Schicksal überlassen. Er kehrte um, stürmte erneut in die Hütte.

Er trat an den blutüberströmten Körper, kniete sich nieder. Seine Fingerspitzen betasteten den leblosen Schädel, berührte die klaffende Wunde an der Schulter. Der Kerl hatte Glück, unter Umständen später Probleme, aber sterben würde er nicht. Er wedelte mit der Hand vor der eigenen Nase. Wenigstens würde er sich an nichts erinnern. Die Fahne flatterte ihm meterweit voraus. Dabei trank Anton nie, zumindest nicht um diese Uhrzeit.

Er stand auf, verzog sein Gesicht, schmetterte den rechten Fuß an Antons rechtes Bein. »Vollidiot!«, zischte er.
Den Kopf hektisch wendend schaute er auf die reglose daliegende. Mit blutbefleckt Fingern drehte er die Schwangere auf den Rücken. Röchelnd legte er einen Arm unter ihr Genick, den Anderen unterhalb ihrer Knie. Stemmte sie in die Höhe. Die morschen Dielen knacksten bei jedem Schritt. Er trug sie aus dem Haus, stampfte zu dem geparkten grünen Geländewagen. Mit einem Finger öffnete er die Beifahrertür, platzierte den schlafen Körper auf den Sitz. Pustend fischte er eine schwarze Sonnenbrille aus der Brusttasche des Hemdes, setzte sie auf, schlug die Autotür zu. Mit ausladenden Schritten rannte er um den Wagen, sprang auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend raste er über die sandige Piste.

Abermals schmetterte ein Schuss durch die Stille, sodass ein Schwarm Webervögel aus der Krone einer Akazie emporflog. Nachdem die Vogelwelt wieder zur Ruhe gekommen war, rannte ein Mann in einem schwarzen Gewand aus dem Gebäude. Er trug eine Schrotflinte unter dem Arm und spurtete zu einem Buschwerk. Ein Motor heulte auf und er fuhr mit einem zitronenfarbenen Jeep davon.


Eine halbe Stunde später, Fünfzig Kilometer weiter.

Eine Frau in einem hellblauen Kleid, mit kalkweißer Schürze, einer Haube auf ihrem gelockten, schwarzen Haar hetzte über eine hölzerne Veranda eines kalkig, getünchten Gebäude. Sie drückte ihr Becken an das Geländer, legte eine Hand flach an ihre Augenbrauen, sah nach rechts, nach links, drehte sich um, verschwand im Haus.
Ein Herr mit sandfarbenen Hemd, gleichfarbiger Hose trat auf die Veranda. Die Schwarzhaarige folgte ihm.
Sie presste die Hände an ihre kaffeebraunen faltigen Wangen. »Doc, wo bleibt der Simon?«, schluchzte sie.
Doc hob den Kopf, hielt seine Hakennase in den Wind. »Wenn er überhaupt durchkommt«, stöhnte er und zeigte den Hang herab. »Beth das Feuer kommt immer näher!« Er griff mit beiden Händen in sein kurz geschorenes hellbraunes Haar, das an den Ohren silbrig glänzte. »So ein heftiges Buschfeuer habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.« Die schmächtigen Arme ausgebreitet schaute er sie an. »Es hat bestimmt die Hauptstraße schon erreicht«, pustete er. »Dann ist ein Durchkommen unmöglich.«
Beth bedeckte erneut ihr Gesicht, schlich mit dem Kopf wackelnd ins Haus. Er schloss seine Augen, atmete tief ein und folgte ihr mit einer auf der hohen Stirn gelegten Hand.

Sein grüner Geländewagen, zog eine Staubwolke hinter sich her, als er vor dem Holzhaus hielt. Er sprang aus dem Gefährt und ein kräftiger Windzug trieb Sand durch sein kurzes blauschwarzes Haar. Mit einer Hand das Gesicht bedeckt, marschierte er um das Fahrzeug herum. Er öffnete die Beifahrertür, stemmte die bewusstlose Frau auf seine Arme.

Doc trat auf die Veranda. »Was willst du hier«, brüllte er ihm entgegen, stampfte auf ihn zu, untersuchte die Schwangere, füllte ihren Puls. »Sie ist ohnmächtig«, diagnostizierte er. »Wir bringen sie rein. Beth muss sich um sie kümmern«, schnaufte er.

Ein paar Wimpernschläge später erschienen sie wieder, eine Krankentrage mit den Händen ergriffen.
»Vom Baum ist sie gefallen?«, stöhnte er unter der für ihn ungewohnten Last.
»Quatsch. Ich dachte du hättest es gleich gesehen«, schnaufte Doc. »Eine Kapcopra hat sie gebissen!«
»Du bist Arzt! Hast du kein Serum?«, fragte er.
Doc rollte mit den Augen. »Dann hätt ich es ihr wohl gegeben!«

Die Männer wuchteten die Trage auf die Ladefläche des Geländewagens.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wo ist euer Krankenwagen?«, stöhnte er.
»Kerl«, zischte der Arzt. »Kannst du aufhören Dumme fragen zu stellen!«, zürnte er und sprang auf die Ladefläche. »Der Sanitätswagen hat einen Motorschaden und Simon ist mit dem Golf zur Notfallzentrale Serum besorgen«, schnaufte er und versuchte die Trage zu befestigen. »Ihm fahr ich entgegen. Sag du mir vielmehr, warum du mit Antons LandCruser hier auftauchst und nicht er, wie verabredet.«
Er faste sich ans Genick und senkte den Blick. »Er ist unabkömmlich«, stotterte er.

In die Stille, die kurz eintrat, erklang das Schreien eines Babys.
»Vergiss es«, zischte er und deutete die Einfahrt herunter. »Wenn Simon durch den Brand durchgekommen wäre, wäre er längst hier. Vor zwei Stunden war das Feuer nahe am Zedernwald, wenn der brennt, gibt es keinen Weg mehr ins Tal.«

Eine junge Frau in einem hellblauen Kleid, mit blütenweißer Schürze erschien an einer Hausecke.
Sie winkte den Arzt zu. »Wartete, ich komme mit!«, keuchte sie.
»Bleib bei dem Kind!«, entgegnete der Mediziner. »Die Fahrt wird zu gefährlich.«
»Alles gut.« Sie sah zum Gebäude. »Beth ist da! Und ich kenne keine Angst.«
Doc schüttelte den Kopf. »In Ordnung, geh rein und bring die lütte Ledertasche.«

Er deutete den Weg entlang, von dem er gekommen war. »Wir müssen rauf nach Lesotho. Gleich hinter der Grenze ist ein Quacksalber!«
Doc tippte mit einem Zeigefinger an seine faltige Schläfe. »Der alte Tom, wie soll dieser Medizinmann ihr helfen«, grunzte er.
Die verschwitzte Stirn in Falten gelegte, zog er die Schultern hoch. »Alt ja. Verschroben ok. Aber nicht dumm.«, grinste er. »Der hat Serum!« Er wandte sich ab. »Vertraue mir!«
»Dir soll ich vertrauen, auf dich kann man nicht bauen«, schrie der Mann von der Ladefläche.
Er schritt zur Fahrertür. »Hab ihr eine Wahl«, wieherte er, kletterte ins Fahrzeuginnere.

Die blutjunge Frau im hellblauen Kleid hüpfte die hölzerne Treppe des Hauses herab. Sie rannte mit wehenden Haaren zum Wagen, sprang ohne sich umzusehen, auf den Beifahrersitz.
»Schnall dich an«, schrie Doc von der Ladefläche. »Der Idiot hat einen rasanten Fahrstil«.
Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch und das Fahrzeug raste davon.

Ein zitronenfarbener Jeep folgte ihnen.

Dreizehn Jahre später.

Wie ein Pennäler, der auf eine Prüfung wartete, schlich er die Straße auf und ab. Gewissheit verschaffen. Jedes Mal, wenn seine Tochter von dem Thema anfing, hatte er sie für verrückt erklärt. Ganz sauber im Kopf war sie nie gewesen. Wie ihre Mutter lebte sie oft in ihrer eigenen Welt, verbog die Wahrheit, bis sie passte.
Es war alles absurd. Geprüft hatte er die Fakten. Keine Unstimmigkeiten, keinen Schwindel entdeckt. Gesehen hatte er sie einmal, sie war nicht mehr wie früher, älter, gereifter. Kein Grund, ihr etwas anzudichten. Komisch, merkwürdig mitunter schräg und unkonventionell erschien sie ihm, dennoch ihre Sache und seine Tochter nicht unschuldig.

Die Andeutungen des betrunkenen Alten, den er mit Vergnügen hinter Gittern gesehen hätte. Damals, so nah war er ihm.
Er schlug mehrmals an seine Stirn. Unerfahren war er gewesen. Verwickelte sich selbst ins Netz. Geschichte! Vergessen! Ihm zu trauen, wäre wie einem hungrigen Löwen einen Zahn zu ziehen.

Sogar an den Ort des Geschehens war er gereist. Die Papiere ohne Beanstandung. Gerüchte waren es, die ihn weiter trieben. Die eine Spur, die ihn zweifelte. Erneut eine Verrückte in der er sich verliebte. Er zog diese Frauen an. Spürte gleich, dass sie keine Mörderin war. Seine mehrjährige Erfahrung und der Umstand, dass er den Täter kannte, untermauerten sein Gefühl. Trotzdem war sie irrsinnig. Getrieben von dem Wahn jemand anders zu sein. Er lies sie aus Liebe in ihrem Glauben. Die endlosen Verhöre, die jahrelange Haft zermürbten jeden, ob schuldig oder unschuldig. Erst recht als einzige Weiße in einem afrikanischen Kerker. Er brauchte ihre Erklärungen nicht, um sich vorstellen, was sie mit ihr angestellt hatten. Es war ein Unrechtsstaat, in dem zuvor diese von Apartheid getriebene Über-Rasse die angestammte Bevölkerung ausgebeutet, unterdrück und versklavt hatte. Verständlich ihre Rache.

Er blieb vor dem prunkvollen Portikus eines Hauses stehen.

Wie oft war er früher durch den Eingang geschritten, erinnerte er sich. Wieder so ein Zufall. Nein! Ursache. Wirkung. Stände er vor einem anderen Gebäude, würde er sich darüber keinen Gedanken machen.
Er sah vor seinem inneren Auge die stuckverzierten Decken, hörte die knarrenden Dielen unter den Füßen und roch den modrigen Dunst, der vergilbten Tapete. Er ballte die Hände. Die schnarrende Stimme der missliebigen Schwiegermutter echote in seinem Gehirn. Dem grässlichen Weib, das die Ehe zerstört hatte. Ihn als Fremden gehasst und verabscheut hatte.

Er zog einen Brief aus der Jackettasche. Lesen, brauchte er ihn nicht, er kannte ihn auswendig, trotzdem faltete er ihn auf, starrte auf die Schrift.

»Misch dich nicht ein«, murmelte er. Es war ein Teil seines Lebens und in das sollte er sich nicht einmischen. »Ich hohle mein, werd immer der Beschützer sein«, flüsterte er.
Er verabscheute schlechte Reime, zeigten sie ihm, wie krank das Gehirn des Schreibers war. Der Inhalt beunruhigte ihn. Was zwischen den Zeilen stand. Hatte er die ganzen Jahre falsch gelegen? Die ersten neuen Indizien wissen darauf hin. War alles ein Kinderstreich gewesen, warum dann der Brief. Er ahnte den wahren Kern. War er ein Spielball von fiebrigen Gehirnen, eher Opfer als Täter. Die Vorkommnisse gelenkt. Er war ein Ermittler, ein Genie in seinem Fach, weder Lamm noch Schurke.

Ein schmächtiger blonder Junge, schleppte gebückt unter der Last eines Ranzens, seine dünnen Beine über den Bürgersteig. Den Kopf gesenkt, erreichte er den Hauseingang, schloss auf und betrat das Gebäude.

Er ergriff die Gunst der Stunde, schlüpfte unbemerkt hinein; erst einmal verstecken. Den richtigen Zeitpunkt wählen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dann? Er hoffte, dass die Beweise negativ, er sein Leben in der bisherigen Bahn weiterführten, der Brief an sich ein Kinderstreich. Wenn nicht? Wenn alles der Wahrheit entsprach? Entweder er würde wie damals die Tat unter den Mantel der Verschwiegenheit nehmen. Oder!


weiter zum nächsten Kapitel 1. Das Kleid
 

xavia

Mitglied
Hallo Ahorn, bist du mit dem Prolog schon fertig? Ich habe nicht alles angesehen, aber den ersten Fehler, den ich gefunden habe, hast du nicht korrigiert. Das ist der Grund, warum ich noch nicht weitergemacht habe. LG Xavia.
 

ahorn

Mitglied
Prolog

Ihm gelang die Flucht durch den Hintereingang des Gebäudes. Wobei Gebäude übertrieben war. Eine Hütte, kaum größer als eine Standardgarage, dafür mit zwei Eingängen, gleich vielen Veranden, wie üblich in dieser Gegend. Mit Ausnahme der doppelten Veranda. Der Zimmermann musste verrückt gewesen sein. Das Ding sah aus, als hätte er zwei Bretterbuden am First auseinandergesägt und überkreuz wieder zusammengenagelt. Er kratzte sich am Genick. Wer wohl das zweite Haus bewohnte?

Er schlich um die Hütte, spähte durch die verdreckte Fensterscheibe. Der Hausherr schritt suchend durch sein Reich. Er sollte woanders sein.
Er huschte gebückt weiter bis zum vorderen Vordach, zumindest hatte er die Beute nicht mit in die Bude getragen. Was ging es ihn an, warum dieser Einsiedler zu früh heimgekehrt war. Er hatte, was er wollte.

Der Leihwagen stand abseits an der Hauptstraße. Wieder eine Übertreibung, eine Piste mit einer Breite, dass zwei landläufige Wagen, ohne abzurutschen, aneinander vorbeifuhren konnten.

Er kam nicht weit. Eine Frau erschien am Ende der Zufahrt. Mit einem Hechtsprung versteckte er sich hinter dem Geländewagen des Griesgrams, dabei glitt ihm die Schatulle aus der Hand.
Ihm Stechschritt, wie ein Soldat, der unter dem Hemd eine Melone trug, kam sie näher. Keine Zeit seine Beute in Sicherheit zu bringen.
In der Hoffnung, sie würde ihn nichts sehen, kroch er um den Wagen herum. Er kannte die aparte Frau, hatte sie die ganzen Jahre in Beobachtung. Sie hatte ihn nur einmal zu Gesicht bekommen, das sollte so bleiben.
Er atmete auf, nachdem sie vorbei marschiert war. Dann wendete sie, kam zurück, schnappte sich die schuhkartongroße Kiste und stampfte erneut zur Hütte. Innerhalb von Sekunden hatte er ein Problem, zwei Hindernisse.

In gebückter Haltung schlich er zur Veranda. Die Tür war angelehnt. Er sah sie nicht, nur ihn – Anton.
Anton strich fahrig durch sein ockernbraunes, lockiges Haar. Ein Sonnenstrahl ließ die grau melierten Schläfen leuchten, brach sich in den Schweißtropfen, die über das gegerbte Gesicht perlten. Er streckte seine muskulösen, behaarten Arme vom Körper ab. Die Hände mit gerissenen Schwielen ausladend wie Kuchenteller. Die tief liegenden Augen starr auf sie gerichtet.

Der griesgrämige Anton trat einen Schritt zurück. »Mach dich nicht unglücklich!«, summte er.
»Du bist es. Du bist das Schwein immer gewesen«, giftete die Frau.
»Nein!« Er verzog seinen Mund zu einem Schrei. »Er war auf einmal hier!«
»Wir sind allein!«, zischte sie. »Und die Schatulle!«
Er sah, wie sie ihren zarten nackten Fuß gegen die Kiste kickte.
»Hat der Weihnachtsmann gebracht!«, schnaufte sie.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete er mit zitternder Stimme, sein Fuß tastete zurück. Er betrachtete sie. »Denk an dein Kind«,

»Ich wollte das Kind nie haben!«, fluchte sie,
»Lass uns fahren.« Er öffnete die rechte Hand. »Du musst in die Klinik.«
»Warum hast du mich dann nicht wie verabredet vor einer Stunde abgeholt?«
Er schüttelte seinen massigen Schädel. »Der Kühler war wieder defekt.«, stotterte er, »Ich bin noch einmal zurück!«
»Lüg nicht«, zischte sie. »Ich habe ihn letzten Monat geschweißt. Verrecken wolltest du mich lassen.« Sie stockte. »Wie damals«, schrie sie.
Seine linke Wange zuckte. »Ich liebe dich.«
»Abhauen!« Ihre Spucke benetzte den Boden. »Die Kiste lag neben dem Land Rover!« Sie stellte ihren zierlichen Fuß auf die Box. »Deinen Blutzoll nicht vergessen. Meine Mutter hast du schon vertrieben.«
Zögernd schritt er auf sie zu. »Wir haben uns nicht mehr verstanden.«

Die Mündung einer zweiläufigen Schrotflinte erschien direkt auf den Mann gerichtet in seinem Blickfeld. Diese Wendung sollte die Geschichte nicht einschlagen. Zumindest hätte sich ein Problem für ihn gelöst. Sie traf eine Kobra auf hundert Metern Entfernung zwischen deren Augen.
»Reingehen sie überzeugen«, dachte er. Er schüttelte den Kopf. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte, trieb ihren Schädel durch die Wand, machte keine Gefangene und, genauso sarkastisch wie es klang, schritt über Leichen.
»Hineinstürmen den Lauf erfassen?«, murmelte er, bei der Entfernung das Todesurteil für ihn.

Er schaute sich um, erblickte den Spaten, mit dem er zuvor die Holzdiele aus der Veranda gebrochen hatte.
Das vergammelte Grabwerkzeug über seinen Schädel, zwinkerte er Anton zu. Der glotze ihn an, richtete seinen Arm auf ihn.
Der Zeigefinger der Frau näherte sich dem Abzug. Keine Zeit mehr zu zögern, schnellte sein Arm vor und das Blech sauste auf den Kopf der Schwangeren. Sie stürzte vor Anton auf die Holzdielen.
Der Donner eines Schusses bebte durch die Luft. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall schlug durch den Raum.

Die Wucht des Aufpralls schleuderte Antons Körper zu Boden, Blut quoll aus seiner muskelbepackten Schulter.

Er sah sich um, schnappte die Schatulle, rannte aus dem Zimmer. Tief durchatmend warf er die Beute auf die Ladefläche des Landrovers, schritt zur Fahrerseite, blieb sein gesenktes Haupt schüttelnd stehen. Hatte er sie nicht schon einmal ohne Hilfe ihrem Schicksal überlassen. Er kehrte um, stürmte erneut in die Hütte.

Er trat an den blutüberströmten Körper, kniete sich nieder. Seine Fingerspitzen betasteten den leblosen Schädel, berührte die klaffende Wunde an der Schulter. Der Kerl hatte Glück, unter Umständen später Probleme, aber sterben würde er nicht. Er wedelte mit der Hand vor der eigenen Nase. Wenigstens würde er sich an nichts erinnern. Die Fahne flatterte ihm meterweit voraus. Dabei trank Anton nie, zumindest nicht um diese Uhrzeit.

Er stand auf, verzog sein Gesicht, schmetterte den rechten Fuß an Antons rechtes Bein. »Vollidiot!«, zischte er.
Den Kopf hektisch wendend schaute er auf die reglose daliegende. Mit blutbefleckt Fingern drehte er die Schwangere auf den Rücken. Röchelnd legte er einen Arm unter ihr Genick, den Anderen unterhalb ihrer Knie. Stemmte sie in die Höhe. Die morschen Dielen knacksten bei jedem Schritt. Er trug sie aus dem Haus, stampfte zu dem geparkten grünen Geländewagen. Mit einem Finger öffnete er die Beifahrertür, platzierte den schlafen Körper auf den Sitz. Pustend fischte er eine schwarze Sonnenbrille aus der Brusttasche des Hemdes, setzte sie auf, schlug die Autotür zu. Mit ausladenden Schritten rannte er um den Wagen, sprang auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend raste er über die sandige Piste.

Abermals schmetterte ein Schuss durch die Stille, sodass ein Schwarm Webervögel aus der Krone einer Akazie emporflog. Nachdem die Vogelwelt wieder zur Ruhe gekommen war, rannte ein Mann in einem schwarzen Gewand aus dem Gebäude. Er trug eine Schrotflinte unter dem Arm und spurtete zu einem Buschwerk. Ein Motor heulte auf und er fuhr mit einem zitronenfarbenen Jeep davon.


Eine halbe Stunde später, Fünfzig Kilometer weiter.

Eine Frau in einem hellblauen Kleid, mit kalkweißer Schürze, einer Haube auf ihrem gelockten, schwarzen Haar hetzte über eine hölzerne Veranda eines kalkig, getünchten Gebäude. Sie drückte ihr Becken an das Geländer, legte eine Hand flach an ihre Augenbrauen, sah nach rechts, nach links, drehte sich um, verschwand im Haus.
Ein Herr mit sandfarbenen Hemd, gleichfarbiger Hose trat auf die Veranda. Die Schwarzhaarige folgte ihm.
Sie presste die Hände an ihre kaffeebraunen faltigen Wangen. »Doc, wo bleibt der Simon?«, schluchzte sie.
Doc hob den Kopf, hielt seine Hakennase in den Wind. »Wenn er überhaupt durchkommt«, stöhnte er und zeigte den Hang herab. »Beth das Feuer kommt immer näher!« Er griff mit beiden Händen in sein kurz geschorenes hellbraunes Haar, das an den Ohren silbrig glänzte. »So ein heftiges Buschfeuer habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.« Die schmächtigen Arme ausgebreitet schaute er sie an. »Es hat bestimmt die Hauptstraße schon erreicht«, pustete er. »Dann ist ein Durchkommen unmöglich.«
Beth bedeckte erneut ihr Gesicht, schlich mit dem Kopf wackelnd ins Haus. Er schloss seine Augen, atmete tief ein und folgte ihr mit einer auf der hohen Stirn gelegten Hand.

Sein grüner Geländewagen, zog eine Staubwolke hinter sich her, als er vor dem Holzhaus hielt. Er sprang aus dem Gefährt und ein kräftiger Windzug trieb Sand durch sein kurzes blauschwarzes Haar. Mit einer Hand das Gesicht bedeckt, marschierte er um das Fahrzeug herum. Er öffnete die Beifahrertür, stemmte die bewusstlose Frau auf seine Arme.

Doc trat auf die Veranda. »Was willst du hier«, brüllte er ihm entgegen, stampfte auf ihn zu, untersuchte die Schwangere, füllte ihren Puls. »Sie ist ohnmächtig«, diagnostizierte er. »Wir bringen sie rein. Beth muss sich um sie kümmern«, schnaufte er.

Ein paar Wimpernschläge später erschienen sie wieder, eine Krankentrage mit den Händen ergriffen.
»Vom Baum ist sie gefallen?«, stöhnte er unter der für ihn ungewohnten Last.
»Quatsch. Ich dachte du hättest es gleich gesehen«, schnaufte Doc. »Eine Kapcopra hat sie gebissen!«
»Du bist Arzt! Hast du kein Serum?«, fragte er.
Doc rollte mit den Augen. »Dann hätt ich es ihr wohl gegeben!«

Die Männer wuchteten die Trage auf die Ladefläche des Geländewagens.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wo ist euer Krankenwagen?«, stöhnte er.
»Kerl«, zischte der Arzt. »Kannst du aufhören Dumme fragen zu stellen!«, zürnte er und sprang auf die Ladefläche. »Der Sanitätswagen hat einen Motorschaden und Simon ist mit dem Golf zur Notfallzentrale Serum besorgen«, schnaufte er und versuchte die Trage zu befestigen. »Ihm fahr ich entgegen. Sag du mir vielmehr, warum du mit Antons LandCruser hier auftauchst und nicht er, wie verabredet.«
Er faste sich ans Genick und senkte den Blick. »Er ist unabkömmlich«, stotterte er.

In die Stille, die kurz eintrat, erklang das Schreien eines Babys.
»Vergiss es«, zischte er und deutete die Einfahrt herunter. »Wenn Simon durch den Brand durchgekommen wäre, wäre er längst hier. Vor zwei Stunden war das Feuer nahe am Zedernwald, wenn der brennt, gibt es keinen Weg mehr ins Tal.«

Eine junge Frau in einem hellblauen Kleid, mit blütenweißer Schürze erschien an einer Hausecke.
Sie winkte den Arzt zu. »Wartete, ich komme mit!«, keuchte sie.
»Bleib bei dem Kind!«, entgegnete der Mediziner. »Die Fahrt wird zu gefährlich.«
»Alles gut.« Sie sah zum Gebäude. »Beth ist da! Und ich kenne keine Angst.«
Doc schüttelte den Kopf. »In Ordnung, geh rein und bring die lütte Ledertasche.«

Er deutete den Weg entlang, von dem er gekommen war. »Wir müssen rauf nach Lesotho. Gleich hinter der Grenze ist ein Quacksalber!«
Doc tippte mit einem Zeigefinger an seine faltige Schläfe. »Der alte Tom, wie soll dieser Medizinmann ihr helfen«, grunzte er.
Die verschwitzte Stirn in Falten gelegte, zog er die Schultern hoch. »Alt ja. Verschroben ok. Aber nicht dumm.«, grinste er. »Der hat Serum!« Er wandte sich ab. »Vertraue mir!«
»Dir soll ich vertrauen, auf dich kann man nicht bauen«, schrie der Mann von der Ladefläche.
Er schritt zur Fahrertür. »Hab ihr eine Wahl«, wieherte er, kletterte ins Fahrzeuginnere.

Die blutjunge Frau im hellblauen Kleid hüpfte die hölzerne Treppe des Hauses herab. Sie rannte mit wehenden Haaren zum Wagen, sprang ohne sich umzusehen, auf den Beifahrersitz.
»Schnall dich an«, schrie Doc von der Ladefläche. »Der Idiot hat einen rasanten Fahrstil«.
Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch und das Fahrzeug raste davon.

Ein zitronenfarbener Jeep folgte ihnen.

Dreizehn Jahre später.

Wie ein Pennäler, der auf eine Prüfung wartete, schlich er die Straße auf und ab. Gewissheit verschaffen. Jedes Mal, wenn seine Tochter von dem Thema anfing, hatte er sie für verrückt erklärt. Ganz sauber im Kopf war sie nie gewesen. Wie ihre Mutter lebte sie oft in ihrer eigenen Welt, verbog die Wahrheit, bis sie passte.
Es war alles absurd. Geprüft hatte er die Fakten. Keine Unstimmigkeiten, keinen Schwindel entdeckt. Gesehen hatte er sie einmal, sie war nicht mehr wie früher, älter, gereifter. Kein Grund, ihr etwas anzudichten. Komisch, merkwürdig mitunter schräg und unkonventionell erschien sie ihm, dennoch ihre Sache und seine Tochter nicht unschuldig.

Die Andeutungen des betrunkenen Alten, den er mit Vergnügen hinter Gittern gesehen hätte. Damals, so nah war er ihm.
Er schlug mehrmals an seine Stirn. Unerfahren war er gewesen. Verwickelte sich selbst ins Netz. Geschichte! Vergessen! Ihm zu trauen, wäre wie einem hungrigen Löwen einen Zahn zu ziehen.

Sogar an den Ort des Geschehens war er gereist. Die Papiere ohne Beanstandung. Gerüchte waren es, die ihn weiter trieben. Die eine Spur, die ihn zweifelte. Erneut eine Verrückte in der er sich verliebte. Er zog diese Frauen an. Spürte gleich, dass sie keine Mörderin war. Seine mehrjährige Erfahrung und der Umstand, dass er den Täter kannte, untermauerten sein Gefühl. Trotzdem war sie irrsinnig. Getrieben von dem Wahn jemand anders zu sein. Er lies sie aus Liebe in ihrem Glauben. Die endlosen Verhöre, die jahrelange Haft zermürbten jeden, ob schuldig oder unschuldig. Erst recht als einzige Weiße in einem afrikanischen Kerker. Er brauchte ihre Erklärungen nicht, um sich vorstellen, was sie mit ihr angestellt hatten. Es war ein Unrechtsstaat, in dem zuvor diese von Apartheid getriebene Über-Rasse die angestammte Bevölkerung ausgebeutet, unterdrück und versklavt hatte. Verständlich ihre Rache.

Er blieb vor dem prunkvollen Portikus eines Hauses stehen.

Wie oft war er früher durch den Eingang geschritten, erinnerte er sich. Wieder so ein Zufall. Nein! Ursache. Wirkung. Stände er vor einem anderen Gebäude, würde er sich darüber keinen Gedanken machen.
Er sah vor seinem inneren Auge die stuckverzierten Decken, hörte die knarrenden Dielen unter den Füßen und roch den modrigen Dunst, der vergilbten Tapete. Er ballte die Hände. Die schnarrende Stimme der missliebigen Schwiegermutter echote in seinem Gehirn. Dem grässlichen Weib, das die Ehe zerstört hatte. Ihn als Fremden gehasst und verabscheut hatte.

Er zog einen Brief aus der Jackettasche. Lesen, brauchte er ihn nicht, er kannte ihn auswendig, trotzdem faltete er ihn auf, starrte auf die Schrift.

»Misch dich nicht ein«, murmelte er. Es war ein Teil seines Lebens und in das sollte er sich nicht einmischen. »Ich hohle mein, werd immer der Beschützer sein«, flüsterte er.
Er verabscheute schlechte Reime, zeigten sie ihm, wie krank das Gehirn des Schreibers war. Der Inhalt beunruhigte ihn. Was zwischen den Zeilen stand. Hatte er die ganzen Jahre falsch gelegen? Die ersten neuen Indizien wissen darauf hin. War alles ein Kinderstreich gewesen, warum dann der Brief. Er ahnte den wahren Kern. War er ein Spielball von fiebrigen Gehirnen, eher Opfer als Täter. Die Vorkommnisse gelenkt. Er war ein Ermittler, ein Genie in seinem Fach, weder Lamm noch Schurke.

Ein schmächtiger blonder Junge, schleppte gebückt unter der Last eines Ranzens, seine dünnen Beine über den Bürgersteig. Den Kopf gesenkt, erreichte er den Hauseingang, schloss auf und betrat das Gebäude.

Er ergriff die Gunst der Stunde, schlüpfte unbemerkt hinein; erst einmal verstecken. Den richtigen Zeitpunkt wählen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dann? Er hoffte, dass die Beweise negativ, er sein Leben in der bisherigen Bahn weiterführten, der Brief an sich ein Kinderstreich. Wenn nicht? Wenn alles der Wahrheit entsprach? Entweder er würde wie damals die Tat unter den Mantel der Verschwiegenheit nehmen. Oder!


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ahorn

Mitglied
Prolog

Ihm gelang die Flucht durch den Hintereingang des Gebäudes. Wobei Gebäude übertrieben war. Eine Hütte, kaum größer als eine Standardgarage, dafür mit zwei Eingängen, gleich vielen Veranden, wie üblich in dieser Gegend. Mit Ausnahme der doppelten Veranda. Der Zimmermann musste verrückt gewesen sein. Das Ding sah aus, als hätte er zwei Bretterbuden am First auseinandergesägt und überkreuz wieder zusammengenagelt. Er kratzte sich am Genick. Wer wohl das zweite Haus bewohnte?

Er schlich um die Hütte, spähte durch die verdreckte Fensterscheibe. Der Hausherr schritt suchend durch sein Reich. Er sollte woanders sein.
Er huschte gebückt weiter bis zum vorderen Vordach, zumindest hatte er die Beute nicht mit in die Bude getragen. Was ging es ihn an, warum dieser Einsiedler zu früh heimgekehrt war. Er hatte, was er wollte.

Der Leihwagen stand abseits an der Hauptstraße. Wieder eine Übertreibung, eine Piste mit einer Breite, dass zwei landläufige Wagen, ohne abzurutschen, aneinander vorbeifahren konnten.

Er kam nicht weit. Eine Frau erschien am Ende der Zufahrt. Mit einem Hechtsprung versteckte er sich hinter dem Geländewagen des Griesgrams, dabei glitt ihm die Schatulle aus der Hand.
Ihm Stechschritt, wie ein Soldat, der unter dem Hemd eine Melone trug, kam sie näher. Keine Zeit seine Beute in Sicherheit zu bringen.
In der Hoffnung, sie würde ihn nichts sehen, kroch er um den Wagen herum. Er kannte die aparte Frau, hatte sie die ganzen Jahre in Beobachtung. Sie hatte ihn nur einmal zu Gesicht bekommen, das sollte so bleiben.
Er atmete auf, nachdem sie vorbei marschiert war. Dann wendete sie, kam zurück, schnappte sich die schuhkartongroße Kiste und stampfte erneut zur Hütte. Innerhalb von Sekunden hatte er ein Problem, zwei Hindernisse.

In gebückter Haltung schlich er zur Veranda. Die Tür war angelehnt. Er sah sie nicht, nur ihn – Anton.
Anton strich fahrig durch sein ockernbraunes, lockiges Haar. Ein Sonnenstrahl ließ die grau melierten Schläfen leuchten, brach sich in den Schweißtropfen, die über das gegerbte Gesicht perlten. Er streckte seine muskulösen, behaarten Arme vom Körper ab. Die Hände mit gerissenen Schwielen ausladend wie Kuchenteller. Die tief liegenden Augen starr auf sie gerichtet.

Der griesgrämige Anton trat einen Schritt zurück. »Mach dich nicht unglücklich!«, summte er.
»Du bist es. Du bist das Schwein immer gewesen«, giftete die Frau.
»Nein!« Er verzog seinen Mund zu einem Schrei. »Er war auf einmal hier!«
»Wir sind allein!«, zischte sie. »Und die Schatulle!«
Er sah, wie sie ihren zarten nackten Fuß gegen die Kiste kickte.
»Hat der Weihnachtsmann gebracht!«, schnaufte sie.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete er mit zitternder Stimme, sein Fuß tastete zurück. Er betrachtete sie. »Denk an dein Kind«,

»Ich wollte das Kind nie haben!«, fluchte sie,
»Lass uns fahren.« Er öffnete die rechte Hand. »Du musst in die Klinik.«
»Warum hast du mich dann nicht wie verabredet vor einer Stunde abgeholt?«
Er schüttelte seinen massigen Schädel. »Der Kühler war wieder defekt.«, stotterte er, »Ich bin noch einmal zurück!«
»Lüg nicht«, zischte sie. »Ich habe ihn letzten Monat geschweißt. Verrecken wolltest du mich lassen.« Sie stockte. »Wie damals«, schrie sie.
Seine linke Wange zuckte. »Ich liebe dich.«
»Abhauen!« Ihre Spucke benetzte den Boden. »Die Kiste lag neben dem Land Rover!« Sie stellte ihren zierlichen Fuß auf die Box. »Deinen Blutzoll nicht vergessen. Meine Mutter hast du schon vertrieben.«
Zögernd schritt er auf sie zu. »Wir haben uns nicht mehr verstanden.«

Die Mündung einer zweiläufigen Schrotflinte erschien direkt auf den Mann gerichtet in seinem Blickfeld. Diese Wendung sollte die Geschichte nicht einschlagen. Zumindest hätte sich ein Problem für ihn gelöst. Sie traf eine Kobra auf hundert Metern Entfernung zwischen deren Augen.
»Reingehen sie überzeugen«, dachte er. Er schüttelte den Kopf. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte, trieb ihren Schädel durch die Wand, machte keine Gefangene und, genauso sarkastisch wie es klang, schritt über Leichen.
»Hineinstürmen den Lauf erfassen?«, murmelte er, bei der Entfernung das Todesurteil für ihn.

Er schaute sich um, erblickte den Spaten, mit dem er zuvor die Holzdiele aus der Veranda gebrochen hatte.
Das vergammelte Grabwerkzeug über seinen Schädel, zwinkerte er Anton zu. Der glotze ihn an, richtete seinen Arm auf ihn.
Der Zeigefinger der Frau näherte sich dem Abzug. Keine Zeit mehr zu zögern, schnellte sein Arm vor und das Blech sauste auf den Kopf der Schwangeren. Sie stürzte vor Anton auf die Holzdielen.
Der Donner eines Schusses bebte durch die Luft. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall schlug durch den Raum.

Die Wucht des Aufpralls schleuderte Antons Körper zu Boden, Blut quoll aus seiner muskelbepackten Schulter.

Er sah sich um, schnappte die Schatulle, rannte aus dem Zimmer. Tief durchatmend warf er die Beute auf die Ladefläche des Landrovers, schritt zur Fahrerseite, blieb sein gesenktes Haupt schüttelnd stehen. Hatte er sie nicht schon einmal ohne Hilfe ihrem Schicksal überlassen. Er kehrte um, stürmte erneut in die Hütte.

Er trat an den blutüberströmten Körper, kniete sich nieder. Seine Fingerspitzen betasteten den leblosen Schädel, berührte die klaffende Wunde an der Schulter. Der Kerl hatte Glück, unter Umständen später Probleme, aber sterben würde er nicht. Er wedelte mit der Hand vor der eigenen Nase. Wenigstens würde er sich an nichts erinnern. Die Fahne flatterte ihm meterweit voraus. Dabei trank Anton nie, zumindest nicht um diese Uhrzeit.

Er stand auf, verzog sein Gesicht, schmetterte den rechten Fuß an Antons rechtes Bein. »Vollidiot!«, zischte er.
Den Kopf hektisch wendend schaute er auf die reglose daliegende. Mit blutbefleckt Fingern drehte er die Schwangere auf den Rücken. Röchelnd legte er einen Arm unter ihr Genick, den Anderen unterhalb ihrer Knie. Stemmte sie in die Höhe. Die morschen Dielen knacksten bei jedem Schritt. Er trug sie aus dem Haus, stampfte zu dem geparkten grünen Geländewagen. Mit einem Finger öffnete er die Beifahrertür, platzierte den schlafen Körper auf den Sitz. Pustend fischte er eine schwarze Sonnenbrille aus der Brusttasche des Hemdes, setzte sie auf, schlug die Autotür zu. Mit ausladenden Schritten rannte er um den Wagen, sprang auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend raste er über die sandige Piste.

Abermals schmetterte ein Schuss durch die Stille, sodass ein Schwarm Webervögel aus der Krone einer Akazie emporflog. Nachdem die Vogelwelt wieder zur Ruhe gekommen war, rannte ein Mann in einem schwarzen Gewand aus dem Gebäude. Er trug eine Schrotflinte unter dem Arm und spurtete zu einem Buschwerk. Ein Motor heulte auf und er fuhr mit einem zitronenfarbenen Jeep davon.


Eine halbe Stunde später, Fünfzig Kilometer weiter.

Eine Frau in einem hellblauen Kleid, mit kalkweißer Schürze, einer Haube auf ihrem gelockten, schwarzen Haar hetzte über eine hölzerne Veranda eines kalkig, getünchten Gebäude. Sie drückte ihr Becken an das Geländer, legte eine Hand flach an ihre Augenbrauen, sah nach rechts, nach links, drehte sich um, verschwand im Haus.
Ein Herr mit sandfarbenen Hemd, gleichfarbiger Hose trat auf die Veranda. Die Schwarzhaarige folgte ihm.
Sie presste die Hände an ihre kaffeebraunen faltigen Wangen. »Doc, wo bleibt der Simon?«, schluchzte sie.
Doc hob den Kopf, hielt seine Hakennase in den Wind. »Wenn er überhaupt durchkommt«, stöhnte er und zeigte den Hang herab. »Beth das Feuer kommt immer näher!« Er griff mit beiden Händen in sein kurz geschorenes hellbraunes Haar, das an den Ohren silbrig glänzte. »So ein heftiges Buschfeuer habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.« Die schmächtigen Arme ausgebreitet schaute er sie an. »Es hat bestimmt die Hauptstraße schon erreicht«, pustete er. »Dann ist ein Durchkommen unmöglich.«
Beth bedeckte erneut ihr Gesicht, schlich mit dem Kopf wackelnd ins Haus. Er schloss seine Augen, atmete tief ein und folgte ihr mit einer auf der hohen Stirn gelegten Hand.

Sein grüner Geländewagen, zog eine Staubwolke hinter sich her, als er vor dem Holzhaus hielt. Er sprang aus dem Gefährt und ein kräftiger Windzug trieb Sand durch sein kurzes blauschwarzes Haar. Mit einer Hand das Gesicht bedeckt, marschierte er um das Fahrzeug herum. Er öffnete die Beifahrertür, stemmte die bewusstlose Frau auf seine Arme.

Doc trat auf die Veranda. »Was willst du hier«, brüllte er ihm entgegen, stampfte auf ihn zu, untersuchte die Schwangere, füllte ihren Puls. »Sie ist ohnmächtig«, diagnostizierte er. »Wir bringen sie rein. Beth muss sich um sie kümmern«, schnaufte er.

Ein paar Wimpernschläge später erschienen sie wieder, eine Krankentrage mit den Händen ergriffen.
»Vom Baum ist sie gefallen?«, stöhnte er unter der für ihn ungewohnten Last.
»Quatsch. Ich dachte du hättest es gleich gesehen«, schnaufte Doc. »Eine Kapcopra hat sie gebissen!«
»Du bist Arzt! Hast du kein Serum?«, fragte er.
Doc rollte mit den Augen. »Dann hätt ich es ihr wohl gegeben!«

Die Männer wuchteten die Trage auf die Ladefläche des Geländewagens.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wo ist euer Krankenwagen?«, stöhnte er.
»Kerl«, zischte der Arzt. »Kannst du aufhören Dumme fragen zu stellen!«, zürnte er und sprang auf die Ladefläche. »Der Sanitätswagen hat einen Motorschaden und Simon ist mit dem Golf zur Notfallzentrale Serum besorgen«, schnaufte er und versuchte die Trage zu befestigen. »Ihm fahr ich entgegen. Sag du mir vielmehr, warum du mit Antons LandCruser hier auftauchst und nicht er, wie verabredet.«
Er faste sich ans Genick und senkte den Blick. »Er ist unabkömmlich«, stotterte er.

In die Stille, die kurz eintrat, erklang das Schreien eines Babys.
»Vergiss es«, zischte er und deutete die Einfahrt herunter. »Wenn Simon durch den Brand durchgekommen wäre, wäre er längst hier. Vor zwei Stunden war das Feuer nahe am Zedernwald, wenn der brennt, gibt es keinen Weg mehr ins Tal.«

Eine junge Frau in einem hellblauen Kleid, mit blütenweißer Schürze erschien an einer Hausecke.
Sie winkte den Arzt zu. »Wartete, ich komme mit!«, keuchte sie.
»Bleib bei dem Kind!«, entgegnete der Mediziner. »Die Fahrt wird zu gefährlich.«
»Alles gut.« Sie sah zum Gebäude. »Beth ist da! Und ich kenne keine Angst.«
Doc schüttelte den Kopf. »In Ordnung, geh rein und bring die lütte Ledertasche.«

Er deutete den Weg entlang, von dem er gekommen war. »Wir müssen rauf nach Lesotho. Gleich hinter der Grenze ist ein Quacksalber!«
Doc tippte mit einem Zeigefinger an seine faltige Schläfe. »Der alte Tom, wie soll dieser Medizinmann ihr helfen«, grunzte er.
Die verschwitzte Stirn in Falten gelegte, zog er die Schultern hoch. »Alt ja. Verschroben ok. Aber nicht dumm.«, grinste er. »Der hat Serum!« Er wandte sich ab. »Vertraue mir!«
»Dir soll ich vertrauen, auf dich kann man nicht bauen«, schrie der Mann von der Ladefläche.
Er schritt zur Fahrertür. »Hab ihr eine Wahl«, wieherte er, kletterte ins Fahrzeuginnere.

Die blutjunge Frau im hellblauen Kleid hüpfte die hölzerne Treppe des Hauses herab. Sie rannte mit wehenden Haaren zum Wagen, sprang ohne sich umzusehen, auf den Beifahrersitz.
»Schnall dich an«, schrie Doc von der Ladefläche. »Der Idiot hat einen rasanten Fahrstil«.
Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch und das Fahrzeug raste davon.

Ein zitronenfarbener Jeep folgte ihnen.

Dreizehn Jahre später.

Wie ein Pennäler, der auf eine Prüfung wartete, schlich er die Straße auf und ab. Gewissheit verschaffen. Jedes Mal, wenn seine Tochter von dem Thema anfing, hatte er sie für verrückt erklärt. Ganz sauber im Kopf war sie nie gewesen. Wie ihre Mutter lebte sie oft in ihrer eigenen Welt, verbog die Wahrheit, bis sie passte.
Es war alles absurd. Geprüft hatte er die Fakten. Keine Unstimmigkeiten, keinen Schwindel entdeckt. Gesehen hatte er sie einmal, sie war nicht mehr wie früher, älter, gereifter. Kein Grund, ihr etwas anzudichten. Komisch, merkwürdig mitunter schräg und unkonventionell erschien sie ihm, dennoch ihre Sache und seine Tochter nicht unschuldig.

Die Andeutungen des betrunkenen Alten, den er mit Vergnügen hinter Gittern gesehen hätte. Damals, so nah war er ihm.
Er schlug mehrmals an seine Stirn. Unerfahren war er gewesen. Verwickelte sich selbst ins Netz. Geschichte! Vergessen! Ihm zu trauen, wäre wie einem hungrigen Löwen einen Zahn zu ziehen.

Sogar an den Ort des Geschehens war er gereist. Die Papiere ohne Beanstandung. Gerüchte waren es, die ihn weiter trieben. Die eine Spur, die ihn zweifelte. Erneut eine Verrückte in der er sich verliebte. Er zog diese Frauen an. Spürte gleich, dass sie keine Mörderin war. Seine mehrjährige Erfahrung und der Umstand, dass er den Täter kannte, untermauerten sein Gefühl. Trotzdem war sie irrsinnig. Getrieben von dem Wahn jemand anders zu sein. Er lies sie aus Liebe in ihrem Glauben. Die endlosen Verhöre, die jahrelange Haft zermürbten jeden, ob schuldig oder unschuldig. Erst recht als einzige Weiße in einem afrikanischen Kerker. Er brauchte ihre Erklärungen nicht, um sich vorstellen, was sie mit ihr angestellt hatten. Es war ein Unrechtsstaat, in dem zuvor diese von Apartheid getriebene Über-Rasse die angestammte Bevölkerung ausgebeutet, unterdrück und versklavt hatte. Verständlich ihre Rache.

Er blieb vor dem prunkvollen Portikus eines Hauses stehen.

Wie oft war er früher durch den Eingang geschritten, erinnerte er sich. Wieder so ein Zufall. Nein! Ursache. Wirkung. Stände er vor einem anderen Gebäude, würde er sich darüber keinen Gedanken machen.
Er sah vor seinem inneren Auge die stuckverzierten Decken, hörte die knarrenden Dielen unter den Füßen und roch den modrigen Dunst, der vergilbten Tapete. Er ballte die Hände. Die schnarrende Stimme der missliebigen Schwiegermutter echote in seinem Gehirn. Dem grässlichen Weib, das die Ehe zerstört hatte. Ihn als Fremden gehasst und verabscheut hatte.

Er zog einen Brief aus der Jackettasche. Lesen, brauchte er ihn nicht, er kannte ihn auswendig, trotzdem faltete er ihn auf, starrte auf die Schrift.

»Misch dich nicht ein«, murmelte er. Es war ein Teil seines Lebens und in das sollte er sich nicht einmischen. »Ich hohle mein, werd immer der Beschützer sein«, flüsterte er.
Er verabscheute schlechte Reime, zeigten sie ihm, wie krank das Gehirn des Schreibers war. Der Inhalt beunruhigte ihn. Was zwischen den Zeilen stand. Hatte er die ganzen Jahre falsch gelegen? Die ersten neuen Indizien wissen darauf hin. War alles ein Kinderstreich gewesen, warum dann der Brief. Er ahnte den wahren Kern. War er ein Spielball von fiebrigen Gehirnen, eher Opfer als Täter. Die Vorkommnisse gelenkt. Er war ein Ermittler, ein Genie in seinem Fach, weder Lamm noch Schurke.

Ein schmächtiger blonder Junge, schleppte gebückt unter der Last eines Ranzens, seine dünnen Beine über den Bürgersteig. Den Kopf gesenkt, erreichte er den Hauseingang, schloss auf und betrat das Gebäude.

Er ergriff die Gunst der Stunde, schlüpfte unbemerkt hinein; erst einmal verstecken. Den richtigen Zeitpunkt wählen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dann? Er hoffte, dass die Beweise negativ, er sein Leben in der bisherigen Bahn weiterführten, der Brief an sich ein Kinderstreich. Wenn nicht? Wenn alles der Wahrheit entsprach? Entweder er würde wie damals die Tat unter den Mantel der Verschwiegenheit nehmen. Oder!


weiter zum nächsten Kapitel 1. Das Kleid
 

ahorn

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Vorwort

Er existieren Verbrechen, die sind derart grausam, Seelen fressend, dass das Opfer, der Täter sie zusammen mit der Tat einschliessen, verriegeln wie den Dschinn in seine Vase.
Verloren von der Karawane des Lebens, zugeweht vom Wind des Vergessens.
Erst ein kleines Missgeschick, wie der aussichtslos anmutende Kampf eines Nebeltrinker-Käfers mit einem Wüstenwaran, löst eine Sandlawine aus, die den ersten Zipfel des Artefaktes freilegt.


Prolog
Ihm gelang die Flucht durch den Hintereingang des Gebäudes. Wobei Gebäude übertrieben war. Eine Hütte, kaum größer als eine Standardgarage, dafür mit zwei Eingängen, gleich vielen Veranden, wie üblich in dieser Gegend. Mit Ausnahme der doppelten Veranda. Der Zimmermann musste verrückt gewesen sein. Das Ding sah aus, als hätte er zwei Bretterbuden am First auseinandergesägt und überkreuz wieder zusammengenagelt. Er kratzte sich am Genick. Wer wohl das zweite Haus bewohnte?

Er schlich um die Hütte, spähte durch die verdreckte Fensterscheibe. Der Hausherr schritt suchend durch sein Reich. Er sollte woanders sein.
Er huschte gebückt weiter bis zum vorderen Vordach, zumindest hatte er die Beute nicht mit in die Bude getragen. Was ging es ihn an, warum dieser Einsiedler zu früh heimgekehrt war. Er hatte, was er wollte.

Der Leihwagen stand abseits an der Hauptstraße. Straße übertrieben, eine Piste mit einer Breite, dass zwei landläufige Wagen, ohne abzurutschen, aneinander vorbeifahren konnten.

Er kam nicht weit. Eine Frau erschien am Ende der Zufahrt. Mit einem Hechtsprung versteckte er sich hinter dem Geländewagen des Griesgrams, dabei glitt ihm die Schatulle aus der Hand.
Ihm Stechschritt, wie ein Soldat, der unter dem Hemd eine Melone trug, kam sie näher. Keine Zeit seine Beute in Sicherheit zu bringen.
Er kroch um den Wagen herum, hoffte darauf, nicht entdeckt zu werden. Die aparte Frau kannte er, hatte sie die ganzen Jahre beobachtet. Sie dagegen hatte ihn nur einmal zu Gesicht bekommen, das sollte so bleiben.
Er atmete auf, nachdem sie vorbei marschiert war. Dann wendete sie, kam zurück, schnappte sich die schuhkartongroße Kiste und stampfte erneut zur Hütte. Innerhalb von Sekunden hatte er ein Problem, zwei Hindernisse.

In gebückter Haltung schlich er zur Veranda. Die Tür war angelehnt. Er sah sie nicht, nur ihn – Anton.
Anton strich fahrig durch sein ockernbraunes, lockiges Haar. Ein Sonnenstrahl erleuchtete die grau melierten Schläfen, brach sich in den Schweißtropfen, die über das gegerbte Gesicht perlten. Er streckte seine muskulösen, behaarten Arme vom Körper ab. Die Hände mit gerissenen Schwielen ausladend wie Kuchenteller. Die tief liegenden Augen starr auf sie gerichtet.

Der griesgrämige Anton trat einen Schritt zurück. »Mach dich nicht unglücklich!«, summte er.
»Du bist es. Du bist das Schwein immer gewesen«, giftete die Frau.
»Nein!« Er verzog seinen Mund zu einem Schrei. »Er war auf einmal hier!«
»Wir sind allein!«, zischte sie. »Und die Schatulle!«
Er sah, wie sie ihren zarten nackten Fuß gegen die Kiste kickte.
»Hat der Weihnachtsmann gebracht!«, schnaufte sie.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete er mit zitternder Stimme, sein Fuß tastete zurück. Er betrachtete sie. »Denk an dein Kind«,

»Ich wollte das Kind nie haben!«, fluchte sie,
»Lass uns fahren.« Er öffnete die rechte Hand. »Du musst in die Klinik.«
»Warum hast du mich dann nicht wie verabredet vor einer Stunde abgeholt?«
Er schüttelte seinen massigen Schädel. »Der Kühler war wieder defekt.«, stotterte er, »Ich bin noch einmal zurück!«
»Lüg nicht«, zischte sie. »Ich habe ihn letzten Monat geschweißt. Verrecken wolltest du mich lassen.« Sie stockte. »Wie damals«, schrie sie.
Seine linke Wange zuckte. »Ich liebe dich.«
»Abhauen!« Ihre Spucke benetzte den Boden. »Die Kiste lag neben dem Land Rover!« Sie stellte ihren zierlichen Fuß auf die Box. »Deinen Blutzoll nicht vergessen. Meine Mutter hast du schon vertrieben.«
Zögernd schritt er auf sie zu. »Wir haben uns nicht mehr verstanden.«

Die Mündung einer zweiläufigen Schrotflinte erschien, direkt auf den Mann gerichtet, in seinem Blickfeld. Diese Wendung sollte die Geschichte nicht einschlagen. Zumindest hätte sich ein Problem für ihn gelöst. Sie traf eine Kobra in einem Abstand von hundert Metern zwischen deren Augen.
»Reingehen sie überzeugen«, dachte er. Er schüttelte den Kopf. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte, trieb ihren Schädel durch die Wand, machte keine Gefangene und, genauso sarkastisch wie es klang, schritt über Leichen.
»Hineinstürmen den Lauf erfassen?«, murmelte er, bei der Entfernung das Todesurteil für ihn.

Er schaute sich um, erblickte den Spaten, mit dem er zuvor die Holzdiele aus der Veranda gebrochen hatte.
Das vergammelte Grabwerkzeug über seinen Schädel, zwinkerte er Anton zu. Der glotze ihn an, richtete seinen Arm auf ihn.
Der Zeigefinger der Frau näherte sich dem Abzug. Keine Zeit mehr zu zögern, schnellte sein Arm vor und das Blech sauste auf den Kopf der Schwangeren. Sie stürzte vor Anton auf die Holzdielen.
Der Donner eines Schusses bebte durch die Luft. Putz rieselte von der Decke. Ein zweiter Knall schlug durch den Raum.

Die Wucht des Aufpralls schleuderte Antons Körper zu Boden, Blut quoll aus seiner muskelbepackten Schulter.

Er sah sich um, schnappte die Schatulle, rannte aus dem Zimmer. Tief durchatmend warf er die Beute auf die Ladefläche des Landrovers, schritt zur Fahrerseite, blieb sein gesenktes Haupt schüttelnd stehen. Hatte er sie nicht schon einmal ohne Hilfe ihrem Schicksal überlassen. Er kehrte um, stürmte erneut in die Hütte.

Er trat an den blutüberströmten Körper, kniete sich nieder. Seine Fingerspitzen betasteten den leblosen Schädel, berührte die klaffende Wunde an der Schulter. Der Kerl hatte Glück, unter Umständen später Probleme, aber sterben würde er nicht. Er wedelte mit der Hand vor der eigenen Nase. Wenigstens würde er sich an nichts erinnern. Die Fahne flatterte ihm meterweit voraus. Dabei trank Anton nie, zumindest nicht um diese Uhrzeit.

Er stand auf, verzog sein Gesicht, schmetterte den rechten Fuß an Antons rechtes Bein. »Vollidiot!«, zischte er.
Den Kopf hektisch wendend schaute er auf die reglose daliegende. Mit blutbefleckt Fingern drehte er die Schwangere auf den Rücken. Röchelnd legte er einen Arm unter ihr Genick, den Anderen unterhalb ihrer Knie. Stemmte sie in die Höhe. Die morschen Dielen knacksten bei jedem Schritt. Er trug sie aus dem Haus, stampfte zu dem geparkten grünen Geländewagen. Mit einem Finger öffnete er die Beifahrertür, platzierte den schlafen Körper auf den Sitz. Pustend fischte er eine schwarze Sonnenbrille aus der Brusttasche des Hemdes, setzte sie auf, schlug die Autotür zu. Mit ausladenden Schritten rannte er um den Wagen, sprang auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend raste er über die sandige Piste.

Abermals schmetterte ein Schuss durch die Stille, sodass ein Schwarm Webervögel aus der Krone einer Akazie emporflog. Nachdem die Vogelwelt wieder zur Ruhe gekommen war, rannte ein Mann in einem schwarzen Gewand aus dem Gebäude. Er trug eine Schrotflinte unter dem Arm und spurtete zu einem Buschwerk. Ein Motor heulte auf und er fuhr mit einem zitronenfarbenen Jeep davon.


Eine halbe Stunde später, Fünfzig Kilometer weiter.

Eine Frau in einem hellblauen Kleid, mit kalkweißer Schürze, einer Haube auf ihrem gelockten, schwarzen Haar hetzte über eine hölzerne Veranda eines kalkig, getünchten Gebäude. Sie drückte ihr Becken an das Geländer, legte eine Hand flach an ihre Augenbrauen, sah nach rechts, nach links, drehte sich um, verschwand im Haus.
Ein Herr mit sandfarbenen Hemd, gleichfarbiger Hose trat auf die Veranda. Die Schwarzhaarige folgte ihm.
Sie presste die Hände an ihre kaffeebraunen faltigen Wangen. »Doc, wo bleibt der Simon?«, schluchzte sie.
Doc hob den Kopf, hielt seine Hakennase in den Wind. »Wenn er überhaupt durchkommt«, stöhnte er und zeigte den Hang herab. »Beth das Feuer kommt immer näher!« Er griff mit beiden Händen in sein kurz geschorenes hellbraunes Haar, das an den Ohren silbrig glänzte. »So ein heftiges Buschfeuer habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.« Die schmächtigen Arme ausgebreitet schaute er sie an. »Es hat bestimmt die Hauptstraße schon erreicht«, pustete er. »Dann ist ein Durchkommen unmöglich.«
Beth bedeckte erneut ihr Gesicht, schlich mit dem Kopf wackelnd ins Haus. Er schloss seine Augen, atmete tief ein und folgte ihr mit einer auf der hohen Stirn gelegten Hand.

Sein grüner Geländewagen, zog eine Staubwolke hinter sich her, als er vor dem Holzhaus hielt. Er sprang aus dem Gefährt und ein kräftiger Windzug trieb Sand durch sein kurzes blauschwarzes Haar. Mit einer Hand das Gesicht bedeckt, marschierte er um das Fahrzeug herum. Er öffnete die Beifahrertür, stemmte die bewusstlose Frau auf seine Arme.

Doc trat auf die Veranda. »Was willst du hier«, brüllte er ihm entgegen, stampfte auf ihn zu, untersuchte die Schwangere, füllte ihren Puls. »Sie ist ohnmächtig«, diagnostizierte er. »Wir bringen sie rein. Beth muss sich um sie kümmern«, schnaufte er.

Ein paar Wimpernschläge später erschienen sie wieder, eine Krankentrage mit den Händen ergriffen.
»Vom Baum ist sie gefallen?«, stöhnte er unter der für ihn ungewohnten Last.
»Quatsch. Ich dachte du hättest es gleich gesehen«, schnaufte Doc. »Eine Kapcopra hat sie gebissen!«
»Du bist Arzt! Hast du kein Serum?«, fragte er.
Doc rollte mit den Augen. »Dann hätt ich es ihr wohl gegeben!«

Die Männer wuchteten die Trage auf die Ladefläche des Geländewagens.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wo ist euer Krankenwagen?«, stöhnte er.
»Kerl«, zischte der Arzt. »Kannst du aufhören Dumme fragen zu stellen!«, zürnte er und sprang auf die Ladefläche. »Der Sanitätswagen hat einen Motorschaden und Simon ist mit dem Golf zur Notfallzentrale Serum besorgen«, schnaufte er und versuchte die Trage zu befestigen.
»Doc. Wir fahren ihm entgegen!«
»Wir! Sag du mir vielmehr, warum du mit Antons LandCruser hier auftauchst und nicht er, wie verabredet.«
Er faste sich ans Genick und senkte den Blick. »Er ist unabkömmlich«, stotterte er.

In die Stille, die kurz eintrat, erklang das Schreien eines Babys.
»Vergiss es«, zischte Doc und deutete die Einfahrt herunter. »Wenn Simon durch den Brand durchgekommen wäre, wäre er längst hier. Vor zwei Stunden war das Feuer nahe am Zedernwald, wenn der brennt, gibt es keinen Weg mehr ins Tal.«

Eine junge Frau in einem hellblauen Kleid, mit blütenweißer Schürze erschien an einer Hausecke.
Sie winkte den Arzt zu. »Wartete, ich komme mit!«, keuchte sie.
»Bleib bei dem Kind!«, entgegnete der Mediziner. »Die Fahrt wird zu gefährlich.«
»Alles gut.« Sie sah zum Gebäude. »Beth ist da! Und ich kenne keine Angst.«

Doc schüttelte den Kopf. »In Ordnung, geh rein und bring die lütte Ledertasche.« Er deutete den Weg entlang, von dem der andere gekommen war. »Wir müssen rauf nach Lesotho. Gleich hinter der Grenze wohnt ein Medizinmann!«
Der Mann mit der Sonnenbrille tippte mit einem Zeigefinger an seine faltige Schläfe. »Der alte Tom, wie soll dieser Quacksalber ihr helfen«, grunzte er.
Die verschwitzte Stirn in Falten gelegte, hob Doc die Schultern. »Alt ja. Verschroben ok. Aber nicht dumm.«, grinste er. »Der hat Serum!« Er wandte sich ab. »Vertraue mir!«
»Dir soll ich vertrauen, auf dich kann man nicht bauen«, schrie der Mann den Arzt an und schritt zur Fahrertür.
»Das musst du sagen«, wieherte es von der Ladefläche.

Die blutjunge Frau im hellblauen Kleid hüpfte die hölzerne Treppe des Hauses herab. Sie rannte mit wehenden Haaren zum Wagen, sprang ohne sich umzusehen, auf den Beifahrersitz.
»Schnall dich an«, schrie Doc von der Ladefläche. »Der Idiot hat einen rasanten Fahrstil«.
Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch und das Fahrzeug raste davon.

Ein zitronenfarbener Jeep folgte ihnen.

Dreizehn Jahre später.

Wie ein Pennäler, der auf den Prüfer wartete, schlich er die Straße auf und ab. Gewissheit verschaffen. Jedes Mal, wenn seine Tochter von dem Thema anfing, hatte er sie für verrückt erklärt. Ganz sauber im Kopf war sie nie gewesen. Wie ihre Mutter lebte sie oft in ihrer eigenen Welt, verbog die Realität, bis sie passte.
Es war alles absurd. Geprüft hatte er die Fakten. Keine Gegensätze, keinen Schwindel entdeckt. Gesehen hatte er sie einmal, sie war nicht mehr wie früher, älter, gereifter. Kein Grund, ihr etwas anzudichten. Komisch, merkwürdig mitunter schräg und unkonventionell erschien sie ihm, dennoch ihre Sache und seine Tochter nicht unschuldig.

Die Andeutungen des betrunkenen Alten, den er mit Vergnügen hinter Gittern gesehen hätte. Damals, so nah war er ihm.
Er schlug mehrmals an seine Stirn. Unerfahren war er gewesen. Verwickelte sich selbst ins Netz. Geschichte! Vergessen! Ihm zu trauen, wäre wie einem hungrigen Löwen einen Zahn zu ziehen.

Sogar an den Ort des Geschehens war er gereist. Die Papiere bestanden jeder Kontrolle. Gerüchte waren es, die ihn weiter trieben. Die eine Spur, die ihn zweifelte. Erneut eine Verrückte in der er sich verliebte. Er zog diese Frauen an. Spürte gleich, dass sie keine Mörderin war. Seine mehrjährige Erfahrung und der Umstand, dass er den Täter kannte, untermauerten sein Gefühl. Trotzdem war sie irrsinnig. Getrieben von dem Wahn jemand anders zu sein. Er lies sie aus Liebe in ihrem Glauben. Die endlosen Verhöre, die jahrelange Haft zermürbten jeden, ob schuldig oder unschuldig. Erst recht als einzige Weiße in einem afrikanischen Kerker. Er brauchte ihre Erklärungen nicht, um sich vorstellen, was sie mit ihr angestellt hatten. Es war ein Unrechtsstaat, in dem zuvor diese von Apartheid getriebene Über-Rasse die angestammte Bevölkerung ausgebeutet, unterdrück und versklavt hatte. Verständlich ihre Rache.

Er blieb vor dem prunkvollen Portikus eines Hauses stehen.

Wie oft war er früher durch den Eingang geschritten, erinnerte er sich. Wieder so ein Zufall. Nein! Ursache. Wirkung. Stände er vor einem anderen Gebäude, würde er sich darüber keinen Gedanken machen.
Er sah vor seinem inneren Auge die stuckverzierten Decken, hörte die knarrenden Dielen unter den Füßen und roch den modrigen Dunst, der vergilbten Tapete. Er ballte die Hände. Die schnarrende Stimme der missliebigen Schwiegermutter echote in seinem Gehirn. Dem grässlichen Weib, das die Ehe zerstört hatte. Ihn als Fremden gehasst und verabscheut hatte.

Er zog einen Brief aus der Jackettasche. Lesen, brauchte er ihn nicht, er kannte ihn auswendig, trotzdem faltete er ihn auf, starrte auf die Schrift.

»Misch dich nicht ein«, murmelte er. Es war ein Teil seines Lebens und in das sollte er sich nicht einmischen. »Ich hohle mein, werd immer der Beschützer sein«, flüsterte er.
Er verabscheute schlechte Reime, zeigten sie ihm, wie krank das Gehirn des Schreibers war. Der Inhalt beunruhigte ihn. Was zwischen den Zeilen stand. Hatte er die ganzen Jahre falsch gelegen? Die ersten neuen Indizien wissen darauf hin. War alles ein Kinderstreich gewesen, warum dann der Brief. Er ahnte den wahren Kern. War er ein Spielball von fiebrigen Gehirnen, eher Opfer als Täter. Die Vorkommnisse gelenkt. Er war ein Ermittler, ein Genie in seinem Fach, weder Lamm noch Schurke.

Ein schmächtiger blonder Junge, schleppte gebückt unter der Last eines Ranzens, seine dünnen Beine über den Bürgersteig. Den Kopf gesenkt, erreichte er den Hauseingang, schloss auf und betrat das Gebäude.

Er ergriff die Gunst der Stunde, schlüpfte unbemerkt hinein; erst einmal verstecken. Den richtigen Zeitpunkt wählen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dann? Er hoffte, dass die Beweise negativ, er sein Leben in der bisherigen Bahn weiterführten, der Brief an sich ein Kinderstreich. Wenn nicht? Wenn alles den Tatsachen entsprach? Entweder er würde wie damals die Tat unter den Mantel des Stillschweigens nehmen. Oder!


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2. Akt
2. Akt
3. Akt
 

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0. Kinderspel

Wie ein Pennäler, der auf den Prüfer wartete, schlich er die Straße auf und ab. Er wollte sich endlich Gewissheit verschaffen. Jedes Mal, wenn seine Tochter von dem Thema anfing, hatte er sie für verrückt erklärt. Ganz sauber im Kopf war sie nie gewesen. Wie ihre Mutter lebte sie oft in ihrer eigenen Welt, verbog die Realität, bis diese ihr passte.
Er griff in seine rechte Hosentasche, entnahm dieser ein Klappmesser, zog aus der Linken einen Apfel, klappte das Messer auf, schnitt ein Stück vom Apfel ab und steckte diesen in seinen Mund.
Es war alles absurd. Mehrmals geprüft hatte er die Fakten, aber keine Gegensätze, keinen Schwindel entdeckt. Einmal hatte er sie gesehen. Sie war nicht mehr wie früher, älter, gereifter. Kein Grund, ihr etwas anzudichten. Komisch, merkwürdig mitunter schräg, unkonventionell erschien sie ihm, dennoch ihre Sache.

Die Andeutungen des betrunkenen Alten, den er mit Vergnügen hinter Gittern gesehen hätte, brachten ihm kein deut weiter.
Er schlug mehrmals an seine Stirn. Unerfahren war er gewesen. Verwickelte sich selbst ins Netz. Geschichte! Vergessen! Ihm zu trauen, wäre wie einem hungrigen Löwen einen Zahn zu ziehen.

Sogar an den Ort des Geschehens war er gereist. Die Papiere, die er eingesehen hatte, bestanden jeder Prüfung. Indes die Gerüchte trieben ihn weiter. Die eine Spur, die ihn zweifelte. Erneut eine Verrückte, in der er sich verliebt hatte. Er zog diese Frauen an. Dabei witterte er, dass sie keine Mörderin war. Seine mehrjährige Erfahrung und seine Annahme heute zu wissen, wer damals der Täter war, untermauerten sein Gefühl. Trotzdem war sie irrsinnig. Getrieben von dem Wahn, jemand anders zu sein. Er ließ sie aus Liebe in ihrem Glauben. Die endlosen Verhöre, die jahrelange Haft zermürbten jeden, ob schuldig oder unschuldig. Erst recht, als einzige Weiße in einem afrikanischen Kerker. Er brauchte ihre Erklärungen nicht, um sich vorzustellen, was sie mit ihr angestellt hatten. Es war ein Unrechtsstaat, in dem zuvor diese von Apartheid getriebene Über-Rasse die angestammte Bevölkerung ausgebeutet, unterdrückt und versklavt hatte - verständlich ihre Rache.

Er blieb vor dem prunkvollen Portikus eines Hauses stehen.
Wie oft war er früher durch den Eingang geschritten, erinnerte er sich. Wieder so ein Zufall. Nein! Ursache - Wirkung. Stände er vor einem anderen Gebäude, würde er sich darüber keinen Gedanken machen.
Er sah vor seinem inneren Auge die stuckverzierten Decken, hörte die knarrenden Dielen unter den Füßen und roch den modrigen Dunst, der vergilbten Tapete. Er ballte die Hände. Die schnarrende Stimme der missliebigen Schwiegermutter echote in seinem Gehirn. Dem grässlichen Weib, das seine Ehe zerstört hatte. Ihn als Fremden gehasst und verabscheut hatte.

Er zog einen Brief aus der Jacketttasche. Lesen, brauchte er ihn nicht, er kannte ihn auswendig, trotzdem faltete er ihn auf, starrte auf die Schrift.
»Misch dich nicht ein«, murmelte er. Es war ein Teil seines Lebens und in das sollte er sich nicht einmischen. »Ich hohle mein, werd immer der Beschützer sein«, flüsterte er.
Er verabscheute miserable Reime, zeigten sie ihm, wie krank das Gehirn des Schreibers war, dennoch beunruhigte ihm der Inhalt. Was zwischen den Zeilen stand, war wichtiger, als die Worte, die auf dem Papier standen. Hatte er die ganzen Jahre falsch gelegen? Die ersten neuen Indizien wissen darauf hin. Es war ein Kinderstreich gewesen! Warum dann der Brief? Er erahnte den wahren Kern. War er ein Spielball von fiebrigen Gehirnen, eher Opfer als Täter? Die Vorkommnisse gelenkt. Er war ein Ermittler, ein Genie seines Faches, weder Lamm noch Schurke.

Ein schmächtiger blonder Junge, schleppte, gebückt unter der Last eines Ranzens, seine dünnen Beine über den Bürgersteig. Den Kopf gesenkt, erreichte er den Hauseingang, schloss auf und betrat das Gebäude.

Er ergriff die Gunst der Stunde, warf den Rest des Apfels in die Gosse und schlüpfte ins Haus, um sich erst einmal zu verstecken. Den richtigen Zeitpunkt zu wählen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dann? Er hoffte, dass die Beweise negativ, er sein Leben in der bisherigen Bahn weiterführen konnte. Der Brief für sich doch nur ein Kinderstreich war. Wenn nicht? Wenn alles den Tatsachen entsprach? Entweder er nahm wie damals die Tat unter den Mantel des Stillschweigens, oder, er wischte die Klinge des Klappmessers am Ärmel seines Jacketts ab. Oder!?



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